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BUCHBESPRECHUNG/0004: "Peanuts" für die Großkirchen (Ingolf Bossenz)


"Peanuts" für die Großkirchen

Anregendes Lexikon der Religion und Weltanschauung

Von Ingolf Bossenz, 27.11.2010


Kennen Sie das Böckenförde-Dilemma? Formuliert hat es der Verfassungsjurist Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Dieser berühmte, seit 1967 in der Debatte um das Verhältnis von Staat und Religion wohl am häufigsten zitierte Satz verweist auf die Notwendigkeit von in der Gesellschaft verankerten Grundüberzeugungen, die - trotz großer Verschiedenheit der Gruppen und Individuen - von möglichst allen Staatsbürgern geteilt oder zumindest akzeptiert werden. Eine einigermaßen komplizierte Angelegenheit, die zweifellos besser versteht, wer den Eintrag "Moral, Religion, Recht" in dem brillanten Nachschlagewerk von Gerhard Czermak gelesen hat.

Niemand sollte sich von dem unprätentiösen Titel des Buches abschrecken lassen. Es ist zwar (zum Glück) von einem ausgewiesenen Fachmann verfasst, aber beileibe nicht nur für Experten. Im Gegenteil: Es ist so recht ein Buch zum Schmökern an langen Abenden. Und wer das gehörig tut, weiß am Ende besser Bescheid über das christliche Abendland, Besoldung von Geistlichen, christliche Schulpolitik, Datenschutz und Religion, Ethikunterricht, FDP-Kirchenpapier, Gott als Verfassungsbegriff, humanes Sterben, Islam in Deutschland, Juden in der Bundesrepublik, Kirchenvermögen, Leitkultur, Muezzinruf, Naturrecht, Opus Dei, Privilegien der Kirche, Reichskonkordat, Schächtverbot, Theologie und Wissenschaft, Weltanschauungsgemeinschaften, Zivilreligion - und über Hunderte weiterer Themen und Bereiche der erst in jüngster Zeit wieder heftig aufgeflammten Debatte um die Stellung von Kirchen, Religion und Weltanschauung in Gesellschaft, Staat und Politik.

Unter "Staatsleistungen" erfährt man beispielsweise, dass die Bundesländer jährlich Hunderte Millionen Euro an die beiden christlichen Großkirchen zu überweisen haben - größtenteils für "Gehälter, Gehaltszuschüsse und Pensionen für Seelsorgegeistliche, Bischöfe, Generalvikare, Bischofssekretäre, Erzieher an Priester- und Knabenseminaren". In Fortführung der Weimarer Reichsverfassung bestimmt das Grundgesetz, dass die Steuerzahler im 21. Jahrhundert immer noch blechen als Ausgleich für staatliche Säkularisationen, die auf das Jahr 1803, ja teilweise bis auf 1648 zurückgehen. Dass diese sogenannten Staatsleistungen indes bestenfalls "Peanuts" darstellen angesichts des mehr als großzügigen staatlichen Kirchen-Sponsorings, findet heraus, wer sich unter "Religionsförderung" kundig macht. Dort wird die Höhe der direkten und indirekten staatlichen Zuwendungen an die beiden Großkirchen in der Bundesrepublik auf bis zu 18 Milliarden Euro jährlich veranschlagt.

So kann man sich von Stichwort zu Stichwort "hangeln". Wer bei solchem Schmökern Appetit auf mehr bekommt, findet in den Literaturangaben zu jedem Eintrag reichlich Möglichkeiten, diesen zu stillen. Wie bereits in seinem Buch "Religions- und Weltanschauungsrecht" präsentiert der ehemalige bayerische Verwaltungsrichter Gerhard Czermak (geboren 1942) auch in seinem an Perfektion wohl schwer überbietbaren Lexikon juristisches, historisches und politisches Material in einer auch für Nichtjuristen verständlichen und überzeugenden Form. Material, das trotz aller sachlichen Präsentation gewaltiges polemisches Potenzial besitzt - vor allem wider das scheinbar unerschütterliche und fest gefügte Fundament des nach 1945 sukzessive und beharrlich aufgebauten Paktes von Staat und Kirche, von Politik und Religion in der Bundesrepublik. Umso mehr ist für dieses Werk, das zweifellos das Zeug zum Klassiker hat, eine Verbreitung zu erhoffen, wie sie die Bücher des Papstes finden. Aber das ist wohl ein frommer Wunsch.


Gerhard Czermak:
Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht.
Ein Lexikon für Praxis und Wissenschaft.
Alibri Verlag. 400 S., geb., 39 EUR


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Quelle:
Ingolf Bossenz, November 2010
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel
mit der freundlichen Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 27.11.2010
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/185054.peanuts-fuer-die-grosskirchen.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2010