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WISSENSCHAFT/013: Darwin war kein Sozialdarwinist! (diesseits)


diesseits 1. Quartal, Nr. 86/2009 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Darwin war kein Sozialdarwinist!
Zur Fehlwahrnehmung des Evolutionstheoretikers


Durch die Forschung der letzten Jahrzehnte gilt Darwins Deutung der Evolution schon längst als Tatsache und nicht nur als Theorie. Worin besteht sie? Darwin reagierte auf eine Fragestellung: Offensichtlich können Pflanzen und Tiere in der Natur nicht als statisch angesehen werden. Im Laufe der Zeit müssen sie einem Wandlungsprozess ausgesetzt gewesen sein. Darwin bemerkte hierzu: "Ich bin vollkommen überzeugt, dass die Arten nicht unveränderlich sind; dass die zu einer sogenannten Gattung zusammengehörigen Arten in direkter Linie von einer anderen, gewöhnlich erloschenen Art abstammen ... Endlich bin ich überzeugt, dass die natürliche Zuchtwahl das wichtigste, wenn auch nicht das ausschließliche Mittel zur Abänderung der Lebensformen gewesen ist."


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Die im Zitat angesprochene Theorie von der "natürlichen Selektion" geht von folgenden Beobachtungen und Schlüssen aus: Erstens, die Individuen in den Pflanzen- und Tierarten weisen zwar grundlegende Gemeinsamkeiten auf, unterscheiden sich aber hinsichtlich bestimmter Bau- und Leistungsmerkmale (Variation). Zweitens, in der Natur erzeugen Pflanzen und Tiere meist mehr Nachkommen als angesichts der begrenzten Ressourcen überleben können (Überproduktion). Drittens, gleichwohl bleiben die Populationen mit Ausnahme von zeitweiligen Schwankungen in ihrer Größe stabil. Viertens, demgemäß zeigten sich innerhalb einer Art einige Individuen mehr überlebensfähig als andere. Fünftens, im natürlichen Wettbewerb um Geschlechtspartner, Lebensraum und Nahrung kommt es innerhalb einer Population zu einem "Kampf ums Dasein", der von dem am besten an die Umweltbedingungen Angepassten gewonnen wird. Sechstens, die natürliche Auslese führt so über viele Generationen hinweg zu einer Veränderung der Arten (Selektion).


Überleben des Passenden, nicht des Stärkeren

Eine ganze Reihe von Argumentationsmustern und Begriffen Darwins wurde noch zu seinen Lebzeiten von Natur- und Sozialwissenschaftlern auf die menschliche Gesellschaft übertragen, wofür sich die Sammelbezeichnung "Sozialdarwinismus" eingebürgert hat. Ihren folgenreichsten Ausdruck fand die damit verbundene Ideologie in der "Rassepolitik" des Nationalsozialismus, lassen sich in dessen Diskurs doch Schlagworte wie "Kampf ums Dasein", "natürliche Selektion", "Überleben des Stärkeren" oder "natürliche Zuchtwahl" ausmachen. Auch heutige Rechtsextremisten nutzen in ihrer biologistischen Argumentation derartige Begriffe, um sich mit Verweis auf Darwin ideologisch zu legitimieren. Doch wie angemessen ist der Bezug auf den Evolutionstheoretiker dabei wirklich? Diese Frage kann schon mit Verweis auf den formalen Charakter beider Theorien verneint werden: Darwin legte eine Erklärung für die Entwicklung des Lebens in der Natur vor, die Sozialdarwinisten präsentieren Grundpositionen für die Gestaltung der politischen Ordnung.

Darüber hinaus vertrat der einflussreichste Evolutionstheoretiker in den entsprechenden Fragen ganz andere Positionen: Zwar findet man in seinem Buch "Reise eines Naturforschers um die Welt" (1839) abwertende Formulierungen über die Feuerländer, die als "miserable niedrige Wilde" geschildert wurden. Gleichwohl nahm Darwin einzelne ihrer Angehörigen, die in England Schulen besucht hatten und mit "vielen guten Eigenschaften" ausgestattet waren, von diesem Urteil aus. Seine Abwertung erfolgte demnach aus einer kulturellen und nicht aus einer rassistischen Position. Außerdem lehnte Darwin die Auffassung von einer ewigen und reinen "Rasse" ab, widersprach sie doch seiner Deutung der Evolution des Menschen aus gemeinsamen Ursprüngen. Die "Rassen", so heißt es in "Die Abstammung des Menschen" mit Verweis auf die jahrhunderte- und jahrtausendelange Entwicklung, würden "ineinander übergehen" und es sei kaum möglich, "scharfe Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen aufzufinden."

Eines der größten Missverständnisse von Darwins Evolutionsauffassung geht auf die Deutung der Begriffe "Kampf ums Dasein" und "Überleben des Stärkeren" zurück. In "Über die Entwicklung der Arten" macht er deutlich, dass die erstgenannte Bezeichnung in "einem weiten und metaphorischen Sinne" gemeint ist. Sie unterstellte nicht einen ständigen Kampf im Sinne eines gewalttätigen Konflikts. Auch eine Pflanze am Rande einer Wüste führe einen "Kampf ums Dasein" gegen die Trockenheit. Hinzu kam, dass Darwin in der Natur keineswegs nur einen Konflikt um Ressourcen wahrnahm, sondern auch bei den Tieren soziale Instinkte im Sinne von gegenseitiger Hilfe ausmachte. Und bei dem "Überleben des Stärkeren" handelt es sich schlicht um eine falsche Übersetzung: Gemeint war das "Überleben des Passenden", also desjenigen, der Veränderungsprozesse in der Natur am Besten bewältigen kann. Bloße Stärke spielte dabei nicht die entscheidende Rolle, wie das Aussterben der Dinosaurier deutlich zeigt.


Hilfe für "Hilflose"

Auch bei seiner Kommentierung des Umgangs mit Behinderten und Schwachen vertrat Darwin allenfalls ansatzweise eine sozialdarwinistischen Position, ohne aber daraus entsprechende politische Forderungen abzuleiten. Im Sprachgebrauch der damaligen Zeit hieß es in "Die Abstammung des Menschen": "Zufluchtstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken" seien "für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich." Gleichwohl betonte Darwin aber auch, dass die Menschen diese Hilfe den "Hilflosen" entsprechend ihrer "sozialen Instinkte" gewähren müssten, ansonsten würde man den "edelsten Teil unserer Natur herabsetzen." Gerade diese Auffassung macht deutlich, dass der Evolutionstheoretiker im engeren Sinne kein Sozialdarwinist war, trat er hier doch aus moralischen Gründen bewusst gegen die Übertragung des scheinbar natürlich Gebotenen auf die menschliche Gesellschaft ein. Vielmehr forderte Darwin sogar einen geplanten Verstoß gegen solche Vorgaben.

In diesem Kontext steht auch, dass er eine biologische wie gesellschaftliche Legitimation für die Unterdrückung von Menschen anderer Ethnien ablehnte. Durch sein gesamtes Werk zieht sich eine klare Verdammung der Sklaverei. Sie artikulierte sich nicht nur in seiner Empathie für die Betroffenen, sondern auch in der Empörung gegen die Sklavenhalter - da sich diese "niemals in die Lage" der Sklaven versetzt hätten. Hier zeigt sich, dass der bekannteste Vertreter der Evolutionstheorie eher als Anhänger eines naturalistischen und säkularen Humanismus anzusehen war und ist. Auch auf diesen Gesichtspunkt hin lässt sich demnach bilanzierend betrachtet sagen, dass Darwin weder ein Rassist noch ein Sozialdarwinist war. Eine gegenteilige Auffassung überträgt im Sinne eines naturalistischen Fehlschlusses die Beschreibung von Vorgängen in der Natur auf Forderungen für die Entwicklung der Gesellschaft.


Dr. Armin Pfahl-Traughber ist Professor an der Fachhochschule des Bundes Brühl mit den Arbeitsschwerpunkten Politischer Extremismus und Politische Ideengeschichte.


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Quelle:
diesseits 1. Quartal, Nr. 86 1/2009, S. 16-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2009