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WISSENSCHAFT/009: Thesen zu einer Theorie des Humanismus (diesseits)


diesseits 4. Quartal, Nr. 77/2006 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Thesen zu einer Theorie des Humanismus

von Armin Pfahl-Traughber


Humanismus - was ist das überhaupt? Gleich drei jüngst erschienene Werke (Joachim Kahl, Julian Nida-Rümelin, Michael Schmidt-Salomon) beanspruchen in ihren Titeln, auf diese Frage eine programmatische Antwort zu geben. Man findet darin zahlreiche Anregungen und Kritiken, Reflexionen und Positionierungen. Gleichwohl handelt es sich aufgrund des fragmentarischen Charakters der Veröffentlichungen zwar um bedeutende Bausteine dazu, aber nicht um eine entwickelte Theorie. Die folgenden Thesen wollen Anregungen und Problemstellungen für deren Konzeption liefern.


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1. Voraussetzung dafür ist eine Definition des Gemeinten, werden die Bezeichnungen "humanistisch" und "Humanismus" doch inflationär verwendet. Da es weder ein entdeckbares "wahres Wesen" des Humanismus gibt noch aus der Begriffsbedeutung und -geschichte eine inhaltliche Klärung abgeleitet werden kann, bedarf es davon unabhängiger Anstrengungen. Sie bedienen sich eines positiv belegten und weit verbreiteten Terminus, welcher mit trennscharfen und typischen Kriterien von ähnlichen und anderen Auffassungen unterscheidbar sein muss.

2. Sinn macht die Verwendung des Humanismus-Begriffs entsprechend der Wortwahl allerdings nur über die Orientierung am Menschen. Derartige Ansprüche erheben jedoch zahlreiche Weltanschauungen, wovon sich allein durch diesen Gesichtspunkt keine klare Unterscheidung ergibt. Gleichwohl können allein durch die zentrale Orientierung am Menschen zwei Abgrenzungen vorgenommen werden: zum einen von religiösen Auffassungen, die am Göttlichen, zum anderen von nationalistischen Auffassungen, die an einer besonderen ethnischen Zugehörigkeit des Menschen orientiert sind.

3. Das damit deutlich werdende säkulare und universalistische Humanismus-Verständnis sollte bei der Orientierung am Menschen allerdings nicht anthropozentrisch ausgerichtet sein. Die Auffassungen, man sei die "Krönung der Schöpfung" oder man solle sich "die Natur untertan machen", ignorieren grundlegende naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Danach gilt der Mensch nur als Teil der Natur, die auch ohne ihn, aber er nicht ohne sie auskommen kann. Insofern ist dem skizzierten Humanismus-Verständnis ein ökologisches Bewusstsein unabhängig von einer naiven Natur-Romantik eigen.

4. Damit einhergehen sollte eine Anthropologie des Humanismus, die sich auf die Erkenntnisse der Evolutionsforschung stützen kann. Sie belegen erstens, dass der Mensch nicht das fertige Produkt eines göttlichen Schöpfungsaktes, sondern das Ergebnis eines langfristigen Anpassungsprozesses an die Rahmenbedingungen der Natur ist. Zweitens veranschaulicht die Evolutionsforschung, dass altruistisches und kooperatives Verhalten weder von einem Gott noch dem Weltgeist vorgeben wurde, sondern eine nützliche Erfindung der Menschen zur Regelung des sozialen Miteinanders ist.

5. Und drittens zeigt sich hier, dass der Entwicklung der Natur kein innerer Sinn in Richtung und Ziel eigen ist, sondern dieser lediglich durch menschliche Entscheidungen gesetzt werden kann. Insofern bedeutet die soziobiologische Einsicht in die stammesgeschichtliche Prägung des menschlichen Sozialverhaltens, wozu auch Aggressionen, Egoismus oder Machtfixiertheit gehören, keineswegs deren kritiklose Akzeptanz oder inhaltliche Einforderung. Sie verdient aber als Bestimmungsfaktor und Rahmenbedingung des sozialen Miteinanders Beachtung.

6. Aus dem natürlichen Sein ergibt sich kein gesellschaftliches Sollen, läuft doch eine solche Argumentation auf einen naturalistischen Fehlschluss hinaus. Elementare Bestandteile der menschlichen Natur können im Interesse des moralischen Handelns behindert oder gefördert werden. Mitunter bedarf es in diesem Sinne auch einer Abkehr oder Einschränkung von evolutionär bedingten Verhaltensweisen. Das damit verbundene realistische Bild vom Menschen sieht ihn also weder als von Natur aus gut noch böse an, sondern als entwicklungsfähig in die unterschiedlichsten Richtungen.

7. Eine Option kann in der Ethik eines Humanismus münden, welche den Menschen in seiner Individualität und Würde ins Zentrum stellt und dabei dessen soziale Einbettung nicht unterschlägt. Als Maxime für sein Handeln gilt im Kant'schen Sinne die Verallgemeinerbarkeit eigener Prinzipien als gesellschaftliche Norm. So entstünde ein Katalog von Merkmalen einer humanistischen Ethik, bestehend u.a. aus den Geboten der Fairness gegen andere, der Integrität als Person, der Minderung von Leid, der Offenheit gegenüber Kritik und der Pflicht zum moralischen Verhalten.

8. Die vorgetragenen Kriterien findet man mitunter ebenso in religiösen Kontexten, was eine säkulare Ethik aber nicht überflüssig macht. Der wichtigste Unterschied besteht in der Begründung, die nicht auf der exklusiven Annahme des Göttlichen in einer transzendentalen Dimension basiert. Statt dessen leitet sich eine säkulare Ethik aus der Betrachtung der wirklichen Welt ab. Sie ist dadurch nicht nur realistischer, sondern auch verallgemeinerbarer. Die Akzeptanz der Merkmale setzt nicht das Bekenntnis zu einem bestimmten Glauben voraus.

9. Humanisten beanspruchen, im Namen von Aufklärung, Wissenschaft und Vernunft zu argumentieren. Daraus darf allerdings kein Exklusivitäts- und Monopolanspruch abgeleitet werden. Gerade mit dem Verweis auf die Anmaßung einer Erkenntnis der Tugend der Vernunft nach der Französischen Revolution oder der Gesetze der Geschichte nach der Russischen Revolution wurden grausame Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen auch im Namen säkularer Werte durchgeführt. Daher bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit derartigen Grundlagen und Praktiken.

10. Eine selbstkritische Aufklärung der Aufklärung bedingt auch die Einsicht in die Begrenztheit menschlichen Wissens, in die Fehlbarkeit der Vernunft und in die Widerlegbarkeit von Annahmen. Theorien müssen an der Erfahrung scheitern können und dürfen sich nicht gegenüber Kritik immunisieren. Insofern steht eine solche Erkenntnistheorie auch dem empirischen Wissenschaftsverständnis mit der Notwendigkeit zur Korrektur von Einsichten nahe. Erst Letzteres gestattet die ständige Erweiterung menschlichen Wissens, ohne je eine absolute Wahrheit zu erlangen.

11. Aus dieser Auffassung ergibt sich eine grundlegende Skepsis gegenüber Aussagen im Sinne der Metaphysik, sind diesen doch durch Verweigerung gegenüber einer empirischen Prüfung die willkürlichsten Deutungen eigen. Diese kritische Kommentierung zielt nicht auf eine vollständige Verwerfung: In der Geistesgeschichte erbrachten metaphysische Reflexionen immer wieder bedeutende Beiträge - auch und gerade für ein humanistisches Selbstverständnis. Diese Einsicht hebt allerdings nicht das Problem der Begründung des Geltungsanspruches auf.

12. Auch die Ablehnung der Religion leitet sich zumindest teilweise aus der Metaphysikskepsis ab, beruhen doch Annahmen des Glaubens auf nicht belegbaren Behauptungen. Darüber hinaus scheiterten die rationalen Gottesbeweise, enthalten theologische Grundannahmen fundamentale Widersprüche, und negieren Wunderberichte die Naturgesetze. Insofern stellt die Religion einen Ausdruck illusionären Bewusstseins dar, dessen Inhalte einer Kritik unterzogen werden müssen, beanspruchen sie doch auch außerhalb der religiösen Sphäre Allgemeingültigkeit.

13. Eine aufgeklärte Religionskritik darf nicht bei der Auseinandersetzung mit den Begründungsfragen verharren, sondern muss einen Schritt weiter zu den Erklärungsfragen gehen. Dass jahrhundertelang Millionen von Menschen unterschiedlichen Formen des religiösen Glaubens anhingen und anhängen, ergibt sich aus bestimmten Bedürfnissen (Identität, Orientierung, Sinnsuche) und Funktionen (Erkenntnis, Integration, Manipulation). Sie im Sinne einer verbiesterten Religionskritik nicht zur Kenntnis zu nehmen, zeugt von einer Blindheit gegenüber der gesellschaftlichen Realität.

14. Da Religion auch als illusionäres Bewusstsein Teil individueller Identität ist, muss auch der Glaube in einer offenen Gesellschaft als Ausdruck persönlicher Grundrechte seine Anerkennung finden. Die damit verbundene Religionsfreiheit ist allseitig und gleichrangig, schließt also die Benachteiligung wie Bevorteilung einer Religion aus. Dies bedingt eine Säkularisierung des Staates in Form einer konsequenten Trennung von Religion und Staat. Religion wird damit keineswegs reine Privatsache, steht im öffentlichen Diskurs aber in Konkurrenz zu anderen Sinndeutungen.

15. Humanismus im bislang definierten Sinne kann politisch nicht neutral sein. Das Bekenntnis zu Individualismus und Menschenrechten, Pluralismus und Säkularität schließt die Orientierung an Demokratie und Rechtstaatlichkeit und demnach am demokratischen Verfassungsstaat ein. Dies bedeutet keineswegs die kritiklose Akzeptanz aller gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten in solchen Systemen, gleichwohl aber die Berufung auf deren normative Grundlagen als Ausgangsbasis für Kritik an und Protest gegen bedenkliche Entwicklungen und ungerechte Zustände.

16. Damit verbindet sich notwendigerweise eine Abgrenzung von Organisationen und Positionen, die sich zwar als religionskritisch oder säkular verstehen, aber antidemokratische und antikonstitutionelle Zielsetzungen verfolgen. Insofern können weder rechtsextremistische Neoheiden noch dubiose Psychogruppen oder orthodoxe Marxisten-Leninisten als Humanisten im oben definierten Sinne gelten. Deren Ideologie und Praxis verstößt gegen grundlegende humanistische Prinzipien und nötigt um der Klarheit der eigenen Positionen willen zur Distanz.

Die obigen Ausführungen verstehen sich nicht als Grundsätze im abschließenden Sinne, sondern als Thesen zur Diskussion. Beinahe zu jedem Punkt bedarf es einer inhaltlichen Auseinandersetzung und Weiterentwicklung. Einige Aussagen mögen auf breiten Konsens stoßen, andere Positionierungen Kritik auslösen. Darüber hinaus ist die Themenpalette um Fragen der Ethik über die Globalisierung oder das Naturbild bis zur Wirtschaftsordnung zu erweitern. Die Debatte ist eröffnet! Sie haben das Wort!

(Dr. Armin Pfahl-Traughber ist Professor an der Fachhochschule des Bundes in Brühl bzw. Heimerzheim mit den Arbeitsschwerpunkten Politischer Extremismus und Politische Ideengeschichte.)


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Quelle:
diesseits 4. Quartal, Nr. 77/2006, S. 22-23
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12. Januar 2007