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GESCHICHTE/035: Humanismus und Geschichtskultur (ha)


humanismus aktuell - Hefte für Kultur und Weltanschauung - Nr. 20 - 2007

Humanismus und Geschichtskultur

Von Hermann Glaser


Der Kulturhistoriker und Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen versteht unter dem Begriff "Geschichtskultur" die "praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft". Er bezieht sich auf das Gesamtspektrum von historischem Empfinden, Denken und Handeln in seinen emotionalen, kognitiven, religiösen, weltanschaulichen, politischen und ästhetischen Dimensionen. Für Michael Zimmermann umfasst der Begriff bei phänomenologischer Auffächerung Historische Museen, Gedenkstätten, Archive, Historische Vereine, Geschichtswerkstätten, Gedenktage und Jubiläen. Bei nachfolgendem Beitrag geht es um Grundsatzüberlegungen: ob die Verbindung von "Geschichte" und "Kultur" unter dem Aspekt "Humanismus" tragfähig ist.


I.

Zu Beginn der Moderne findet sich ein Zeugnis, das mit erfülltem Pathos die Beschäftigung mit Geschichte als große Möglichkeit für den Prozess der Humanisierung preist. Friedrich Schillers Antrittsvorlesung als Professor der Geschichte in Jena 1789 - die Perversionen der Französischen Revolution lagen als bittere Erfahrung noch vor ihm - war von dem Glauben bestimmt, dass die Bruchstücke des historischen Wissens sich zum System, und zwar zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen ordnen ließen; die vorangegangenen Zeitalter hätten sich, ohne es zu wissen oder zu erzielen, angestrengt, "unser menschliches Jahrhundert" herbeizuführen.

Das Studium der Weltgeschichte als eine ebenso anziehende wie nützliche Beschäftigung werde - so adressierte er seine Zuhörerschaft - "Licht in Ihrem Verstande und eine wohltätige Begeisterung in Ihrem Herzen entzünden. Sie wird Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge entwöhnen, und indem Sie vor Ihren Augen das große Gemälde der Zeiten und Völker auseinander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks und die beschränkten Urteile der Selbstsucht verbessern. Indem sie den Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammenzufassen und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft vorauszueilen: so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so drückend umschließen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Dasein in einen unendlichen Raum aus und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber."

In Erkenntnis der individuellen Begrenztheit - der Mensch kann sich nur in optischer Täuschung als bedeutsam empfinden - wird das Abstraktum Geschichte zum großen Lehrmeister, der uns aufs Wesentliche hinführt und das ist letztlich und trotz allem (auch trotz vieler historischer Blutspuren) eine säkularisierte bzw. den Gottglauben durch den Glauben an einen vernünftigen Weltgeist substituierende Theodizee; ob solchen Wissens von der Durchsetzungskraft des Schönen, Guten und Wahren erwächst die tätige Verpflichtung für die Kommenden: Die bessere Zukunft gründet in einer diese vorbereitende Herkunft.

"Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann?

Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet - etwas dazusteuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit, meine ich, wo die Tat lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte."

In der Dimension aufgeklärten, optimistischen Geschichtsdenkens - Geschichtskultur insofern, als Geschichte mit der Fort- und Höher-Entwicklung der Kultur, auch (im Sinne von Norbert Elias) des Prozesses der Zivilisation identisch ist - erfolgt die Absage an die Lehre der Erbsünde; diese sucht als kirchliche, vor allem katholische Repressions-Theorie, das Sapere-aude! und im Besonderen die Emanzipation der Frau zu unterbinden.

Für Immanuel Kant (in Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte) bedeutete der Sündenfall - die Vertreibung aus dem paradiesischen Garten, die Entlassung aus dem Mutterschoße der Natur den "Übergang aus der Rohheit eines bloß thierischen Geschöpfs in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Vernunft in den Stand der Freiheit". Künftig werde dem Menschen die Mühseligkeit des Lebens zwar öfter den Wunsch nach einem Paradiese, dem Geschöpfe seiner Einbildungskraft, wo er in ruhiger Untätigkeit und beständigem Frieden sein Dasein verträumen oder vertändeln könne, ablocken.

"Aber es lagert sich zwischen ihm und jenem eingebildeten Sitze der Wonne die rastlose und zur Entwickelung der in ihn gelegten Fähigkeiten unwiderstehlich treibende Vernunft, und erlaubt es nicht, in den Stand der Rohheit und Einfalt zurück zu kehren, aus dem sie ihn gezogen hatte. Sie treibt ihn an, die Mühe, die er hasst, dennoch geduldig über sich zu nehmen, dem Flitterwerk, das er verachtet, nachzulaufen, und den Tod selbst, vor dem ihm grauet, über alle jene Kleinigkeiten, deren Verlust er noch mehr scheut, zu vergessen."

Kant - so resümiert Odo Marquard dessen Gedankengang - wollte sagen, dass der Sündenfall der Schritt des Menschen zu sich selbst sei. Als Gewinn der Freiheit durch die erste Freiheitstat erweise sich der Sündenfall als eine glückliche Schuld, felix culpa, die kaum noch culpa, sondern nur noch felix sei.

Friedrich Schiller folgt in seiner Jenaer Vorlesung über die "erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde" (1790) Kants Interpretation des Sündenfalls, wenn er feststellt, dass im Paradies der Mensch zwar vollendet gewesen sei - aber nur als Pflanze und Tier; sein sanfter Anfang diente der Stärkung zum Kampfe; er war zu ganz anderem bestimmt.

"Was die Natur in seiner Wiegenzeit für ihn übernommen hatte, sollte er jetzt selbst für sich übernehmen, sobald er mündig war. Er selbst sollte der Schöpfer seiner Glückseligkeit werden, und nur der Antheil, den er daran hätte, sollte den Grad dieser Glückseligkeit bestimmen. Er sollte den Stand der Unschuld, den er jetzt verlor, wieder aufsuchen lernen durch seine Vernunft, und als ein freier, vernünftiger Geist dahin zurück kommen, wovon er als Pflanze und als eine Kreatur des Instinkts ausgegangen war; aus einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft sollte er sich, wär' es auch nach späten Jahrtausenden, zu einem Paradies der Erkenntniß und der Freiheit hinauf arbeiten, einem solchen nämlich, wo er dem moralischen Gesetze in seiner Brust ebenso unwandelbar gehorchen würde, als er anfangs dem Instinkte gedient hatte, als die Pflanze und die Thiere diesem noch dienen."

Mit dem Sündenfall habe er sich in das wilde Spiel des Lebens geworfen, sich auf den gefährlichen Weg zur moralischen Freiheit gemacht. "Wenn wir also jene Stimme Gottes in Eden, die ihm den Baum der Erkenntniß verbot, in eine Stimme seines Instinkts verwandeln, der ihn von diesem Baume zurückzog, so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nichts anders, als ein Abfall von seinem Instinkte - also erste Äußerung seiner Selbstthätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseins. Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte, der das moralische Übel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darin möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte; von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein gelegt."

Ähnlich spricht dann Georg Wilhelm Friedrich Hegel vom paradiesischen Zustand als einem Zustand sittlicher Indifferenz, der des Menschen unwürdig sei: Zustand des Tiers, der Bewusstlosigkeit, da der Mensch nicht vom Guten und auch nicht vom Bösen wisse. Die "wahrhafte Natur" des Menschen mache seine Freiheit aus, die "freie Geistigkeit, das denkende Wissen des an und für sich Allgemeinen". Die Schlange habe nicht gelogen, als sie zu Eva sagte, diese werde, wenn sie die Frucht vom Baum der Erkenntnis esse, sein wie Gott: um das Gute und Böse wissen.


Du schicktest mit dem Flammenschwert
Den himmlischen Gendarmen,
Und jagtest mich aus dem Paradies,
Ganz ohne Recht und Erbarmen!

Ich ziehe fort mit meiner Frau
Nach andren Erdenländern,
Doch daß ich genossen des Wissens Frucht,
Das kannst du nicht mehr ändern.

Du kannst nicht ändern, daß ich weiß,
Wie sehr du klein und nichtig,
Und machst du dich auch noch so sehr
Durch Tod und Donnern wichtig ...

Vermissen werde ich nimmermehr
Die paradiesischen Räume;
Das war kein wahres Paradies -
Es gab dort verbotene Bäume.

Ich will mein volles Freiheitsrecht!
Find ich die gringste Beschränknis,
Verwandelt sich mir das Paradies,
in Hölle und Gefängnis.


Im ironisch - lyrischen Parlando beschreibt Heinrich Heine den Weg, den der Mensch mit dem Experimentum medietatis eingeschlagen habe - wobei freilich auch bei ihm (wie schon bei Pico della Mirandola und fast allen anderen Humanisten wie Aufklärern) in patriarchalischer Stereotypie die Auslösung des Prozesses der Kultur und Zivilisation dem unbeweglich-saturierten Adam und nicht der neugierig-alerten Eva zugeschrieben wird.

Die Erschütterung des Glaubens an einen Geschichtsablauf, der Aufstieg und Vollendung des Humanismus mit sich brächte, bestimmt, etwa bei Heinrich Heine, Nachtgedanken des 19. Jahrhunderts; auch wenn der Historismus sie ins Abseits schiebt. Franz Grillparzer etwa sieht in aphoristischer, dunkler Vision bereits 1847 in seinem Gedicht Der Leopoldsritter das Unheil kommen:

Der Weg der neuem Bildung geht
von Humanität
durch Nationalität



II.

Theodor Lessing, Philosoph, Publizist und Jude - eine in Deutschland besonders "ungute Mischung" - hatte unter der Nationalität, die zunehmend in Nationalismus umschlug, besonders bitter zu leiden, und zwar in drei Staatsformen: im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in der Hitler-Diktatur. Sein Leben war die Geschichte einer Verfolgung.

Lessing wurde 1872 als erstes Kind in einer von Anfang an zerrütteten Geld-Ehe geboren; der Vater war Arzt, die Mutter Bankierstochter. Bei dennoch stets gespannter finanzieller Situation lebte man auf großbürgerlichem Fuße und in ständigen Streitigkeiten. Lessing nannte die Ehe der Eltern einen Totentanz, der vierundzwanzig Jahre gedauert habe. Der Vater ließ sich nicht scheiden, da er die Mitgift, deretwegen er geheiratet, bereits im dritten Ehejahre auf der Börse verspekuliert hatte. Der Zwang, den bürgerlichen Ehrbegriffen zu genügen, machte die Ehe "dauerhaft".

Der gleichmacherisch-öde Drill der Schule verstärkte Lessings Introvertiertheit: "Ich wurde völlig in mich hineingeprügelt, verstockte und verkroch mich, sprach wenig und ungern und war nicht nur ungewillt, etwas zu lernen, sondern schlechthin unfähig dazu. Auch körperlich zeigte ich mich ungelenk und ungeschickt ... Es war eine dauernde Niederlage." Selbsthass ergab sich als Folge. "Die Liebe zum Tod war in mir, ehe ich die Liebe zum Leben erlernte." Für den sensiblen Juden blieb in der arischen "Siegfriedwelt der Muskelfrohen und im Angesicht ihrer gesunden und rohen Kraft- und Saft-Ideale" wenig Platz.

Lessing hat später wie viele, deren Stärke kompensatorisch aus dem Geist der Schwäche entstand, eine Kehre zur Gegenaufklärung hin vollzogen. In Freundschaft zu Ludwig Klages entwickelte er einen kulturpessimistisch eingefärbten, mit hemmungsloser Deutschtümelei und Bürgerhass verbundenen Irrationalismus, so dass, wie Kurt Hiller es formulierte, er selber die Kugel gießen half, die ihn später niederstreckte. (1933 wurde er, nach der Flucht vor den Nationalsozialisten, von diesen in Marienbad durch das offene Fenster seines Arbeitszimmers erschossen.)

Während des Ersten Weltkrieges schrieb Lessing sein Buch Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, das Geschichtskultur ("Geschichte als Kultur, Kultur als Geschichte") ad absurdum zu führen trachtete. Die verfluchte Kultur hieß ein anderes Werk.

Geschichte erweise sich als ein Akt der Selbsttäuschung, ohne den wir allerdings nicht lebensfähig seien; denn der Mensch verfällt der Täuschung, sich für ein Vernunftwesen, ja sogar eine Macht hinter der Welt für vernünftig zu halten.

Es könnte aber sein, dass der Mensch nur an eine notwendige Täuschung sich anklammere und Vernünftigkeit der eigenen Natur sich vorspiegeln müsse, um dank solcher Täuschung ein Ideal der Ordnung in unendlicher Annäherung verwirklichen zu können. "Es ist, als ob in den dunklen Massen ferne Ahnung davon dämmere, dass die Verlockung zu Bildung und Aufklärung sie hineintreibe in wachsende Ernüchterung und Entzauberung, bis Bewußtwerdung in Logik und Ethik das Leben gleichsam vergletschern macht. Darum fordert der Mensch zuerst und vor allem, über Wahrheit und Wachheit hinweggetäuscht zu werden. Er liebt und bewundert den Verklärer und tötet den Aufklärer."

Unter dem Eindruck des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges transponierte Gottfried Benn in einem Essay Zum Thema Geschichte - dieser entstand vermutlich 1943 - Lessings radikale Absage an geschichtliche Sinnhaftigkeit sozusagen ins historisch Konkrete (wobei die ansonsten höchst unterschiedlichen Mentalitäten der Beiden tatsächlich eine gemeinsame Schnittfläche hatten: Benn - wie auch der späte Lessing - war 1933 von den mystisch-mythischen Irrationalismus der Völkischen fasziniert.

"Der Inhalt der Geschichte. Um mich zu belehren, schlage ich ein altes Schulbuch auf, den sogenannten Kleinen Ploetz: Auszug aus der alten, mittleren und neuen Geschichte, Berlin 1891, Verlag A.G. Ploetz. Ich schlage eine beliebige Seite auf, es ist Seite 337, sie handelt vom Jahre 1805. Da findet sich: einmal Seesieg, zweimal Waffenstillstand, dreimal Bündnis, zweimal Koalition, einer marschiert, einer verbündet sich, einer vereinigt seine Truppen, einer verstärkt etwas, einer rückt heran, einer nimmt ein, einer zieht sich zurück, einer erobert ein Lager, einer tritt ab, einer erhält etwas, einer eröffnet etwas glänzend, einer wird kriegsgefangen, einer entschädigt einen, einer bedroht einen, einer marschiert auf den Rhein zu, einer durch ansbachisches Gebiet, einer auf Wien, einer wird zurückgedrängt, einer wird hingerichtet, einer tötet sich - alles dies auf einer einzigen Seite, das Ganze ist zweifellos die Krankengeschichte von Irren.

Seite 369, das Jahr 1849: einer wird abgesetzt, einer wird Gouverneur, einer wird zum Haupt ernannt, einer hält einen pomphaften Einzug, einer verabredet etwas, einige stellen gemeinsam etwas fest, einer überschreitet etwas, einer legt etwas nieder, einer entschließt sich zu etwas, einer verhängt etwas, einer hebt wieder etwas auf, einer trennt, einer vereint, einer schreibt einen offenen Brief, einer spricht etwas aus, einer kommt zu Hilfe, einer dringt vor, einer verfügt einseitig, einer fordert etwas, einer besteigt etwas, überschritten wird in diesem Jahr überhaupt sehr viel - im ganzen ergibt sich auf dieser Seite dreimal Waffenstillstand, einmal Intervention, zweimal Einverleibung, dreimal Aufstand, zweimal Abfall, zweimal Niederwerfung, dreimal Erzwingung - man kann sich überhaupt keine Tierart vorstellen, in der so viel Unordnung und Widersinn möglich wäre, die Art wäre längst aus der Fauna ausgeschieden."


III.

Friedrich Schillers Antrittsvorlesung und Theodor Lessings Werk Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen wie Gottfried Benns Essay markieren polare Denkpositionen, bei denen einerseits "Geschichtskultur" bestätigt, ja geradezu in den Rang einer metaphysischen Wirkungskraft erhoben und andererseits als fatale Selbsttäuschung entlarvt wird.

Im 19. Jahrhundert - von seinen Nachtgedanken wurde schon gesprochen - changiert das Verhältnis zur Geschichte: "vernünftige" Geschichtskultur wird durchaus skeptisch bedacht; doch ist eine sich freilich vor allem im Historismus immer mehr veroberflächlichende Geschichtsgläubigkeit dominant. Auch wenn Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Vorrede zu den Grundlagen der Philosophie des Rechts von einer Philosophie spricht, die ihr Grau in Grau male - "die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug" - so ist seiner Vorstellung von Geschichte der Pessimismus fremd: Geschichte bedeutet ihm die allgemeine Verkörperung des Weltgeistes, des Prinzips der Vernunft. Auch das dem "Vernünftigen" Gegensätzliche ist Teil des Ganzen, eines sich selbst dialektisch verwirklichendes "guten Ganzen".

"Die Weltgeschichte ist die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes in seinen höchsten Gestalten, dieses Stufenganges, wodurch er seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich selbst erlangt. Die Gestaltungen dieser Stufen sind die welthistorischen Volksgeister, die Bestimmtheiten ihres sittlichen Lebens, ihrer Verfassung, ihrer Kunst, Religion und Wissenschaft. Diese Stufen zu realisieren, ist der unendliche Trieb des Weltgeistes, sein unwiderstehlicher Drang; denn diese Gliederung sowie ihre Verwirklichung ist sein Begriff. - Die Weltgeschichte zeigt nur, wie der Geist allmählich zum Bewußtsein und zum Wollen der Wahrheit kommt; es dämmert in ihm, er findet Hauptpunkte, am Ende gelangt er zum vollen Bewusstsein." (Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte)

Außenseiter der Geschichtswissenschaft entfernten sich freilich von der Überzeugung, dass alles "Wollen nur ein Sollen" sei und vor dem "geschichtlich Willen" die "Willkür" schweige (wie es Goethe formulierte).

Jacob Burckhardt war durch eine tiefe Abneigung gegenüber der Hegelschen Geschichtsphilosophie bestimmt. Er wollte nicht konstruieren, sondern an-schauen; und anschauend fand er nicht die Entwicklung in der Geschichte, sondern die Wiederholung. Die Geschichtsphilosophie lege mehr Gewicht auf die Gegensätze zwischen den aufeinander folgenden Zeiten und Völkern; sie betrachte das Vergangene als Vorstufe zu uns als Entwickelten; er dagegen wollte an die Phänomene sich halten. Burckhardt, 1818 zu Basel geboren und dort 1897 gestorben, war von früh an "von dem Werte und der Würde des Einzelmenschen aufs Tiefste durchdrungen.

Ihm, d. h. dem wertvollen, seiner freien Entfaltung, solle im Denken und Handeln von Staats wegen möglichst wenig Zwang in den Weg geworfen werden. Und auch ferner echt humanistisch: die eigengesetzliche, nur mit dem Höchsten gespeiste Entfaltung des Individuums Mensch führe als einzige zur wahren Kultur, zur wahren Bildung ... Aber das Individuum ist ihm - und das nimmt bei dem Skeptiker, der sich früh aus lyrischer Ich-Gebundenheit betrachtend in die Welt der Dinge, der geschichtlichen Leistungen herausbegibt, nicht wunder allein kein letzter Wert. Das frei sich selbst seine Aufgaben setzende Individuum vielmehr nur, das Individuum, soweit es Kultur-Schöpfer und -Träger ist: nur dies hat seine Liebe." (Rudolf Marx).

Unter der Maxime, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott, war Leopold von Ranke der maßgebliche Vertreter einer Geschichtswissenschaft, die sich von der idealistischen wie romantisch-subjektiven Betrachtungsweise zu lösen und zu Objektivität wie Faktizität vorzustoßen suchte. "Ich wünschte, mein Selbst gleichsam auszulöschen und die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen."

Wollte man mit manchem Philosophen annehmen, dass die ganze Menschheit sich von einem gegebenen Urzustande zu einem positiven Ziel fortentwickele, so könnte man sich dieses auf zweierlei Weise vorstellen:

"Entweder, daß ein allgemein leitender Wille die Entwicklung des Menschengeschlechts von einem Punkt nach dem anderen förderte - oder, daß in der Menschheit gleichsam ein Zug der geistigen Natur liege, welcher die Dinge mit Notwendigkeit nach einem bestimmten Ziele hintreibt. - Ich möchte diese beiden Ansichten weder für philosophisch haltbar noch für historisch nachweisbar halten. Philosophisch kann man diesen Gesichtspunkt nicht für annehmbar erklären, weil er im ersten Fall die menschliche Freiheit geradezu aufhebt und die Menschen zu willenlosen Werkzeugen stempelt; und weil im andern Fall die Menschen geradezu entweder Gott oder gar nichts sein müßten. Auch historisch aber sind diese Ansichten nicht nachweisbar; denn fürs erste findet sich der größte Teil der Menschheit noch im Urzustande, im Ausgangspunkte selbst; und dann fragt es sich: was ist Fortschritt? Wo ist der Fortschritt der Menschheit zu bemerken?"

Die bei Karl Marx und Friedrich Engels deutlich werdende Loslösung vom sowohl metaphysischen als auch fatalistischen Geschichtsbegriff lässt in der historischen Verwirklichung des Menschen die emanzipatorische Idee aufscheinen. Auch wenn der Mensch seine Geschichte selbst macht - erneut Bestätigung der Überbau-Unterbau-Einwirkung anstelle des Unterbau-Überbau-Determinismus - so sei doch diese Freiheit des Menschen als denkendem und handelndem Subjekt in die Objektivität des Geschehens eingebunden.

Der Lauf der Geschichte bringt "zwangsläufig" die Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft entfremdeter Arbeit; aber ohne das eigene revolutionäre Handeln könne der Weg ins Paradies nicht gefunden werden. Marx' und Engels geschichtlicher Idealismus ist realistisch fundiert; sein Realismus ist freilich "in den Kopf" zurückgenommen, mündet in eine säkularisierte Eschatologie.

"Was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen. Aber daraus, daß die einzelnen Willen - von denen jeder das will, wozu ihn Körperkonstitution und äußere, in letzter Instanz ökonomische Umstände (entweder seine eignen persönlichen oder allgemeingesellschaftliche) treiben - nicht das erreichen, was sie wollen, sondern zu einem Gesamtdurchschnitt, einer gemeinsamen Resultante verschmelzen, daraus darf doch nicht geschlossen werden, daß sie = 0 zu setzen sind. Im Gegenteil, jeder trägt zur Resultante bei und ist insofern in ihr einbegriffen." (Friedrich Engels: Brief an J. Bloch)

"Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.

Die Individuen, welche die herrschende Klasse ausmachen, haben unter Andrem auch Bewußtsein und denken daher; insofern sie also als Klasse herrschen und den ganzen Umfang einer Geschichtsepoche bestimmen, versteht es sich von selbst, daß sie dies in ihrer ganzen Ausdehnung tun, also unter Andern auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken herrschen, die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln; daß also ihre Gedanken die herrschenden Gedanken der Epoche sind." (Feuerbach. Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung)


IV.

Zwei Bereiche der "Geschichtskultur" sind besonders hervorzuheben, weil sie von bestimmten Kreisen im 19. Jahrhundert als ihr Inbegriff verstanden wurden: Die Idee einer Feiergemeinschaft, die sich in unzähligen Sänger-, Turner- und anderen Festen verdinglichten, Ausdruck des Bestrebens nach nationaler Einheit, zumindest Ziel deutscher Geschichte. Und die Abendland-Ideologie, mit der geschichtlicher Fortschritt aufs Ziel völkisch-rassisch-arischer Hegemonie ausgerichtet wurde; an deren Wesen - mit Deutschland als Kern - sollte die Welt genesen.

In der ersten Phase der feierlichen Geschichtskultur sehnte man sich nach Macht, Kraft und Sicherheit; aus Festen, die traditionelle Ursprünge hatten (zum Beispiel Volksfeste, Brauchtumsfeste), wurden Feiern, die betont das Verlangen nach nationaler Größe zum Ausdruck brachten. Hinweise auf das Mittelalter, auf große Herrscher und Heerführer der Vergangenheit, zeigten die Politisierung an. Die demokratischen Ideale, die das Volk als fortschrittliche Kraft priesen und etwa das Hambacher Fest 1832 gekennzeichnet hatten, traten zurück.

Die zweite Phase der Feiergemeinschaft des 19. Jahrhunderts nach 1871 war nicht mehr durch patriotische Sehnsucht, sondern durch vaterländische Gewissheit geprägt. Nun galt der Grundsatz: "Es ist erreicht!" Die staatliche Einheit wurde als nationale Identität gepriesen. Die nach Macht strebende Feierlichkeit war zur machtgeschützten Feierlichkeit geworden. Nun bestätigte (affirmierte) das Fest, was früher nur ein festliches "Wähnen" gewesen war.

Die Aneignung des germanischen und mittelalterlichen Erbes in den nationalen Feiern und Festen (wobei neben der Germanen- vor allem die Hohenstauferzeit als Epoche religiöser Bindung, konfessioneller Einheit, opferbereiter Glaubenskraft, als Entfaltung christlich-germanischen Geistes, als Blütezeit deutscher Kunst und Dichtung und als Höhepunkt deutscher Kaiser- und Reichsherrlichkeit idealisiert wurde) spiegelt sich in den historischen Festzügen, die entweder selbstständig oder als Teil von Festen im 19. Jahrhundert eine große Rolle spielten. Auch hier lassen sich, wie bei der Feier insgesamt, die erwähnten zwei Phasen erkennen:

- Vor 1817 sind diese Festzüge Ausdruck von Sehnsucht: vielfältige und kreative Einkleidung eines aufs Nationale, auf die Stiftung der Einheit aller Deutschen, manchmal auch aufs Demokratisch-Republikanische abhebenden Kulturbewusstseins;

- nach 1871 geben sich diese Festzüge eindimensionaler; dem positivistischen Fortschrittsglauben fehlt der Tagtraum; man glaubt endgültig erreicht zu haben, was man ersehnt hatte; der historische Festzug transzendiert nicht mehr, er demonstriert.

Nationale Selbstzufriedenheit ist symptomatisch für den Historismus überhaupt: Seine Absicht, durch prunkvollen Rückgriff auf Vergangenheit eine neue völkische und staatliche Identität herzustellen, verengte den Geschichtsbegriff, bis er aufs Nationalistische und Chauvinistische regredierte. Die Unerheblichkeit des Stolzes bedachte nicht die Wechselfälle des Geschicks; man glaubte sich der Zukunft sicher; folgerichtig führe der Weg aus der Vergangenheit zur nationalen Weltgeltung.

Der Abendland-Begriff speist sich vor allem aus der ideologischen Traktätchenliteratur um die Jahrhundertwende und erfährt durch die antidemokratischen Kreise der Weimarer Republik in Reaktion auf den verlorenen Krieg eine besondere Ausprägung. Die Schriften von Denkern wie Paul Lagarde, Heinrich Treitschke, Julius Langbehn, Houston Stewart Chamberlain, Walter Flex, Arthur Moeller van der Bruck, Adolf Bartels, Ludwig Klages, Hans Blüher waren dabei, wie Karl Schwedhelm mit Recht feststellt, Produkte eines verstiegenen neu-rasthenischen Provinzialismus - Phantasmagorien von Autoren, die ihren Schreibtisch zu einer Walstatt für deutsche Siege zu machen suchten. Ihre Persönlichkeiten zeigten fast alle einen Bruch.

Neurotische Züge, organische Krankheiten, gescheiterte Laufbahnen, traumatische Kindheitserlebnisse, sexuelle Abartigkeiten, Selbstmordneigungen, bohemehafte Lebensformen bestimmten sie. Um sich vor sich und der Umwelt zu beweisen, verwandelten sie in dem, was sie schrieben, ihre verzeihliche Schwäche in unverzeihliche Gewaltsamkeit.

Dem kompensatorischen Bekenntnis zum Übermenschentum, das sich zunehmend als aggressiver Nationalismus gerierte, entsprachen den Ressentiments gegenüber anderen Völkern. Der Sozialdarwinismus wurde dabei mit nationalistischem Sendungsbewusstsein verschränkt; im Kampf ums Dasein siege nicht nur das physisch stärkere, sondern auch das sittlich tüchtigere Volk.

An der Hunnenrede Wilhelms II., der Ansprache an das zur Niederwerfung des Boxeraufstandes in Bremerhaven sich einschiffende Expeditionsheer, kann man auf eklatante Weise den mit affirmativer Kultur verbrämten Abendlandbegriff des deutschen Sonderwegs ablesen (wobei ein solches Denken, nur weniger explizit, auch bei anderen europäischen Nationen grassierte).

"Ihr wisst es wohl, Ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt Ihr an ihn, so wisst: Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht. Führt Eure Waffen so, dass auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wage, einen Deutschen scheel anzusehen. Wahrt Manneszucht, der Segen Gottes sei mit Euch, die Gebete eines ganzen Volkes, meine Wünsche begleiten Euch, jeden einzelnen. Oeffnet der Kultur den Weg ein für allemal! Nun könnt Ihr reisen!"

Bei dem Zitat handelt es sich um die zweite, komprimierte, zur Veröffentlichung freigegebene Fassung; bei der ersten hatte der kaiserliche Berater und verantwortliche Staatssekretär des Äußeren, Bernhard von Bülow, noch versucht, die schlimmsten Passagen zu unterdrücken, doch war ein Mitstenogramm der Rede schon publiziert worden.

Im O-Ton hatte der Kaiser in seine Vorstellungen vom christlichen Abendland auch die Hunnen einbezogen: "Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lasse, so möge der Namen Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen."

"Abendland" als Kampfbegriff hatte seinen Ursprung darin, dass, wie Helmuth Plessner konstatierte, die Deutschen keinen Anschluss an die westlichen Ideen der Demokratisierung und Liberalisierung gefunden hatten (er spricht deshalb von der "verspäteten Nation"), was als besondere kulturelle Tugend galt. In einem Aufsatz der Neuen Rundschau 1914 (Gedanken im Kriege) sprach Thomas Mann davon, dass Zivilisation und Kultur nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern Gegensätze seien. Sie bildeten eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Natur. Kultur bedeute Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack; Zivilisation aber sei Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, Geist. Militarismus, Moral, Seele, Aristokratie, Volk und "reines Menschentum" brachte er in Verbindung mit Kultur; Politik, Demokratie, Vernunft, Nation und Zivilistentum mit Zivilisation.

In den Betrachtungen eines Unpolitischen, begonnen zu Anfang des Ersten Weltkrieges, verstärkte er noch seine Angriffe auf die westlich-demokratische Zivilisation, was er als Zeit- bzw. Gedankendienst mit der Waffe bezeichnete. Zu überwinden wäre die Welt ästhetischer Verfeinerung zu Gunsten des kraftvollen Lebens; damit bekämpfte er auch die eigene, nun als Schwäche empfundene künstlerische Mentalität.

Der westliche Zivilisationsliterat - und hier hatte er vor allem seinen Bruder Heinrich Mann im Auge - zerstöre die metaphysische Dimension des Menschen. Verhindert müsse werden die Politisierung des Geistes, die Umfälschung des Geistbegriffs in den der besserischen Aufklärung mit ihrer Philanthropie. "Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur."

Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind in ihrer kompakten Tendenz typisches Produkt der wahnhaften Aufbruchstimmung von 1914, die im Krieg die Erneuerung (das regenerierende Stahlbad) pries. Der Krieg bedeutete die enthusiastisch begrüßte große Umwertung der Werte.

"Alles in allem ist der Mensch offenbar nicht der edle Fadian und Literaturheilige, als welchen der Zivilisationsliterat ihn entweder jetzt schon sieht oder den er doch baldmöglichst aus ihm machen möchte. Der Mensch empfindet Zivilisation, Fortschritt und Sicherheit nicht als unbedingtes Ideal; es lebt ohne Zweifel unsterblich in ihm ein primitiv-heroisches Element, ein tiefes Verlangen nach dem Furchtbaren, wofür alle gewollten und aufgesuchten Strapazen und Abenteuer Einzelner im Frieden: Hochgebirgstaten, Polarexpeditionen, Raubtierjagden, Fliegerwagnisse nur Auskunftsmittel sind. Auf Menschlichkeit dringt 'der Geist', aber was wäre eine Menschlichkeit, der die männliche Komponente abhanden gekommen wäre?" (Thomas Mann)

Die Stelle markiert in eindrucksvoller Weise das taedium vitae der Zeit: den Ekel am befriedeten, glückhaften Leben; den damit verbundenen Aggressionsstau (als Folge einer repressiven zwielichtigen und doppelbödigen Moral); die Ablehnung kulturpubertärer Wirrnis, aus der man nun in die Eindeutigkeit eindimensionalen Denkens und Handelns auszubrechen hoffte. Und als "Gegenaktion": den Willen zu Kraft und Macht; eine Todesgedanken, Melancholie und Pessimismus übertrumpfende Lebensgläubigkeit, die dem "Opfergang" rhapsodisch sich überantwortet (den allerdings Mann, anders etwa als Ernst Jünger, nur am Schreibtisch praktizierte).

Indem Thomas Mann hier - bekanntlich wandelte er sich dann in der Weimarer Republik zu einem aufrechten und engagierten Vertreter von Demokratie und Parlamentarismus - Kultur gegen Zivilisation ausspielt und deutsche Kultur im Besonderen mit abendländischer Kultur gleichsetzt, erweist er sich als herausragender Vertreter des Zeitgeistes.

Ton und Inhalt seines Pamphlets sind kaum anders als der Aufruf, den 93 deutsche Professoren am 4. Oktober 1914 An die Kulturwelt richteten. Paradoxerweise musste dieser freilich mit "Appel au monde civilisé" und "To the civilized world" übersetzt werden, da sowohl den Franzosen wie den Engländern ein wertmäßiger Unterschied zwischen den Begriffen Kultur und Zivilisation nicht geläufig ist.

"Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen. Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist ... Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt."

Das germanische Abendland, das von der nordischen Rasse geprägt sei, war Bezugspunkt der nationalsozialistischen Weltanschauung. Ihm, so der Chefideologe Alfred Rosenberg, sei ein Ehrbegriff zu eigen, der sich über alle humanen Schwächlichkeiten hinwegsetze. "Hier walteten die urwüchsigen Rassentriebe ohne jede Bindung und Zucht, ungehemmt durch erzieherische Zweckmäßigkeitsüberlegungen oder genau bestimmte rechtliche Ordnung."

In Hitlers Mein Kampf wird abendländisch-europäische Kultur - alles "was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnissen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns sehen" - als ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers dekretiert. Gerade diese Tatsache aber lasse den nicht unbegründeten Rückschluss zu, "daß er allein der Begründer höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp dessen darstellt, was wir unter dem Wort 'Mensch' verstehen". Wenn man die Menschheit in drei Arten einteile, in Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer, "dann käme als Vertreter der ersten wohl nur der Arier in Frage. Von ihm stamme die Fundamente und Mauern aller menschlichen Schöpfungen und nur die äußere Form und Farbe sind bedingt durch die jeweiligen Charakterzüge der einzelnen Völker." Den "gewaltigsten Gegensatz" zum Arier bildet der Jude; er sei somit der Erzfeind abendländischer Kultur. "Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn"; er muss ausgemerzt werden, damit der "germanische Staat deutscher Nation" ewig, zunächst auf tausend Jahre (die dann auf zwölf Jahre zusammenschrumpften) weiter bestehe.


V.

Will man, pädagogisch gesehen, Humanismus und Geschichtskultur zusammenführen, bedarf es des Studiums der Kulturgeschichte. Gustav Heinemanns Aufforderung (1970 ausgesprochen), im Besonderen jenen Kräften Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die dafür gekämpft und dafür gelitten haben, dass das deutsche Volk heute politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten könne, lässt eine Beschäftigung mit dem gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und geistigen Verhältnissen der jeweiligen Zeiten als sinnvoll, Sinn gebend, erscheinen.

Als Hans Magnus Enzensberger vor ein paar Jahren, mehr beiläufig, die Feststellung traf, dass, da die Geschichte der Völker weitgehend geschrieben sei, man sich nun endlich der Geschichte der Leute zuwenden müsse, hat er eine heute sich immer mehr ausprägende Entwicklung vorweggenommen, die als "Sozialgegeschichtsschreibung von unten" das Hochglanzgeschichtsbild, auf Herrschaftsgeschichte ausgerichtet, zu konterkarieren vermag.

Konservatives Kulturbewusstsein dürfte sich durch eine solche Forderung irritiert und attackiert fühlen; zudem mag sich falscher Beifall von "links" einstellen. Dabei geht es weder um eine klassenkämpferisch unterlegte Geschichtsbetrachtung, noch um eine Romantisierung des Proletariats. Es geht aber auch nicht um eine verwaschene Position der Mitte, die jede Anstößigkeit zu vermeiden trachtet und somit keine (Denk-)Anstöße mehr vermittelt. Das "Einfühlen", hier in vergangene soziale und kulturelle Welten, fordert Parteinahme für die Subjekte und Objekte der Betrachtung. Es muss aber eine vielseitig und vielfältig sich engagierende Parteinahme sein, jenseits ideologischer Voreingenommenheit.

Das Anschauungsmaterial, das uns die Beschäftigung mit der Kulturgeschichte erschließt, ist unerschöpflich; es hat zudem den Vorteil, dass es, da es um Menschen geht, besonders zu berühren und zu "betreffen" vermag. Wenn Zeitgeschichte dem Humanen dienen will, muss sie vor allem dies tun (so Hartmut von Hentig): den noch lebenden Menschen soviel subjektive Erinnerung abfragen, wie sie herzugeben bereit und in der Lage sind. "Die Zeugnisse, Dokumente, Akten zwar studieren, aber ihnen systematisch mißtrauen; es sind 'Ablagerungen' von Bewußtsein, das es hier noch lebendig, sperrig, von Bildern erfüllt, mit Lust und Leid getränkt gibt; die Unstetheit der Wahrnehmung, der Urteile, der Selbstdeutung als kostbaren Stoff annehmen und aufheben und diesen nicht gleich auf eindeutige Ursachen, widerspruchslose Theoreme reduzieren; Wechselndes nicht immer in lineare Bewegung, sich Stoßendes nicht gleich in Gegensätze, einzelne Zustände nicht alsbald in historische Lagen verwandeln; immer wieder herausfinden wollen, was die Menschen tatsächlich von der 'Landschaft' sehen oder gesehen haben und was davon sie deshalb so sehen, weil sie die 'Landkarte' schon kennen."

Die unmittelbare Zuwendung zum Detail bewahrt Abstraktion vor Sterilität. Der "Wärmestrom" kann fließen, ohne dass er Reflexion überflutet.


VI.

Humanismus als Kern von Geschichte? Nein! Geschichte vermittelt weder Humanismus noch Kultur; empirisch gesehen ist sie - wie es William Shakespeare formulierte - "told by an idiot". In ihr eingeschrieben, gewissermaßen als Stolpersteine, sind freilich viele Beispiele großer humaner und kultureller Leistungen. Deshalb brauchen Gegenwart und Zukunft auch immer Herkunft.

Das Ganze der Geschichte jedoch erweist sich als Arsenal der menschlichen Unfähigkeit zu lernen, ist eine Landschaft der Abgründe, eine Abfolge von Regressionen. Geschichtskultur fordert stattdessen eine normative Beurteilung von Geschichte in Form einer radikalen Entscheidung für das human Heraus- und Hervorragende und damit die Absage an sogenannte Objektivität. Es geht um klare Entscheidung gegen das Gemeine, das freilich nicht klanglos in den Orkus hinab gehen darf; denn es ist Exempel für das, was nicht hätte sein dürfen.

Die Hoffnung bleibt, dass einmal Menschen als humane Wesen die Geschichte machen - trotzig wie Sisyphos.


ungeduldig
im namen der zufriedenen
verzweifeln

geduldig
im namen der verzweifelten
an der verzweiflung zweifeln

ungeduldig geduldig
im namen der unbelehrbaren
lehren

(Hans Magnus Enzensberger)


Angesichts der durch die Geschichte vermittelten Einsicht, dass die Humanisierung des Menschen ständig scheitert, der Mensch sich als Wolf des Menschen erweist (homo homini lupus), kommt es aufgrund der biotechnischen Revolution zu Visionen von Menschenzüchtung.

"Die nächsten langen Zeitspannen werden für die Menschheit Perioden der gattungspolitischen Entscheidung sein. In ihnen wird sich zeigen, ob es der Menschheit oder ihren kulturellen Hauptfraktionen gelingt, zumindest wirkungsvolle Verfahren der Selbstzähmung auf den Weg zu bringen. Auch in der Gegenwartskultur vollzieht sich der Titanenkampf zwischen den zähmenden und bestialisierenden Impulsen und ihren jeweiligen Medien. Schon Zähmungserfolge wären erfreuliche Uberraschungen angesichts eines Zivilisationsprozesses, in dem eine beispiellose Enthemmungswelle anscheinend unaufhaltsam rollt.

Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können - dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt." (Peter Sloterdijk)

Zur Würde des Menschen gehört es aberso bitter auch die Erkenntnis ist, dass sie ständig durch Menschen gefährdet ist dass diese nicht genetisch determiniert ist, sondern im mühseligen Prozess der Enkulturation ständig neu erworben werden muss.

Freies Denken steht im Aufstand gegen diejenigen, die Geschichte in dem Sinne instrumentalisieren, dass sie Historie als das unausweichliche Werden, jenseits von Vernunft und Moral interpretieren das Wirkliche zum Vernünftigen deklarieren. Geschichte verifiziert jedoch weder den Schillerschen noch den Hegelschen optimistischen Idealismus. Erst wenn der Mensch sich selbst in Vernunft begründet, den Mut aufbringt, seine Vernunft zu gebrauchen (sich seines eigenen Verstandes zu bedienen), mag ein Aufbegehren gegen Geschichte gelingen. Ganz konkret bedeutet dies eben, etwa an Schulen den Geschichtsunterricht durch das Studium der Kulturgeschichte zu ersetzen.

Geschichtskultur wäre dann so zu verstehen, dass in der Kulturgeschichte die humanen Leistungen der Menschen zum Vorschein kommen, die ansonsten durch Geschichte verdrängt, missachtet, unterdrückt werden. Das kann das tätige Bewusstsein von Humanität als dem ganz Anderen bestärken.

Wo Es als Wirkungsmacht der Geschichte wirkt, muss Ich zur Kraft humaner Selbstbestärkung werden. Als die Geschichte sich wieder einmal als katastrophaler Irrweg erwies, hat Sigmund Freud im Exil - und zwar 1939 - noch einmal im Rückgriff auf die wahre Natur des Menschen das Streben nach Kultur (als schwere Bürde, aber Notwendigkeit) begründet - sein Werk beschließend.

Damit der gelebte Augenblick uns und wir ihm gehören, ist es notwendig, einen ständigen Selbstaufklärungsprozess zu betreiben, der die Unbewusstheit in die Bewusstheit, das Es in das Ich zu erheben und jeder Individualität im Jetzt und Hier, ohne die Illusion von Transzendenz, eine "volle Existenz" zu gewährleisten vermag. Der Mensch will - darum kämpfte Freud - endlich er selber sein; das Unbesessene des Sich-Befindens und Daseins soll im Denken und durch Einsicht vermittelt und erhellt werden.

Dem eigenen jahrzehntelangen schweren Leiden abgerungen, die individuelle Angst bewältigend, die kollektive Furcht in ihren Wurzeln und Bedingtheiten deutend und damit zugleich relativierend. hatte Freud mit der ihm eignen, wenn auch rigoros-asketischen Mentalität die "Schönheit des Verweilens", eine glückliche Diesseitigkeit, seinem Leben zugrunde gelegt. Die Stimme der Vernunft ist leise, aber unüberhörbar - Geschichte bestätigt dies nicht, jedoch Kulturgeschichte.


Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.

(Bertolt Brecht)


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 20 - 2007, Seite 6-19
Hefte für Kultur und Weltanschauung
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"humanismus aktuell erscheint in der Regel zweimal im Jahr. Einzelpreis: 10,00 Euro Abo-Preis: 6,50 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2007