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VEGETARIERBUND/359: Die Müllschlucker (natürlich vegetarisch)


natürlich vegetarisch 03/10 - Sommer 2010
Das VEBU Magazin

Die Müllschlucker

Von Robert Kresse


Wir alle kennen sie vom Einkaufen. Sie lächeln uns hämisch an und wir wissen genau, dass wir sie von früher kennen. Damals waren sie aber um Längen niedriger und wir haben uns nicht so über sie geärgert. Aber was wollen wir machen? Schließlich müssen wir alle etwas essen. Die Rede ist von den Lebensmittelpreisen, die in den letzten Jahren ganz ordentlich gestiegen sind. Umso unverständlicher, dass in solchen Zeiten immer mehr Lebensmittel weggeworfen werden. In Deutschland sind das umgerechnet pro Jahr sage und schreibe mehrere Milliarden Euro.

Ob Säfte, Aufstriche oder Brot - unglaublich viele Lebensmittel landen auf dem Müll, und das obwohl sie ihr Haltbarkeitsdatum noch nicht einmal überschritten haben. Riesige Supermarktketten entsorgen Lebensmittel, weil sie einen Knick in der Verpackung haben oder weil die neue Warenlieferung eingetroffen ist. Diesem Trend stellen sich einige Menschen entgegen und ernähren sich vom so genannten Müll, der eigentlich keiner ist.

Was diese Menschen tun, nennt man auf Neu-Deutsch "Containern". Sie holen sich weggeworfene Lebensmittel aus den Abfallcontainern der Supermärkte oder durchsuchen die Container von Großmärkten und Fabriken nach Essbarem, welches in Hülle und Fülle vorhanden ist. Was man sonst nur von den Müllkippen in Sao Paulo in Brasilien kennt, ist in Deutschland längst angekommen. Nur auf viel höherem Niveau.

Die Gründe dafür sind so vielfältig wie die Gründe, sich vegetarisch oder vegan zu ernähren. Auch hier gibt es nicht nur einen einzigen Grund, warum Menschen containern gehen. Wie in unserer Spaßgesellschaft üblich, ist gegen ein wenig Nervenkitzel nichts einzuwenden. Kindliche Freude, Staunen und Unverständnis darüber, was alles weggeworfen wird, mischen sich beim Öffnen eines Supermarktcontainers miteinander. Man findet Obst, Gemüse, Chips, Brot, Joghurts und Tiefkühlwaren neben Blumen und Süßigkeiten. Und manchmal liegen zwischen all den Lebensmitteln auch Produkte des täglichen Gebrauchs wie Schuhe oder Sportuhren. Kein Wunder, dass sich das manche nicht entgehen lassen wollen.

Was aber tun, wenn das Wirtschaftssystem mit einem nichts anfangen kann und man auf Sozialhilfe angewiesen ist? Geld benötigt man für viele Dinge im Leben. Nicht nur für Lebensmittel. Umso verständlicher, wenn sich auch diese Menschen Lebensmittel aus dem Müll fischen, um Geld zu sparen. Wenn im Durchschnitt jeder deutsche Haushalt 387 Euro pro Jahr an Lebensmitteln weg wirft, kann das schon nachdenklich stimmen.

Anderen wiederum stößt es sauer auf, wenn sie erfahren, wie viele Lebensmittel weggeworfen werden. Schon als Kind wurde uns beigebracht, dass wir mit dem Essen nicht spielen sollen. Vermittelt wurde uns also, dass unser Essen einen gewissen Wert hat. Um nicht zu sagen einen sehr essenziellen. Denn ohne zu essen würde unser Körper nach einiger Zeit all seine Funktionen einstellen. Umso verständlicher, dass manche Menschen anfangen, sich ihr Essen aus dem Müll zu holen, wenn sie von diesem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis erfahren.

Dazu kommt noch, dass wir alle wissen, dass es Armut unterschiedlichsten Ausmaßes auf dieser Erde gibt. Laut Jean Ziegler, dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, stirbt alle fünf Sekunden ein Kind an Unterernährung. Und all das, obwohl es doch genug zu Essen auf dieser Welt gibt. Es mangelt also unter anderem an einem bewussten Umgang mit Essen und der Verteilung von Lebensmitteln. Von der Verschwendung von Nahrungsmitteln zur "Produktion" von "tierischen Lebensmitteln" gar nicht zu reden.

Aus marktwirtschaftlicher Sicht hat jedes Produkt einen Wert, welches mit einem Gegenwert, also Geld, erkauft werden kann. Die Produkte werden stets dort am meisten verkauft, wo die Menschen den höchsten Preis dafür zahlen. Da wir zu jeder Zeit alle nur erdenklichen Produkte kaufen wollen, hat sich unser Wirtschaftskreislauf daran angepasst und produziert mehr Lebensmittel als auf dem aktuellen Markt nachgefragt werden. Überproduktion ist das Resultat. Die vollen Regale der Supermärkte kann man beim nächsten Einkauf einmal ganz bewusst wahrnehmen. Das Ergebnis sind überquellende Container bei den Supermärkten. Produkte, die in den nächsten zwei Tagen das Ablaufdatum erreichen, werden Original verpackt, wie sie im Regal zu finden sind, weggeworfen. Auch oft palettenweise.

Über diese unglaublichen Mengen an Obst und Gemüse freuen sich auch Freeganer/innen. "Freegan" ist eine Wortkombination aus "free" (dt. kostenlos) und "vegan". Ihr Einkauf ist somit stets vegan, wohingegen die Ausbeute beim Containern auch tierische Produkte beinhalten kann. Freeganer/innen rechtfertigen den Konsum von tierischen Produkten aus dem Müll so, dass dafür kein Tier sterben oder leiden musste, weil dieses Produkt nicht mehr dem Kreislauf von Angebot und Nachfrage unterliege. Es stellt aber kein Problem dar, sich beim Containern rein vegan zu ernähren. Die große Anzahl an Äpfeln, Gurken, Bananen und alle anderen nur erdenklichen Obst- und Gemüsesorten machen es möglich.

Doch wie ist das eigentlich mit dem so genannten Müll von der rechtlichen Seite aus zu betrachten? Gehört der Müll jemandem? Und wenn ja, was passiert, wenn man ihn mitnimmt? In Deutschland ist die rechtliche Situation so, dass Müll immer einen Eigentümer haben muss. Ansonsten könnte jeder ohne rechtliche Folgen seine ausgediente Waschmaschine in den Wald werfen. Die Lebensmittel im Container eines Supermarktes gehören also entweder noch dem Supermarkt selbst oder dem Entsorgungsunternehmen, das diese Container bereitstellt. Rein rechtlich ist es also in Deutschland Diebstahl, wenn man Müll aus Abfallcontainern entnimmt. In der Praxis wird man aber, falls man erwischt werden sollte, in der Regel nur ermahnt oder ignoriert. Die Polizei interessiert sich wenig für "wertlose" Gegenstände und die Supermärkte bringen Containern in der Regel auch nicht zur Anzeige. Es empfiehlt sich jedoch, den Supermarktangestellten zu erklären, warum man das tut, wenn man erwischt wird. Ein freundliches Gespräch kann Wunder bewirken.

In Österreich und der Schweiz ist Müll eine herrenlose Sache und das Entnehmen desselben aus einem Container somit rechtlich auch kein Diebstahl. Überall gilt es jedoch zu beachten, dass das Eindringen in abgesicherte Bereiche oder das Zerstören von Eigentum (Schlösser etc.) einen Tatbestand erfüllen und somit rechtlich geahndet werden kann.

An sich ist Containern eine gute Sache, um keine Nachfrage an bestimmten Lebensmitteln zu erzeugen. Man kann sich sehr günstig ernähren und Kritik an der Wegwerfgesellschaft üben. Dennoch ist der Ansatz des Containerns an sich nicht nachhaltig. Es ist also nicht möglich, dass alle Menschen containern gehen. Irgendwer muss ja durch seinen Konsum auch eine Nachfrage nach Lebensmitteln erzeugen, welche dann im Überfluss produziert und letztendlich auch weggeworfen werden. Damit sich diese Wegwerfmentalität ändern kann, obliegt es uns als Konsument/innen, dieses System durch unser Handeln zu beeinflussen. Konkret hieße das, sich um 18:00 Uhr beim Bäcker nicht darüber zu beschweren, dass es nun das Lieblingsbrot, welches man sonst immer kauft, nicht mehr gibt. Es wäre sogar förderlich, dem Inhaber des Geschäftes mitzuteilen, dass man es sehr gut findet, dass sie nicht ständig alles verfügbar haben und die Produkte auch abverkaufen. Dass wir Menschen Gewohnheitstiere sind, sollte hinlänglich bekannt sein und somit ist es auch möglich, unsere Gewohnheiten zu ändern, sofern wir es wollen. Wer im Supermarkt nicht immer nur zu makellosen Produkten greift, zeigt dem Unternehmen durch seinen Einkauf, dass der Apfel mit einer kleinen Druckstelle nicht gleich weggeworfen werden muss, wie es im Moment gängige Praxis ist.

Schließen möchte ich mit den Worten von Mahatma Gandhi: "Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst."


Weiterführendes im Netz:
Containern: www.wikipedia.de/wiki/Containern

Zahlen: www.mdr.de/fakt/aktuell/5736274.html


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Quelle:
natürlich vegetarisch 03/10 - Sommer 2010, S. 24-25
61. Jahrgang
Vegetarierbund Deutschland e.V. (VEBU)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2010