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GESELLSCHAFT/031: Bürgerrechtsbewegung für eine neue Sterbekultur? (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 92/2010 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Bürgerrechtsbewegung für eine neue Sterbekultur?

Von Gita Neumann


Die Autoren Boudewijn Chabot und Christian Walther lenken mit ihrer Neuerscheinung "Ausweg am Lebensende" die Aufmerksamkeit auf den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Trinken als Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebensendes.


Für hochbetagte, multimorbide oder schwerstpflegebedürftige Sterbewillige stellt sich das Problem, dass sie von Hospizangeboten nicht profitieren können - denn dazu ist eine tödliche Erkrankung wie Krebs im Finalstadium Voraussetzung. Sie werden in den Niederlanden die "vergessene Generation" genannt, für die es weder Sterbebegleitung noch Sterbehilfe gibt. Eine besondere Option speziell für diese Gruppe stellen Dr. Boudewijn Chabot und Dr. Christian Walther in ihrem Buch "Ausweg am Lebensende. Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken" vor. Chabot, Psychiater und Sozialwissenschaftler aus Haarlem (NL) hat in seiner Heimat große Aufmerksamkeit für die Methode des "Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit" (FVNF) geweckt. Nun möchte er gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Walther aus Marburg auch in Deutschland für dieses Thema sensibilisieren. Bei der Entscheidung, selbstbestimmt aus dem Leben scheiden zu wollen, liefert die Methode des FVNF eine humane, leicht zugängliche Möglichkeit, allerdings fordert sie den Betroffenen selbst einiges ab.

Diese Veröffentlichung wurde am 10. Juni 2010 im vollbesetzten Evangelischen Forum in München vorgestellt.


Autonomes Handeln ohne Medikamente

Schon in der Antike wurde diese natürliche Möglichkeit des selbstbestimmten Lebensendes beschrieben und wahrscheinlich wird dieser Weg des natürlichen Sterbens überall auf der Welt immer wieder von alten Menschen gegangen, auch wenn sie kaum noch willensfähig sind. Dass eine Zwangsernährung bei ablehnender Patientenverfügung gar nicht mehr in Frage kommt, auch wenn der betroffene Patient (noch) kein Sterbender ist, gilt heute in Deutschland als unstrittig. Im Zentrum steht vor allem - darin waren sich die Podiumsteilnehmer einig - der eigene Wille. Nach Ansicht Chabots solle niemand die Entscheidung und Regie über den eigenen Tod an die Ärzte delegieren. So sei der freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken, betonte der Psychiater, in erster Linie eine Option, die es jedem Menschen ermögliche, autonom zu handeln. Ein großer Vorteil sei weiterhin, dass man seine Entscheidung überdenken und sich jederzeit zum Weiterleben oder Hinauszögern entschließen könne. Die Methode böte die Chance der Entmedikalisierung und Entbürokratisierung selbstbestimmten Sterbens und mache unabhängig vom Erteilen des "Grünen Lichts".

FVNF ist wie jedes natürliche Sterben kaum frei von Beschwerden, lässt sich jedoch durch gute palliative Beratung (mit Zusage der Begleitung im Bedarfsfall) erträglich gestalten. Wer sicherstellen möchte, dass seine Angehörigen und Ärzte keine juristischen Schwierigkeiten bekommen, sollte seinen freien Patientenwillen eindeutig dokumentieren. Im Buch wird dazu der Fragebogen des HVD für eine Optimale Patientenverfügung empfohlen, welcher bereits seit 2009 auch die Option des FVNF vorsieht und dazu Aufklärung anbietet.

Damit Angehörige, Pflegekräfte und Ärzte ohne Sorge vor Ermittlungen diesen Weg betreuen können, empfehlen die Autoren des Buches, sie von der Garantenpflicht zu befreien (auch dies im Fragebogen des HVD bereits vorgesehen, das Buch liefert dazu ein eigenes Formular). Die Garantenpflicht verlangt, der Person, die man pflegt, jede nötige Hilfe angedeihen zu lassen, wie beispielsweise die Wiederbelebung bei Bewusstlosigkeit. Der Fürther Palliativmediziner und Hausarzt Dr. Hanke riet, die Wünsche der Kranken und Alten zu respektieren, jede Entscheidung individuell zu bewerten und nicht allzu viel Angst vor rechtlichen Folgen zu haben.


Zwischen Akzeptanz und Unterstützung

Die Akzeptanz der von Chabot vorgestellten FVNF-Methode war bei allen übrigen Podiumsteilnehmern einhellig. Ihre Rolle als konkrete Unterstützer müssen die jeweiligen Organisationen aber wohl noch suchen und finden. Elke Baezner, Präsidentin der DGHS, nahm aus dem Publikum heraus die Gelegenheit wahr, von einem "Skandal" zu sprechen, dass deutschen Ärzten nicht wie in der Schweiz das suizidtaugliche Medikament Natriumpentobarbital zur Verfügung stehe. Der ebenfalls im Publikum anwesende Ludwig Minelli, Chef der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas, hüllte sich dazu in Schweigen und stellte stattdessen die in seinen Augen höchst verwerfliche Rolle der Kirche in den Mittelpunkt. Die Schweizer Dignitas unterhält ein unzensiertes Forum auch zu dieser Suizidmöglichkeit des FVNF, was darauf hindeutet, dass Minelli das Heil nicht allein in der Abhängigkeit von Ärzten sieht, zumal diese für nicht tödlich erkrankte Suizidklienten immer weniger bereit sind, Natriumpentobarbital zu verschreiben.

Dr. Chabot und Dr. Walther legen viel Wert darauf, Patienten, Angehörigen, Pflegekräften und vor allem auch Ärzten Informationen über den medizinischen Verlauf (was passiert z.B. auf der Stoffwechselebene) sowie juristische, ethische und psychologische Aspekte anzubieten. Insbesondere das Kapitel zur notwendigen Pflege und zum Feuchthalten des Mundes enthält eine Reihe ganz praktischer Tipps und Produktinformationen - von Wasserzerstäuber bis Zitronenwattestäbchen. Es erinnert an die ersten Heftchen von Hospizinitiativen in den 1980er-Jahren zur häuslichen Sterbebegleitung, wo es etwa hieß: soundsoviel "Bettlaken und Handtücher bereitlegen, ggf. von Bekannten ausleihen".


Selbstbestimmter Zeitpunkt des Sterbens

Im hervorragenden Geleitwort zum "Ausweg am Lebensende" von dem Medizinethiker Dieter Birnbacher, Prof. für praktische Philosophie an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf, heißt es:

"...Die Mehrzahl der Menschen hat den Wunsch, zu Hause und im Kreis ihrer Nächsten zu sterben, aber oft ist dieser Wunsch nicht erfüllbar... Auch der Wunsch nach Selbstbestimmung am Lebensende stößt oft auf unüberwindliche Hindernisse, insbesondere dann, wenn ein Mensch den Zeitpunkt seines Sterbens, soweit es die Umstände zulassen, selbst bestimmen möchte und dafür auf fremde Hilfe angewiesen ist. Da in Deutschland die aktive Sterbehilfe rechtlich verboten ist und eine ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung als mit dem ärztlichen Ethos unvereinbar gilt, bleiben zur Verwirklichung dieses Wunsches nur begrenzte Möglichkeiten. Dazu gehören die Hoffnung, dass ein Verzicht auf weitere Behandlung und eine gute palliative Begleitung in einen sanften Tod einmünden; die Option einer einsamen und vielfach gewaltsamen Selbsttötung; und der belastende und oft würdelose Weg des 'Sterbetourismus'... In dieser Situation gewinnen Formen des Sterbens an Bedeutung, die einerseits dem Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Lebensende entgegenkommen, aber andererseits die Bereitschaft professioneller Helfer, die Wünsche Schwerkranker zu unterstützen, nicht überfordern.

Eine solche Form ist der in diesem Buch beschriebene Weg des selbstbestimmten Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit. Dieser Weg ist kein leichter und bequemer Weg... Aber dieser - in der Diskussion um die Sterbehilfe bisher vernachlässigte - Weg scheint wie kein anderer geeignet, das bei vielen älteren Menschen vorhandene Autonomiebedürfnis mit den Vorbehalten der Ärzte und der Gesellschaft gegen eine aktive Mitwirkung am Tod eines Menschen zu versöhnen..."


Neuerfindung einer entideologisierten Hospizbewegung

Das Niveau dieses (medizin-)ethischen Tiefsinns von Prof. Birnbacher kann allerdings im Buch selbst nicht überall gehalten werden. Einige Stellen erscheinen sogar im Sinne der deutschen Situation als bedenklich. So wird auf S. 43 eine "Intensive Schmerztherapie und palliative Sedierung" als eine von vier Möglichkeiten eines legalen "Auswegs" aufgeführt, den "Tod vorzeitig und auf humane Weise herbeizuführen". Jede absichtlich (!) herbeigeführte Leidensverkürzung - und sei es nur um wenige Tage - ist in Deutschland allerdings verboten und gilt strafrechtlich als Tötung auf Verlangen oder aus Mitleid. Im von Walther verantworteten Teil II wird dann allerdings speziell auf die deutsche Situation eingegangen. Der unterstützte Vollzug von freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit liegt phänomenologisch irgendwo zwischen Suizid und passiver Sterbehilfe. Kulturtheoretisch könnte man sagen, dass die Kluft, die seit alters her zwischen der antiken und der christlichen Auffassung vom guten Sterben bestand, hiermit überbrückbar würde.

Insofern erstaunt etwas die von Walther vorausgesetzte bzw. behauptete rechtliche Qualifizierung der neuen Sterbehilfeform FVNF als eindeutige "Selbsttötungshandlung" (S. 102), d.h. als aktiver Vollzug einer tödlichen Handlung mit der Tatherrschaft auf Seiten des Betroffenen. Das Buch ist im Geiste der größtmöglichen Absicherung und Nüchternheit geschrieben, jeglicher Überschwang ist ihm fremd. Und doch könnte es eine neue Bürgerrechtsbewegung für das selbstbestimmte Sterben zu Hause auslösen, frei von ideologischen Vorbehalten der in die Jahre gekommenen Hospizbewegung. Die Stärke des Buches sind die sehr leicht verständlichen Erklärungen, praktischen Hinweise und Fallgeschichten (letztere waren allerdings bereits im WOZZBuch "Wege zu einem humanen, selbstbestimmten Sterben" von 2007/2008 genauso nachzulesen). Nichts wird beschönigt oder verklärt. Das Münchener Publikum interessierte vor allem praktische Fragen, wie die nach zu erwartenden Beschwerden, insbesondere beim Verzicht auf Trinken und nach der Dauer. Unter der Voraussetzung einer so weitgehenden Aufklärung könnte die Begleitung von FVNF als eine Form des selbstbestimmten Sterbens wieder in die Kompetenz der Familien zurückverlagert werden.


Chabot/Walther:
Ausweg am Lebensende
Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht
auf Essen und Trinken
EV reinhardt


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 92 3/2010, S. 16-19
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2010