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VERBAND/058: Humanismus - eine selbstständige Weltanschauung (diesseits)


diesseits 1. Quartal, Nr. 82/2008
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Humanismus - eine selbstständige Weltanschauung

Von Rosemarie Will


Am 12. Januar beging der Humanistische Verband Deutschlands das Jubiläum anlässlich seines 15-jährigen Bestehens. Die Festrede hielt Prof. Rosemarie Will, Verfassungsrichterin a. D. in Brandenburg und Bundesvorsitzende der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union. Ihre historisch angelegte Rede ging auf die Unterschiede zwischen Humanistischer Union und Humanistischem Verband ein, zwei Organisationen die in der Öffentlichkeit mitunter verwechselt werden. Prof. Will zollte dem Mut der Einlader Respekt, jemand zu einer Festrede zu bitten, der bestens informiert über diese Unterschiede ist und erwartungsgemäß andere Ansichten zur Frage vertritt, ob Humanismus überhaupt als Weltanschauung gefasst werden könne. Diesseits stellt Ihnen diesen Beitrag hier vor.


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Die Humanistische Union ist nach ihrem Selbstverständnis und ihrer Satzung - anders als der Humanistische Verband - nicht Weltanschauungsgemeinschaft, sondern eine unabhängige Bürgerrechtsorganisation. Seit unserer Gründung 1961 setzen wir uns für den Schutz und die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte ein. Dabei steht für uns die Achtung der Menschenwürde im Mittelpunkt, von daher tragen auch wir unseren Namen als Humanistische Union zu Recht. Wir engagieren uns für das Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit und wenden uns gegen jede unverhältnismäßige Einschränkung dieses Rechts durch Staat, Wirtschaft und Kirchen. Die größtmögliche Verwirklichung von Menschenrechten und Freiheit ist an Bedingungen gebunden. Dazu gehören Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Anerkennung gesellschaftlicher Vielfalt auch in weltanschaulicher und religiöser Hinsicht.

Anders der Humanistische Verband. Er versteht sich als Weltanschauungsgemeinschaft, als säkularer Verband in Abgrenzung zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften, die ihrerseits einen Transzendenzbezug haben. Der Humanistische Verband lehnt dabei als säkularer Weltanschauungsverband einen solchen Bezug grundsätzlich ab. Nach der von ihm vertretenen Weltanschauung bestimmen Menschen wie sie leben wollen autonom. Historisch hat der Humanistische Verband seine Wurzeln in den freireligiösen Gemeinden und in den Freidenkerverbänden wie sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen. Diese lehnen religiöse Begründungen der von ihnen vertretenen sozialen und moralischen Vorstellungen ab. Die seit 1847 in Preußen bestehende staatliche Erlaubnis zum Kirchenaustritt, die die Konsequenz der bereits im allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 garantierten Glaubens- und Gewissensfreiheit ist, machte dies möglich. Ist aber die sich damit entwickelnde Bewegung, die konsequent von der autonomen Selbstbestimmung des Menschen ausgeht, eine Weltanschauung? Kant hat in der Kritik der Urteilskraft den Begriff der Weltanschauung in der philosophischen Diskussion eingeführt. Danach bezeichnet Weltanschauung die persönliche Zusammenfassung der Unendlichkeit der durch die Sinne erfassten Welt. Heute dient der Begriff der Weltanschauung als Sammelbezeichnung für alle religiösen, ideologischen, national-ökonomischen und politischen Leitauffassungen vom Leben und von der Welt als einem Sinnganzen sowie zur Deutung des persönlichen und gemeinschaftlichen Standorts für das individuelle Lebensverständnis. Dabei sind Weltanschauungen keine wissenschaftlichen Systeme, sondern Deutungsauffassungen in der Form persönlicher Überzeugungen von der Grundstruktur, Modalität und Funktion des Weltganzen. Sofern Weltanschauungen Vollständigkeit anstreben, gehören dazu Menschen- und Weltbilder, Wert-, Lebens- und Moralanschauungen. Dem Einzelnen gibt Weltanschauung geistige Geborgenheit vermittels weltanschaulicher Erklärungen, durch Hilfestellungen und Beistand in der Lebensbewältigung, besonders in Grenzsituationen. Die vorgefundene Pluralität von Weltanschauungen ist dabei das Ergebnis der historischen Trennung von Staat und Kirche, mithin eine Folge der Säkularisation.

In drei Schritten hat sich die Säkularisierung vollzogen. Den ersten markiert der Investiturstreit, zwischen Kaiser und Papst. Indem der Papst den Kaiser zum Gang nach Canossa zwang, setzte er die kirchliche Suprematie gegenüber der weltlichen Gewalt durch. Der Preis dieses Erfolgs war die Konkurrenz und der Konflikt zwischen beiden, der ihrerseits auch die Möglichkeit eines Sieges der weltlichen Suprematie über die kirchliche eröffnete.

Diese Möglichkeit wurde im zweiten Säkularisationsschritt im Gefolge der religiös-konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts verwirklicht. Im religiösen Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken musste die weltliche Gewalt, mussten die Könige und Fürsten den Primat der Politik gegenüber der Religion zur Geltung bringen. Der Theoretiker dieser Emanzipation, Thomas Hobbes, weist dem Staat dann auch die Entscheidung über das religiöse Bekenntnis zu.

Den dritten Säkularisationsschritt markiert die Französische Revolution. Der Staat hört auf, Religion und Kirche zu seiner Sache zu machen: Religion wird Privatsache, zugleich wird die bürgerliche Verkehrs- und Erwerbsgesellschaft freigesetzt. Wie das Religiöse, so überlässt der Staat auch das Ökonomische seiner Eigengesetzlichkeit und zieht sich aus der Wohlfahrtspflege auf die Vorsorge für Sicherheit und Ordnung zurück. Der Staat wird Verfassungsstaat, der Menschrechte und Gewaltenteilung garantiert.

Damit fügt sich Säkularisation in einen umfassenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozess ein, dessen Ausgangspunkt die mittelalterliche Gesellschaft war und an deren Ende sie aufgelöst wird. Dabei hat der Humanismus die wichtigsten Begründungen für die Auflösung der mittelalterlichen geistig-politischen Ordnung in ihren beiden Hauptkomponenten der Einordnung der Menschen in die religiös-kirchlich geprägten Denk- und Handlungsstrukturen und der Unterordnung der weltlichen unter die geistige Macht geliefert.

In den Worten Jacob Burckhardts "erwacht" in den italienischen Stadtstaaten im Ausgang des Mittelalters "eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt über haupt..."[1] Die Macht des Subjektiven wird erkannt, das heißt der Mensch erkennt sich als geistiges Individuum. Aus dem Individualitätsverständnis des Menschen folgt die Idee der Selbstvervollkommnung aus eigener Kraft als Aufgabe wie auch als Chance. Neben den humanistischen Idealvorstellungen des sich selbst schaffenden, freien Menschen galten ebenso die politischen Institutionen als Werk von Menschen, wie generell das gesellschaftliche Leben als grundsätzlich berechen- und planbar angesehen wurde.

In der italienischen Kultur der Renaissance war diese Tendenz am weitesten gediehen. Dabei waren - wie die Ringparabel zeigt - diese Ideen nicht darauf aus, eine neue Religion zu schaffen, sondern sie zielten auf eine Entkirchlichung und Entdogmatisierung des religiösen Lebens überhaupt. Die Ringparabel ist Ausdruck eines durch friedliche Koexistenz geprägten Verhältnisses der Religionen zueinander. Eines der wichtigsten Dokumente einer allumfassenden philosophisch religiösen Synthese sind die 1485-86 von Giovanni Pico della Mirandola entwickelten 900 Thesen. Darin will er zeigen, dass alle philosophischen und theologischen Thesen im Kern übereinstimmen. In der geplanten Eröffnungsrede zur Diskussion seiner Thesen entwickelt er neben seinem Verständnis der menschlichen Würde ein universales Versöhnungsprogramm. Nach Mirandola ist für das humanistische Verständnis die Würde des Menschen als Mittelpunkt der Schöpfung charakteristisch. Er wird damit zum Erfinder des Menschenwürde-Gedankens überhaupt, mit dem er zugleich die Universalität von Menschenrechten begründet.

M. E. ist es dieser Universalitätsgedanke, der die Menschenrechte hervorbringt und dabei Weltanschauungen und Religionen auf diese Universalität verpflichten will. Dies scheint mir der Kern humanistischen Denkens zu sein. Deshalb findet sich beim angesehensten Humanisten, Erasmus von Rotterdam, auch zentral die für den Humanismus charakteristische Begründung von Toleranz.

Diese zwar noch christlich geprägte aber im Kern humanistische Toleranzbegründung des Erasmus von Rotterdam formuliert das Ideal einer nicht-dogmatischen Religiosität. Beim Humanisten Macciavelli zeigt sich dann, wie auch der Staat als Menschenwerk verstanden wird. Dabei braucht der Staat als Menschenwerk eine entsprechende Kunst und Tugend; doch wird diese Tugend vollständig aus der religiösen Ethik des christlichen Humanismus gelöst und in eigenen Begriffen normativ gefasst. Es fragt sich aber, ob die von Pico della Mirandola, Erasmus und Macciavelli entwickelten Thesen den Kern für eine neue Weltanschauung ergeben? Natürlich verändert sich das Bild mit den Thesen des Humanismus von Menschen in der Gesellschaft ganz grundlegend. Indem aber diese Ideen mit der Installierung des Verfassungsstaates gesellschaftliche Wirklichkeit wird, werden alle Mitglieder der Gesellschaft auch darauf verpflichtet. Der Verfassungsstaat lebt von der Anerkennung der Universalität der Menschenrechte durch die Rechtsunterworfenen. Müssen deshalb alle Mitglieder der Gesellschaft Humanisten sein und eine humanistische Weltanschauung haben?

Die durch die Säkularisierung bewirkte Trennung von Staat und Gesellschaft insgesamt und nicht nur von Staat und Religion ist für die moderne Gesellschaft lebensnotwendig. Nach Abschluss der Säkularisierung mit der Durchsetzung des Verfassungsstaats entsteht die Frage nach seiner Legitimationsgrundlage neu. Schon bei Kant soll das Recht Sittlichkeit ermöglichen, nicht selbst sittlich sein. Die ethische Verpflichtung zur Rechtsbefolgung ergibt sich bei Kant aus der Funktion des Rechts, die gleiche Freiheit aller zu sichern, nicht materiell aus bestimmten moralischen Inhalten der Rechtssätze. Dementsprechend unterschied Kant scharf zwischen Rechts- und, wie er sagte: Tugendpflichten. Rechtspflichten betreffen ausschließlich die äußeren Beziehungen zwischen Personen. Die Tugendpflichten dagegen regulieren die Innenseite menschlichen Handelns, werden allein durch die innere "ethische" Einsicht in das Vernunftnotwendige erzeugt und durch Selbstzwang sanktioniert, können deswegen also unmöglich Gegenstand positiver Gesetzgebung und des Rechtszwanges sein. Der politische Sinn dieser staatsphilosophisch-normativen Version einer strengen Trennung von Recht und Moral ist klar: Es geht darum, dass der Staat den Menschen nicht vorschreiben darf, nach welchen Zielen und Maximen sie zu leben haben. Das sittlich gute Leben der klassischen ethischen Tradition ist kein möglicher Gegenstand rechtsstaatlicher Gesetzgebung. Andererseits hängt die Geltung der Rechtspflichten nach Kant nicht an den höchst individuellen Gewissensentscheidungen der Einzelnen. Was die Sache kompliziert, darauf hat Hasso Hofmann vielfach hingewiesen[2], ist der Umstand, dass diese scharfe Trennung im Interesse der Freiheit selbst auf moralischen Grundsätzen beruht, nämlich "auf denen der Selbstbestimmung, der wechselseitigen Anerkennung und der Toleranz, also auf einer weltanschaulich sozusagen abgerüsteten Moral. In dieser Form aber bildet sie den tragenden Grund. Deshalb kommt der Rechtsstaat in Schwierigkeiten, wenn eine Gruppe dessen rechtliche Freiheiten in Anspruch nimmt, ohne die Moral ihrer Voraussetzungen zu akzeptieren."[3] Wenn es aber das Angewiesensein des demokratischen Rechtsstaates auf die von allen getragene Moral der Selbstbestimmung und der wechselseitigen Toleranz gibt, kann dann der Humanismus eine selbständige Weltanschauung sein? Ich denke ja und nein zugleich.

Um Weltanschauung zu sein, muss der Humanismus einen Richtigkeitsanspruch gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen erheben. Zugleich setzt Selbstbestimmung als Weltanschauung aber die wechselseitige Anerkennung und Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen und Religionen voraus. Der Träger einer humanistischen Weltanschauung wird gleichsam auf eine rechtsstaatliche Demokratie verpflichtet. Damit wird aber die humanistische Weltanschauungsgemeinschaft zutiefst politisch und insoweit kaum noch von einer politischen Partei oder Bewegung unterscheidbar. Weil dem so ist, gibt es auch politisch eine Menge Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte von Humanisten in der Humanistischen Union als Bürger und Humanisten im Humanistischen Verband als Verfechter einer humanistischen Weltanschauung.


Prof. Dr. Rosemarie Will lehrt öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin.

Anmerkungen:

[1] Jacob Burckardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Ein Versuch, Stuttgart, 1976, S. 123

[2] Hasso Hofmann, Eröffnungsrede zum Juristentag in Berlin

[3] Hasso Hofmann, Eröffnungsrede zum Juristentag in Berlin


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Quelle:
diesseits 1. Quartal, Nr. 82/März/08, S. 22-24
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2008