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GESELLSCHAFT/030: Wegweisendes Urteil in der Sterbehilfe-Debatte (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 92/2010 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

25. Juni 2010: wegweisendes Urteil in der Sterbehilfe-Debatte

Von Jacqueline Jencquel


Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hat ein wegweisendes Urteil in der Sterbehilfe-Debatte gefällt. Zum ersten Mal wird das am 1. September 2009 in Kraft getretene Patientenverfügungsgesetz in der Praxis angewendet. Der Wille des Patienten ist ausschlaggebend und hat vor jeder anderen Instanz den Vorrang.


Dies wurde von der Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) bestätigt. Sie verwies darauf, dass der Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen nun in Deutschland straffrei sei "auch unabhängig vom Eintritt der finalen Sterbephase". Ärzte, Betreuer und Pflegeheime müssten eine lebenserhaltende Maßnahme abbrechen, wenn dies dem Willen des Patienten entspreche.


Was ist geschehen?

Eine 76-jährige Patientin liegt nach einer Hirnblutung fünf Jahre lang im Wachkoma und wird im Pflegeheim künstlich ernährt. Eine Besserung des Gesundheitszustandes war nicht mehr zu erwarten. Die Tochter weiß, dass ihre Mutter eine solche Behandlung immer abgelehnt hat. Bevor sie aus dem Bett und dadurch ins Koma fiel, hatte sie dies mehrfach unter Zeugen wiederholt. Die Tochter hält Rücksprache mit dem Rechtsanwalt Dr. Putz, der ihr empfiehlt, den Schlauch für die Magensonde durchzuschneiden. Das Pflegeheim legt jedoch sofort eine neue Sonde, die Frau starb wenige Wochen später eines natürlichen Todes.

Das Landgericht Fulda verurteilte den Arzt wegen versuchten Totschlags zu neun Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Die Tochter wird freigesprochen, da sie sich aufgrund des Rates ihres Anwalts über das rechtliche Verbot der Sterbehilfe nicht im Klaren gewesen sei.

Dr. Putz, seit langem intensiv befasst mit Rechtsfragen rund um das Lebensende - mit Patientenverfügungen, Vorsorgevollmacht und Betreuung - und Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maximilians-Uni München für Medizinrecht und Medizinethik, legt Berufung ein und der Fall kommt nach Karlsruhe.

Ich hatte das Glück und die Ehre, als Vertreterin der französischen Organisation "Association pour le droit de mourir dans la dignitè", die sich für das Recht auf ein würdevolles Sterben einsetzt, diesem sehr bewegenden Gerichtsverfahren beizuwohnen und zu verfolgen, wie Staatsanwalt und der Anwalt des Beklagten der gleichen Meinung waren. Am Ende gab es Beifall für das kluge Urteil: Freispruch für Wolfgang Putz!


Jacqueline Jencquel ist Generalsekretärin des ADMD.

Mehr über den Prozess und seine gesellschaftlichen Auswirkungen:
http://www.patientenverfuegung.de/info-datenbank/2010-6-25/bgh-sterbehilfe-urteil-vom-25juni-2010


ÄRZTE ZUR SUIZIDBEIHILFE BEREIT

Jeder dritte deutsche Arzt kann sich vorstellen, Patienten beim Suizid zu helfen. Für jeden Vierten käme sogar aktive Sterbehilfe in Frage. Das ergab eine Umfrage des Allensbach-Instituts. Schon seit Ende 2009 liegen diese Ergebnisse vor. Die auftraggebende Bundesärztekammer hielt sie jedoch bis jetzt unter Verschluss, entspricht doch das Ergebnis keineswegs der angeblichen Weigerung innerhalb der deutschen Ärzteschaft, Schwerstkranke beim Sterben zu unterstützen.

Bundesärztekammerpräsident Hoppe zeigte in einem Interview mit dem "Spiegel"
(http://nachrichten.t-online.de/sterbehilfe-interview-mit-joerg-dietrich-hoppe/id_42331416/index)
erstmals Verständnis: "Wenn ein Arzt es ethisch mit sich vereinbaren kann, beim Suizid zu helfen, dann kann er dies unter heutigen Bedingungen schon tun... Es gibt Formen, in denen Ärzte ihren Patienten helfen können, ohne Angst haben zu müssen, bestraft zu werden - zum Beispiel durch die Ausstellung eines Rezepts..."

Hoppe stellte auch klar, dass die Ärzte nicht mehr mit standesrechtlichen Sanktionen zu rechnen hätten. Ärztlich assistierter Suizid ist damit der Gewissensentscheidung des Einzelnen freigegeben.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 92 3/2010, S. 15
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Internet: http://www.humanismus.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2010