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GESELLSCHAFT/022: Das Böckenförde-Diktum - im modernen Pluralismus noch tragfähig? (ha)


humanismus aktuell Heft 22 - Sommer 2008
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Das Böckenförde-Diktum - im modernen Pluralismus noch tragfähig?

Von Hartmut Kreß


Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland lautet Artikel 2 Absatz 1: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit". Dieser Satz ist nach der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 zu einem ideellen Kern der deutschen Demokratie geworden. Stellt man weltweit einen Vergleich unterschiedlicher Staatsverfassungen an, dann zeigt sich, dass das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung in keiner anderen Verfassung so nachdrücklich verankert ist wie in der deutschen. Historisch beruht dies darauf, dass bei den Beratungen zum Grundgesetz die Erfahrungen aus der NS-Diktatur aufgearbeitet worden waren.

Das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung wird lediglich durch die Schrankentrias eingegrenzt, die sich ebenfalls in Art. 2 Absatz 1 findet: Wenn der Einzelne sein Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung ausübt, dann darf er die Rechte anderer nicht verletzen. Er bleibt an die Verfassung gebunden und soll sich - wie es im 1949 verabschiedeten Verfassungstext heißt - am "Sittengesetz", d.h. am heute so genannten ordre public orientieren. Letzteres sind freilich unbestimmte Begriffe, denn das Sittengesetz oder der ordre public unterliegen dem geschichtlichen und kulturellen Wandel.

Der überragende Stellenwert, den das Selbstbestimmungsrecht für die Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland besitzt, tritt insbesondere dann zutage, wenn man sich vor Augen führt, dass es dem Grundgesetz zufolge nicht begründungspflichtig ist und keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, wenn der Einzelne sein Recht auf Selbstbestimmung aktiv in Anspruch nimmt. Statt dessen ist es begründungspflichtig, sofern von Seiten des Staates oder von anderer Seite erwogen wird, das individuelle Recht auf Selbstbestimmung ausnahmsweise einmal einzuschränken. [1] Seine Fundierung erhält das Freiheitsgrundrecht letztlich in der Menschenwürde selbst (Grundgesetz Art. 1).

Ohne den argumentativen Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und dem individuellen Selbstbestimmungsrecht an dieser Stelle ethisch, rechtlich, kulturgeschichtlich und philosophisch näher erläutern zu können, sei hervorgehoben, dass der Verfassung zufolge der Staat verpflichtet ist, das Recht auf Selbstbestimmung sowie die weiteren Freiheitsgrundrechte der Bürger, die sich in den Artikeln 2ff des Grundgesetzes finden, zu schützen und sie soziokulturell zu stabilisieren. [2]

Dieses Postulat gewinnt zusätzlich Bedeutung in Anbetracht des weltanschaulichen und religiösen Pluralismus und der Vielfalt individueller Lebensformen und persönlicher Sinnentwürfe, die heutzutage in der modernen oder auch postmodernen Gesellschaft anzutreffen sind. Der Pluralismus ist zum Dreh- und Angelpunkt geworden, an dem sich erweist, ob das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung als Verfassungsprinzip in der Verfassungswirklichkeit, d.h. im Alltag, tatsächlich umgesetzt werden kann.

Diese Überlegungen vorausgesetzt, sei nun das "Böckenförde-Diktum" beleuchtet. Manchmal wird der betreffende Satz des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde auch als "Böckenförde-Paradox" bezeichnet. Es stammt aus einem im Jahr 1964 ausgearbeiteten, 1967 publizierten Aufsatz und lautet: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." [3]

Dieser Satz wird oftmals formelhaft zitiert, ohne dass dabei der Kontext und die gedanklichen Einrahmungen genügend beachtet werden. Aus meiner Sicht wird er dem Verständnis von Freiheit, Selbstbestimmung und Pluralität, das in einer kulturell vielschichtigen Gesellschaft geboten und im weltanschaulich neutralen Staat angemessen ist, nicht mehr gerecht. Bevor ich dies darlege, sei vorab die Bedeutung des Diktums gewürdigt.


Die zwei Seiten des "Böckenförde-Diktums"

Die katholische Kirche, der Böckenförde eng verbunden ist, hatte im 19. und 20. Jahrhundert Demokratie, persönliche Freiheitsrechte, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, liberale Verfassungsgrundsätze und die Aufklärungsphilosophie immer wieder schroff verurteilt. Erst im Jahr 1965 hat sie auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit der neuzeitlichen Idee der Menschenwürde und den Freiheitsgrundrechten ihren Frieden gemacht und eine Öffnung ("aggiornamento") gegenüber der modernen Welt vorgenommen - eine Richtungsentscheidung, die seit den 1990er Jahren von den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. freilich in erheblichem Ausmaß zurückgenommen worden ist.

Böckenförde gehörte zu den katholischen Autoren, die vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil und in den Jahren danach den tradierten Antimodernismus und Anti-Liberalismus der katholischen Lehre kritisch diskutiert hatten. Seine Schriften negierten das neoscholastische Naturrecht und den abstrakten Wahrheits-, Geltungs- und Herrschaftsanspruch der katholischen Lehre; und er distanzierte sich von der katholischen Doktrin, der zufolge die dogmatische katholische Wahrheit den Vorrang besitze vor der Würde und der Freiheit der einzelnen Person. [4]

Den überfälligen Schritt, den die katholische Kirche im Jahr 1965 vollzog, indem sie die Menschenrechte, die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie den modernen postreligiösen, postkonfessionellen Verfassungsstaat formal akzeptierte, bezeichnete er dann emphatisch als innerkirchliche "kopernikanische Wende". [5] Das vielzitierte "Böckenförde-Diktum" empfahl der katholischen Kirche, es tatsächlich hinzunehmen, dass die Bürger eigene demokratische Freiheitsgrundrechte besitzen, und dass sich der moderne Staat von der Kirche, vom Kirchenrecht und vom kirchlichen Herrschaftsanspruch emanzipiert hat.

Neben diesem vorwärts weisenden Sinn enthält es aber noch einen anderen, nämlich einen gegenläufigen kirchlich-apologetischen Akzent, der oft übersehen wird. Denn es gab zu verstehen, dass Kirche und christlicher bzw. katholischer Glaube ihren Einfluss gar nicht verlieren würden, wenn die Kirche den freiheitlichen säkularen Staat anerkenne. Dieser gewinne seine Legitimation nämlich aus bestimmten externen Quellen, und zwar aus den "Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann"; dies sei "der religiöse Glaube" seiner Bürger. [6]

Dabei dachte Böckenförde, wie in seinen Schriften allenthalben deutlich wird, an den katholischen Glauben. Sein Argument lief darauf hinaus, das katholische Christentum könne den modernen säkularen Staat akzeptieren, da dieser nach wie vor von christlichen, katholischen Voraussetzungen abhängig bleibe.


Die homogene Gesellschaft - eine vormoderne Fiktion

Solche kirchlich-apologetischen Facetten des Böckenförde-Diktums fordern zu Einwänden heraus. Das Diktum bleibt vormodern, da es den modernen, zumal den aktuellen Pluralismus nicht im Blick hat. Im Kontext des Zitates wird nachdrücklich betont, dass in Staat und Gesellschaft "Homogenität" herrschen solle. Althergebracht sei es die Kirche mit ihrer Autorität gewesen, die die gesellschaftlich-staatliche Homogenität sichergestellt habe. Im 19. Jahrhundert sei dann ersatzweise der Gedanke der Nation Homogenität stiftend gewesen. Nach 1945 habe man kompensatorisch auf "Werte" rekurriert - was nicht tragfähig sei, weil hierdurch subjektiven Wertungen Vorschub geleistet werde. Statt dessen solle es nun wieder der christliche katholische Glaube sein, der die Homogenität in Staat und Gesellschaft gewährleiste, so dass er für den Staat nach wie vor unersetzbar und unverzichtbar sei. [7]

Es überrascht, dass Böckenförde das Ideal einer homogenen Gesellschaft sogar noch im Jahr 2004 unverändert aufrecht erhalten hat, als er seinen vier Jahrzehnte alten Aufsatz, der das "Böckenförde-Diktum" enthielt, neu herausgab und kommentierte. In einem späteren Beitrag aus dem Jahr 2006 sprach er dann ein wenig vorsichtiger von "relativer Homogenität" als Voraussetzung für Staat und Gesellschaft. Nach wie vor lag ihm daran, dass für die staatliche Ordnung "ein bestimmtes Wir-Gefühl vermittelndes einigendes Band" unerlässlich sei. [8]

Im Gegenzug ist festzuhalten, dass eine homogene Staats- und Gesellschaftsordnung zur Fiktion geworden ist. Man kann schon für die 1960er Jahre, d.h. für die damalige alte Bundesrepublik, in Abrede stellen, dass eine solche Homogenität überhaupt existierte. Unsere gegenwärtige Gesellschaft kann soziologisch keinesfalls mehr als homogen gedeutet werden. Kulturell, sozial, weltanschaulich und religiös haben sich so tiefgreifende Pluralisierungsschübe ereignet, dass Staat und Gesellschaft sich auf das Faktum kultureller Vielfalt und auf lebens- sowie weltanschauliche Dissense einzurichten haben.

Exemplarisch tritt dies an den Themen der Biomedizin - Fortpflanzungsmedizin, Sterbehilfe, Transplantationsmedizin o.a. - zutage. Die rechtspolitischen Auseinandersetzungen, die sich in Deutschland etwa an der humanen embryonalen Stammzellforschung entzünden, ließen sich schon vor mehreren Jahren mit einem neuen Kulturkampf vergleichen. [9] Ende 2006 und 2007 hat der Dissens zu dieser Forschung, der auf unterschiedliche konfessionelle, religiöse und weltanschauliche Vorgaben zurückzuführen ist, eine derartige Zuspitzung erlangt, dass sich die Charakterisierung als "Kulturkampf" nicht nur breit eingebürgert hat, sondern sie begrifflich sogar noch schroffer gefasst worden ist.

Der Generalsekretär des European Research Council in Brüssel und ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Ernst-Ludwig Winnacker schrieb am 07.02.2008 in der Zeitung Die Zeit, er beobachte in Deutschland "einen Kulturkampf, wenn nicht sogar einen Weltanschauungskrieg um die Verwendung sogenannter Stammzellen".

Darüber hinaus zeigt sich an der Sicht von Ehe, Familie und nichtehelichen Lebensformen, in welchem Maß in unserer Gesellschaft Differenzen und Dissens herrschen. Nun ist die Eskalation gesellschaftlicher sowie rechtspolitischer Kontroversen zum Kulturkampf oder Weltanschauungskrieg in der Biopolitik sehr zu bedauern, weil sie zu Lasten der Sachlichkeit stattfindet. Davon abgesehen ist das Faktum divergierender sittlicher Überzeugungen oder Lebensstile als solches aber durchaus nicht rein negativ zu bewerten. Hierauf wird noch zurückzukommen sein.

An dieser Stelle sei zunächst nur festgestellt, dass in Staat und Gesellschaft die "Homogenität", von der Böckenförde sprach, faktisch nicht vorhanden ist. Insofern das Böckenförde-Diktum davon ausging, der moderne säkulare Staat sei am Modell der Homogenität zu bemessen, hat es die Realität aus den Augen verloren.

Irritierend ist, dass Böckenförde seinen Gedanken im Jahr 2006 allerdings sogar nochmals bekräftigte und verstärkte, indem er darlegte, der Staat solle sich um der Homogenität willen nicht mehr säkular, sondern "postsäkular" begreifen.

Zu diesem Zweck könne und solle er sich jetzt wieder neu auf katholische Legitimierungen stützen. Dies sei deshalb möglich, weil die katholische Kirche im Jahr 1965 doch ihren Frieden mit Rechtsstaat und Demokratie gemacht habe. Durch die katholische Anerkennung der Menschenrechte, vor allem der Religions- und Gewissensfreiheit, seien "dem säkularisierten Staat neue und wirkkräftige Rechtfertigungen zugewachsen", so dass er sich künftig als religiös zu stabilisierender "postsäkularer" Staat deuten lasse. [10]

Aus kultur- und sozialethischer Sicht vermag dieser Gedankengang freilich nicht zu überzeugen. Da der Staat und die Rechtsordnung allen seinen Bürgerinnen und Bürgern gleicherweise verpflichtet ist, greifen Konstruktionen fehl, die - zumal in der Epoche gesteigerter weltanschaulich-religiöser Pluralität - eine partikulare Religion oder eine einzelne Konfession als legitimatorische Basis des Staates deuten.

Hinzu kommt, dass der "religiöse Glaube", den das Böckenförde-Diktum als Homogenität stiftende Ressource von Staat und Gesellschaft in Anspruch nimmt, seinerseits keinesfalls homogen ist. Zusätzlich zur Pluralität der unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen ist die Vielfalt in den einzelnen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen zu beachten. Das trifft sogar auf das katholische Christentum zu.

Sicherlich, der römische Katholizismus ist theoretisch so homogen angelegt wie sonst keine andere Konfession oder Religion. Denn für ihn gilt das Prinzip der Hierarchie und der verbindlichen Orientierung am zentralen päpstlichen Lehramt. Hierzu gibt es in anderen Religionen - sei es im Protestantismus, im Islam oder im Judentum - keine Parallele. Doch dem katholischen Kirchenrecht zum Trotz besitzt sogar das katholische Christentum eine erhebliche Binnenpluralität und stellt de facto kein monolithisches Gebilde dar.

Die Vorgaben, die das katholische Lehramt zu Ehe, Sexualität, Fortpflanzung oder Lebensformen postuliert, werden von den Mitgliedern der Kirche regelmäßig beiseite geschoben. [11] An der hohen kognitiven Dissonanz innerhalb des katholischen Christentums wird nochmals zusätzlich deutlich, dass das Böckenförde-Diktum, dem zufolge der religiöse Glaube der Bürger für den Staat - für den "säkularen", säkularisierten Staat (so Böckenförde im Jahr 1964) oder für den sogenannten postsäkularen Staat (so 2006) - Homogenität sichern könne, kein tragfähiges Fundament besitzt.


Keine konsequente Bejahung individueller Freiheit auf katholischer Seite

Es sind noch weitere Gründe, die gegenüber dem Böckenförde-Diktum Skepsis wecken. Zwar bejahte es den säkularen Staat und wies in den 1960er Jahren die anachronistische Vorstellung ab, der Staat stünde unter einem Weisungsrecht der Kirche. Böckenförde hat wiederholt bekräftigt, die katholische Kirche solle ihren alten Anspruch der potestas indirecta, also eines kirchlichen Weisungs- und Herrschaftsanspruchs über die staatliche Rechtsordnung, im 20. Jahrhundert aufgeben.

Im Jahr 2005 fügte er aber überraschend hinzu, die kirchliche Weisungskompetenz für weltliche Fragen sei "nicht einfach weg[gefallen]"; vielmehr sei sie "mutiert zu einer potestas directa gegenüber den eigenen Gläubigen". Hiermit bindet er die katholischen Gläubigen an die Aussagen der Kirche zu Dogma, Sitten- und Lebensordnung zurück, die sie dann ihrerseits in den Staat und die Gesellschaft hineinzutragen haben.

So gesehen soll die kirchliche dogmatische und moralische "Wahrheit" nicht mehr primär von der Kirche als Institution oder von kirchlichen Amtsträgern, sondern von den Gläubigen in die säkulare Gesellschaft und den Staat eingebracht werden, so dass sichergestellt wird, dass "diese Wahrheit nicht in Freiheit hinein verdampfen" wird. [12]

Die zitierten Worte, die nicht von einem katholischen Amtsträger, sondern von Böckenförde selbst stammen, fordern zum kritischen Kommentar heraus. Denn sie erhalten den Anspruch einer kirchlichen Deutungsmacht über die moderne Kultur weiterhin aufrecht - auf dem Umweg über die Gläubigen, die ihrerseits an das kirchliche Lehramt zurückverwiesen werden.

Auf diese Weise wird der alte katholische Anspruch des Integralismus in modifizierter Form erneuert. Dieser Neo-Integralismus trägt dem modernen Pluralismus und dem Leitbild individueller Freiheit und Selbstbestimmung, so wie es auf Kant zurückgeht und im Grundgesetz Artikel 2 Absatz 1 seinen Niederschlag gefunden hat, nicht hinreichend Rechnung.

Dies gilt umso mehr, als das Anliegen der katholischen Kirche, Staat und Gesellschaft sollten sich an katholischen Anschauungen orientieren, bei den eigenen Kirchenmitgliedern schwere Probleme erzeugt. In den zurückliegenden Jahren hat das römisch-katholische Lehramt immer wieder versucht, auf katholische Laien einzuwirken und vermittelt über sie auf die Gesamtgesellschaft Einfluss zu nehmen. In Südamerika, den USA, Australien und in europäischen Staaten wurden katholische Parlamentarier aufgefordert, zum Schwangerschaftsabbruch, zur Fortpflanzungsmedizin, zu rechtlichen Regelungen bezüglich Ehe, Familie und Partnerschaft oder im Blick auf Sterbehilfe nach den Vorgaben der Amtskirche abzustimmen. Andernfalls wurde ihnen Exkommunikation angedroht.

Dies war zum Beispiel 2007 in Australien bei den dortigen Parlamentsabstimmungen zur Stammzellforschung der Fall. Als Spanien gleichgeschlechtliche Partnerschaften rechtlich legalisierte, forderte Kardinal López Trujillo "städtische Angestellte katholischen Glaubens auf, sich zu weigern, homosexuelle Paare zu trauen, 'auch wenn sie dadurch ihre Stelle verlieren'." [13]

Oder: Katholischen Naturwissenschaftlern wurde 2006 angekündigt, sie liefen Gefahr, exkommuniziert zu werden, wenn sie in der humanen embryonalen Stammzellforschung tätig sind; und in der Katholischen Universität Löwen verstärkten sich 2007 die Befürchtungen, der Vatikan werde intervenieren und nun auch im belgischen Löwen die Schließung der dortigen - renommierten - reproduktionsmedizinischen Klinik durchsetzen. [14]

Die katholische Amtskirche übt auf ihre Angehörigen sogar Druck aus, damit diese sich innerkirchlich sowie extern in Wissenschaft, Gesellschaft und Staat im Sinn der amtlichen Lehre verhalten.

Nun kann dieser Sachverhalt aus der Sicht des protestantischen Christentums nur mit Befremden zur Kenntnis genommen werden. Denn der Protestantismus kennt keine zentrale kirchliche Lehrautorität, sondern hat statt dessen den hohen Stellenwert der individuellen Urteilsbildung und der persönlichen Gewissensfreiheit, d.h. die Unhintergehbarkeit und Unvertretbarkeit von Freiheit und Gewissen in den Mittelpunkt gerückt. [15]

Darüber hinaus lässt sich die Beeinträchtigung individueller Entscheidungsfreiheit durch Vorgaben der katholischen Kirche mit dem Freiheitsethos, das für die moderne Zivilgesellschaft und den demokratischen Staat unverzichtbar ist, nicht in Einklang bringen. Hieraus ergibt sich an Böckenförde die Rückfrage, warum er sein Diktum von solchen klerikalen, autoritativen Tendenzen nicht abgegrenzt hat. Sogar in dem Aufsatzband von 2004 fehlt eine Kritik an den Ansprüchen der katholischen Kirche auf Deutungs- und Weisungskompetenz zu ethischen Fragen.

Dies ist nochmals um so überraschender, als die katholische Kirche seit den 1990er Jahren die Vorgabe, der zufolge die Kirchenmitglieder bezüglich Glaube und Lebensführung an die kirchliche Lehre gebunden seien, kirchenamtlich und kirchenrechtlich weiter verschärft hat, unter anderem 1998 durch das päpstliche Dokument Ad tuendam fidem. [16]

Vor dem Hintergrund der verstärkten kirchlichen Weisungs- und Autoritätsansprüche zeichnet sich zur Zeit jedenfalls ab, dass zwischen der katholischen Kirche einerseits, der pluralen Gesellschaft bzw. der freiheitlichen säkularen Verfassungsordnung andererseits neues Konfliktpotential aufbricht. Im Kern werden sogar die Geltung und Gewährleistung von individuellen Grund- und Freiheitsrechten zum Konfliktherd. Nachfolgend wird hierzu noch ein konkretes Beispiel genannt. Einer der Schwachpunkte des Böckenförde-Diktums ist es, keinen Ansatz zu enthalten, wie mit solchen Grundrechtskonflikten zwischen dem säkularen freiheitlichen Staat und der katholischen Kirche umzugehen ist.


Kirchliche Vorgaben versus persönliche Selbstbestimmungsrechte - ein neuer Grundrechtskonflikt

Seit vielen Jahren spielt in der Bundesrepublik Deutschland rechtlich, rechtspolitisch und ethisch das Thema der Patientenverfügungen eine große Rolle. Zu erinnern ist an die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs, an die Voten verschiedener Kommissionen (z.B. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz 2004 oder Nationaler Ethikrat 2006) oder an die Empfehlungen des Deutschen Juristentages von 2006, die das persönliche Selbstbestimmungsrecht von Menschen betonen und daher die Geltung und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen einfordern. [17]

Anders äußerten sich der Vatikan und deutsche katholische Bischöfe - mit der Konsequenz, dass katholische Einrichtungen (Kliniken, Pflegeeinrichtungen) Patientenverfügungen unbeachtet lassen sollen, die für den Fall des lang andauernden, irreversiblen apallischen Syndroms den Abbruch der künstlichen Ernährung mit einer PEG-Sonde verlangen.

Es ist leicht vorstellbar, welche Probleme in katholischen Kliniken oder Pflegeeinrichtungen aufgrund solcher amtskirchlicher Vorgaben aufbrechen. Auch die in katholischen Häusern tätigen Ärzte und die Angehörigen sind oftmals der Meinung, dass der Wille des Patienten, der nicht mehr ansprechbar ist und der nach menschlichem Ermessen unrettbar verloren ist, geachtet werden muss. Der katholische Träger verweigert jedoch den Abbruch der künstlichen Ernährung, die das Leben durch einen invasiven Eingriff (PEG-Sonde) technisch verlängert.

An dieser Stelle liegt ein Grundrechtskonflikt vor, denn die ethisch-rechtliche Grundlage einer Patientenverfügung ist die Selbstbestimmung des aktuell nicht mehr äußerungsfähigen Patienten, die vom Grundgesetz in Art. 2 Absatz 1 geschützt wird. Im Gegenzug berufen sich katholisch getragene Kliniken oder Pflegeeinrichtungen, die die Patientenverfügung nicht berücksichtigen, ihrerseits auf die von ihnen als korporatives Grundrecht gedeutete Religionsfreiheit. In Einzelfällen haben staatliche Gerichte inzwischen - ganz zu Recht - zugunsten des individuellen Selbstbestimmungsrechtes entschieden. Im Nachbarland Österreich bahnen sich ähnliche Probleme an. [18]

Diese Konflikte beruhen darauf, dass die katholische Kirche das individuelle Selbstbestimmungsrecht von Menschen nicht hinreichend akzeptiert. Derartige Beobachtungen vergrößern den Zweifel an der Idee des Böckenförde-Diktums, eine "freiheitliche" säkulare Rechtsordnung könne und solle sich ausgerechnet auf die katholische Kirche bzw. auf den katholischen Glauben stützen.


Distanz gegenüber dem Pluralismus im Gefolge des Böckenförde-Diktums

Weitere Rückfragen ergeben sich aufgrund der Wirkungsgeschichte des Böckenförde-Diktums, welches sich teilweise verselbständigt hat und zu einem geflügelten Wort geworden ist. Große Resonanz erfuhr es in den vergangenen Jahren aufgrund des in der Tat bedrückenden Sachverhaltes, dass Staat und Politik einen hohen Legitimations- und Vertrauensverlust erlitten haben, die staatlichen Institutionen an Ansehen verloren haben und die Akzeptanz von Staat und Politik stark abgenommen hat.

Nun wäre es eigentlich die Aufgabe der praktischen Politik selbst, bei den Bürgern den Vertrauensverlust gegenüber Staat, Politik, Rechtsordnung und sozialen Sicherungssystemen, darunter dem Gesundheitssystem, wieder aufzufangen. Statt dessen ist oftmals allerdings eine andere Argumentationsebene gewählt worden, indem gesagt wurde, das Legitimationsdefizit des modernen säkularen Staates lasse sich durch einen erneuten Rückgriff auf Religion oder auf eine sogenannte Zivilreligion kompensieren.

Unter Berufung auf Böckenförde wurde zum Beispiel entfaltet, die Nennung Gottes in der Verfassung vermöge dem Staat neu Legitimation zuzuführen. [19] In den zurückliegenden Jahren wurde - wiederum in der Logik des Böckenförde-Diktums - vorgeschlagen, in einer künftigen EU-Verfassung den Namen Gottes zu nennen.

Eine legitimatorische Berufung des Staates auf Gott ist jedoch aus einer Mehrzahl von Gründen abzulehnen - erstens aus einem theologischen Grund: Wenn man theologisch den Gedanken der Unerkennbarkeit und der Unverfügbarkeit Gottes ernst nimmt, kann es nicht überzeugen, den Namen Gottes für den Zweck der Legitimation des Staates zu instrumentalisieren und zu funktionalisieren.

Zweitens: Kulturgeschichtlich haben religiöse Legitimationen des Staates immer wieder zu einer problematischen Überhöhung des jeweils bestehenden Staates geführt - bis hin zur Symbiose von Thron und Altar im 19. Jahrhundert, die vom deutschen Luthertum gestützt worden war.

Davon abgesehen bleibt - drittens - unklar, in welchem Sinn überhaupt von "Gott" die Rede ist, wenn man ihn in einer Verfassung erwähnt. Bei den Beratungen des Grundgesetzes 1949 war zwar von unterschiedlichen Stimmen (Carlo Schmid, Theodor Heuß, Adolf Süsterhenn) klargestellt worden, dass keinesfalls exklusiv ein bestimmter christlicher Gottesbegriff gemeint sei, so dass andere Religionen nicht ausgegrenzt werden sollten.

Doch in neuerer Zeit spielt eine solche Vereinseitigung durchaus eine Rolle. In der gleichen vereinseitigenden Tendenz liegt es, dass in den letzten Jahren katholische Juristen [20], Theologen [21] und Kirchenvertreter geäußert haben, die Menschenwürde lasse sich "nur" christlich begründen.

Nun ist zwar zu betonen, dass die christliche Tradition wegweisende Impulse zur Würde des Menschseins enthält, etwa die Deutung von Freiheit und menschlicher Würde in der mittelalterlichen christlichen Philosophie. [22] Andererseits ist es geistesgeschichtlich aber unzutreffend und in Anbetracht des gesellschaftlichen Pluralismus sowie der weltanschaulichen Neutralität des Staates unangemessen, die Menschenwürde exklusiv im Christentum verankern zu wollen. Dies blendet den Deutungshorizont derjenigen Menschen und Bevölkerungsgruppen ab, die sich selbst nicht als christlich verstehen.

Und was speziell die Nennung Gottes in Verfassungsdokumenten anbelangt: Wenn man in den EU-Verfassungsvertragsentwurf eine solche nominatio dei hineingeschrieben hätte, wäre ein antipluralistisches Signal gesetzt und das Selbstverständnis namentlich der konfessionslosen, nichtreligiösen Mitbürger beiseite geschoben worden.

Statt dessen hat in den EU-Verfassungsentwurf von 2003 sowie in den Lissabon-Vertrag von 2007 eine alternative Formulierung Eingang gefunden, die geistesgeschichtlich, verfassungspolitisch und soziokulturell sachgemäß ist. Sie rekurriert auf die Pluralität der kulturellen, religiösen, philosophischen und humanistischen Traditionen, von denen Europa geprägt ist.

Beispielgebend ist ferner das neue SPD-Grundsatzprogramm vom November 2007. Es erwähnt als geistige Bezugspunkte dieser Partei neben den genuin sozialdemokratischen und den jüdisch-christlichen oder philosophischen Wurzeln sogar das Erbe Europas in der arabischen Kultur. [23] Solche weit gefassten Formulierungen sind wegweisend, weil sie die Exklusionen, die Ausgrenzungen und antipluralen Engführungen überwinden, für die das Böckenförde-Diktum anfällig ist.


Gehört nur die Religion zu den "Voraussetzungen" von Staat und Gesellschaft?

Zusätzlich ist auf eine andere Engführung aufmerksam zu machen. Das Böckenförde-Diktum lässt unerwähnt, ja es lenkt davon ab, dass der moderne Staat und die freiheitliche Gesellschaft in hohem Maß von Kunst und Kultur, von Medizin, Wissenschaft und Bildung abhängen. So sollte nicht unterschätzt werden, in welchem Maß die Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts unser Menschenbild und das Gesellschaftssystem geprägt hat.

Die moderne Medikalisierung des Menschseins und der Gesellschaft hat Schattenseiten; sie hat aber auch zu humanem Fortschritt geführt. Hierzu ist nur an die Senkung der Kindersterblichkeit oder aktuell an die Möglichkeit der Schmerztherapie oder an die palliative Medizin zu erinnern. Die Prägekraft, die Medizin, Wissenschaft, Forschung und Bildung für die Gesellschaft besitzen, und der Sachverhalt, dass die Zukunftsfähigkeit von Kultur und Gesellschaft weitgehend vom wissenschaftlichen Fortschritt und von einer Verbesserung der Bildungsstandards abhängen, werden in Öffentlichkeit und Politik nach wie vor zu wenig beachtet.

Auch das Böckenförde-Diktum greift in dieser Hinsicht zu kurz. Würde man an das Diktum nach wie vor anknüpfen wollen, dann müsste man es auf jeden Fall entgrenzen und ausweiten. Dem Diktum ist darin zuzustimmen, dass Staat und Politik nicht selbstlegitimatorisch, rein aus sich selbst heraus zu begreifen sind, und dass sie nicht einfach eigenen Gesetzen folgen dürfen.

Aber es ist explizit zu berücksichtigen, dass der säkulare freiheitliche Staat keineswegs nur von religiösen, sondern darüber hinaus von anderweitigen kulturellen, medizinischen, natur- und geisteswissenschaftlichen Voraussetzungen zehrt und profitiert. Das Böckenförde-Diktum nimmt dies nicht in den Blick, da es zu einseitig auf religiöse, im Kern auf katholische Hintergründe des Staates fokussiert ist.


Anstelle des Böckenförde-Diktums: Kultur der Toleranz in der wertpluralen Gesellschaft als Leitbild

So gesehen führt das Diktum sogar in verschiedener Hinsicht zu Engführungen. Im Gegenzug sind - wie gesagt - Entgrenzungen und Ausweitung vonnöten. Hierzu gehört die Einsicht, dass sich in einer pluralistischen Gesellschaft das Selbstbestimmungsrecht der Menschen letztlich nur im Rahmen wechselseitiger Toleranz verwirklichen lässt. Die Koexistenz oder Konvivenz von Menschen mit unterschiedlichen christlichen, sonstigen religiösen oder nichtreligiösen Überzeugungen gelingt vor allem dann, wenn die Einstellungen und Entscheidungen der jeweils anderen akzeptiert werden.

Für den freiheitlichen säkularisierten Staat und die weltanschaulich pluralistische, d.h. wertplurale Gesellschaft gewinnt die Idee der Toleranz zunehmend eine Schlüsselfunktion. Nun hat auch Böckenförde Toleranz eingefordert. Dies geschah allerdings nur in eingegrenzter Weise, nämlich in Hinsicht auf die formale staatliche Gewährleistung von Religionsfreiheit (womit die Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit der Sache nach mitgemeint war). Böckenförde nannte dies: "prinzipielle Toleranz". [24] Ihr zufolge sind die verschiedenen Überzeugungen der Menschen und damit auch die Lebens- oder Weltanschauung von Minderheiten, die von derjenigen der Mehrheit abweicht, von der Mehrheit hinzunehmen.

Auf Dauer reicht in einer religiös pluralen bzw. wertpluralen Gesellschaft diese schwache Version der Toleranz, die auf der rechtlichen Garantie der Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit basiert, freilich nicht aus. Für ein gedeihliches Funktionieren der Gesellschaft ist sie notwendig, aber nicht hinreichend.

Damit die Koexistenz oder Konvivenz von Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen tatsächlich gelingt, kommt viel darauf an, dass die rechtlich gewährleistete Religions-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit alltagsweltlich im Sinn einer dialogischen und inhaltlichen Toleranz ausgestaltet wird. Diese bedeutet, dass Menschen einander auf gleicher Augenhöhe begegnen und zur Reziprozität, zum inhaltlichen Dialog und gegebenenfalls auch zur Revision eigener Überzeugungen bereit sind. Eine solche gesteigerte Form von Toleranz lässt sich allerdings nicht rechtlich einfordern; vielmehr betrifft sie das persönliche Ethos, die Werthaltung der Bürgerinnen und Bürger.

Nun fällt jedoch auf, dass Böckenförde überhaupt nur die rechtliche Seite der Toleranz ansprach, indem er hervorhob, der Staat habe die Religionsfreiheit formal rechtlich abzusichern. An der weitergehenden ethischen Dimension der Toleranz, nämlich am anspruchsvollen Leitbild einer dialogischen oder inhaltlichen Toleranz, zeigte er in seinen einschlägigen Schriften kein Interesse.

Ja deutlicher noch: Er legte Wert darauf, dass aus katholischer Sicht die sittliche Pflicht bestehe, allein die katholische Wahrheit "zu suchen und an ihr festzuhalten". [25] Den Gedanken, dass Menschen sich zu welt- und lebensanschaulichen Fragen innerlich auch einmal auf neue Argumente oder andere Zugangsweisen einlassen und sich hiervon bereichern lassen können, schob er beiseite.

Auf diese Weise bleibt die Idee der Toleranz bei ihm insgesamt unterbestimmt. Denn erst die dialogische Toleranz eröffnet die Chance, dass es zwischen den einzelnen Menschen und den Bevölkerungsgruppen, den verschiedenen Milieus zur wechselseitigen Kenntnisnahme und Bereicherung, zum "enrichment" kommt, von dem die Vereinten Nationen anlässlich des von ihnen proklamierten Jahres der Toleranz 1995 sprachen. Die kulturelle Bedeutung einer solchen inhaltlichen, dialogischen oder aktiven Toleranz ist zweifellos hoch einzuschätzen. [26]

Zu zahlreichen Fragen der Moral und der Lebensanschauung, zum Umgang mit Gesundheit, Krankheit und Sterben sind in der heutigen wertepluralen Gesellschaft voneinander abweichende Auffassungen anzutreffen. Diese Vielfalt sollte man nicht beklagen und schon gar nicht als Ausdruck eines Werteverfalls interpretieren - im Gegenteil. Die Pluralität moralischer Positionen und ethischer Perspektiven, die sich inzwischen ausgeprägt hat, bietet die Gelegenheit, dass Menschen sich im Sinn der aktiven und dialogischen Toleranz darum bemühen, ihre Argumente zu kommunizieren. Hierdurch können ethische Einschätzungen präzisiert und gegebenenfalls revidiert werden. Im besten Fall kommen tragfähigere Einsichten und kommt ein ethischer Fortschritt zustande, der allen nutzt.

Dabei wird nicht in Abrede gestellt, dass gegebenenfalls Grenzen der Toleranz - auch der rechtlichen Toleranz - zu durchdenken, zu definieren und durchzusetzen sind, da der Rechtsstaat Verletzungen von Menschenwürde und Menschenrechten nicht hinnehmen darf. Im Kern gilt aber, dass in der wertpluralen Kultur die Stärkung rechtlicher sowie ethischer, dialogischer Toleranz zum Gebot der Stunde geworden ist. Dies setzt voraus, anderen Menschen fair und unvoreingenommen zu begegnen und Pauschalurteile zu vermeiden.


Aktuelle Fragestellungen

Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass sich bei Böckenförde selbst sogar problematische Pauschalisierungen finden, und zwar im Blick auf islamische Mitbürger. Ungeachtet des islamischen Binnenpluralismus, der soziokulturellen Differenzierungen und der Reformanstrengungen im Islam sowie der quantitativen Dimension (eine Minderheit von ca. drei Millionen Menschen) sagte er "dem Islam", von dem er plakativ im Singular spricht, in einer verschwommenen Formulierung das Streben nach, in Deutschland zur Mehrheit werden und Grundrechte außer Kraft setzen zu wollen.

Seine Schlussfolgerung lautet, der Staat müsse gegebenenfalls dafür sorgen, dass "diese Religion bzw. ihre Anhänger" nicht zur Mehrheitsreligion werde. Als Ansatz für staatliche Restriktionen nennt er "entsprechende politische Gestaltungen im Bereich von Freizügigkeit, Migration und Einbürgerung." [27]

Im Unterschied zu einem solchen Gestus der Ausgrenzung läuft das Leitbild der dialogischen Toleranz darauf hinaus, wechselseitiges Verständnis zu fördern - zum Beispiel durch Bildungsinitiativen oder durch die Unterstützung interkultureller Projekte oder dadurch, dass in staatliche Kommissionen, in Gremien der Politikberatung und in Ethikgremien Mitglieder berufen werden, die die unterschiedlichen kulturellen, religiösen sowie weltanschaulichen Strömungen repräsentieren, welche in Deutschland faktisch anzutreffen sind. Letzteres ist bislang durchweg nicht beachtet worden, z. B. auch nicht bei der Zusammensetzung des Deutschen Ethikrates im Februar 2008.

In einem Seitenblick sei angemerkt, dass sich ein höheres Maß an Toleranz künftig in mehrfacher Hinsicht wird ausprägen müssen. Dies betrifft gleichfalls etwa die Forschungs- und Gesundheitspolitik. Es wird sich nicht aufrecht erhalten lassen, in der Bundesrepublik Deutschland stärker als in anderen Staaten auf Restriktionen zu setzen und zum Beispiel die Lebendspende von Organen oder die humane embryonale Stammzellforschung so weitgehend zu beschneiden wie bislang oder die Präimplantationsdiagnostik faktisch zu verbieten.

Im 16. Jahrhundert war auf dem Augsburger Religionsfrieden (1555) ein ius emigrandi zugestanden worden: Derjenige, der anderer Konfession war als sein Landesherr, durfte auswandern. Heute ereignet sich die Abwanderung von Naturwissenschaftlern ins Ausland oder - etwa in der Fortpflanzungsmedizin - ein Patiententourismus, weil im Inland Verbotsnormen vorherrschen. Wegweisend wäre es, im Inland rechtlich toleranter zu werden, so dass die einzelnen Bürger - Naturwissenschaftler, Ärzte, Patienten - über ihr Handeln so weitgehend wie möglich eigenverantwortlich entscheiden dürfen.

Dies entspräche der Logik des Grundrechts auf Freiheit und Selbstbestimmung (Grundgesetz Artikel 2 Absatz 1) sowie anderer Grundrechtsartikel, darunter Artikel 5 Absatz 3 (Freiheit von Forschung und Wissenschaft). Stellvertretend für andere Stimmen sei auf die Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz hingewiesen, die die Notwendigkeit eines angemessenen Toleranzspielraums speziell für den Umgang mit Stammzellforschung und Fortpflanzungsmedizin geltend gemacht hat: "Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren, darf sich die Rechtsordnung nicht die restriktivste moralisch-religiöse Position zu eigen machen. Vielmehr steht der Gesetzgeber in der Pflicht, einen gesamtgesellschaftlich tragbaren Handlungsrahmen zu schaffen." [28]

Man könnte in diesem Zusammenhang auch die Überlegung des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt rezipieren, der Staat und Politik funktional in der Rolle eines Wertenotars deutete und festhielt, dass "die Rechtsordnung einen Wandel des tatsächlich vorhandenen Ethos berücksichtigen" muss. [29] Diese nüchterne Sicht nimmt die Dynamik des zivilgesellschaftlichen Wertewandels ernst, die bei Böckenförde zu nachrangig gewichtet wird, und ist darin sachgerecht, dass sie die Legitimation des Staates aus seiner Bindung an die verschiedenen Grundrechte und nicht aus einem partikularen religiösen Glauben ableitet.


Fazit: Toleranz als Verfassungsvoraussetzung anstelle einer quasi-religiösen Staatslegitimierung

Abschließend ist festzuhalten, dass das Böckenförde-Diktum vor etwa vierzig Jahren darin seinen Sinn besaß, die katholische Kirche zu ermutigen, sich geistig auf den modernen freiheitlichen Verfassungsstaat einzulassen. Andererseits verleitet es zu Vereinseitigungen und zu Engführungen.

Dem heutigen Pluralismus und der Herausforderung für Staat und Gesellschaft, sich auf weltanschaulich-religiöse Differenzen und Dissense einzustellen, trägt es nicht hinreichend Rechnung. Daher sollte der freiheitliche säkulare Staat am Grundgesetz selbst und namentlich an Artikel 2 Absatz 1 "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" - sein Maß nehmen. Aufgrund des Verweisungszusammenhangs zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und der Toleranzidee ist hinzuzufügen, dass die Toleranz im Grundgesetz zwar kein Verfassungsprinzip und keinen expliziten Verfassungssatz, aber eine Verfassungsvoraussetzung darstellt. [30]

Dies gilt in der heterogenen, wertepluralen Gesellschaft mehr denn je. Um der Konvivenz der Menschen und des Gemeinwohls willen sollte der Staat deshalb "Toleranzvorsorge" (W. Hassemer) praktizieren, d.h. sich um die soziokulturelle Stabilisierung einer Kultur der inhaltlichen Toleranz und des Dialogs bemühen, zum Beispiel mit Hilfe der Bildungspolitik. Im Böckenförde-Diktum bleibt dieser Sachverhalt, dass die heutige freiheitliche Gesellschaft auf ein hohes Niveau der Toleranz angewiesen ist, hingegen unterbelichtet.

Daher ist es an der Zeit, das Diktum zu entgrenzen, ja es hinter sich zu lassen. Der moderne säkulare Staat findet seine Legitimität und Stabilität nicht mehr dadurch, dass er sich auf partikulare religiöse oder bestimmte metaphysische Voraussetzungen stützt. Statt dessen gewinnt er Akzeptanz und Legitimation wesentlich deshalb, weil er weltanschaulich ungebunden und neutral ist.

Auf dieser Basis ist er verpflichtet, die vielfältigen Überzeugungen der Menschen zu achten, die Grundrechte zu schützen und den einzelnen Menschen sowie ihren Religionen, Lebens- oder Weltanschauungen ein möglichst hohes Maß an Entfaltungs- sowie eigenverantworteten Entscheidungsspielräumen zu eröffnen.


Anmerkungen

[1] Vgl. Ingo von Münch: Staatsrecht II, Stuttgart 5. Aufl. 2002, S.183ff.

[2] Vgl. Friedhelm Hufen: Staatsrecht II. Grundrechte. München 2007, S.54f.

[3] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation In. Ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957-2002, Münster 2004, S.213-230, hier S.229.

[4] Vgl. Böckenförde: Die Entstehung, S.201ff, 230ff

[5] Böckenförde: Die Entstehung, S.195, im Anschluss an J. Isensee.

[6] Böckenförde: Die Entstehung, S.229, 230.

[7] Böckenförde: Die Entstehung, S.228ff.

[8] E.-W. Böckenförde: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert. Carl Friedrich von Siemens Stiftung München 2006, S.25.

[9] Vgl. Hartmut Kreß: Medizinische Ethik. Stuttgart 2003, S.11.

[10] Böckenförde: Der säkularisierte Staat, S.24, vgl. S. 16-23.

[11] Vgl. bereits Franz-Xaver Kaufmann: Theologie in soziologischer Sicht. Freiburg i.Br. 1973.

[12] E.-W. Böckenförde: So ist Autonomie nicht gemeint. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.04.2005, S.42.

[13] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.05.2005, S.48.

[14] Einzelnachweise vgl. H. Kreß: Ab wann ist der Embryo ein Mensch? In: Klaus Diedrich u.a. (Hg.), Reproduktionsmedizin in Klinik und Forschung, Nova Acta Leopoldina NF Bd. 96 Nr. 354, Halle 2007, 49-70, hier 51ff, oder Ders., Medizinische Ethik, 2. Aufl., erscheint voraussichtlich im Herbst 2008.

[15] Klassisch hierzu Karl Holl: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I. Luther, Tübingen 6. Aufl. 1932, S.35. - Vgl. H. Kreß: Art. Gewissen. In: Werner Heun u.a. (Hg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe 2006, S.822ff.

[16] Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger u. Norbert Witsch: Art. Lehramt, kath. In: Axel Frhr. v Campenhausen u.a. (Hg.), Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. II, Paderborn 2002, S. 713-718.

[17] Vgl. z.B. die Beiträge in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 45/2006, H. 3: Sterben und Selbstbestimmung. - Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Die Freiheit zu sterben. Berlin 2007.

[18] Vgl. H. Kreß: Patientenverfügungen und das Recht auf Selbstbestimmung. In: Ulrich H.J. Körtner u.a. (Hg.), Lebensanfang und Lebensende in den Weltreligionen, Neukirchen-Vluyn 2006, S.95-114. - Zur Problematik in katholisch getragenen Einrichtungen bes. S.103ff - H.J. Körtner: Patientenverfügungen in der theologischen Diskussion. In: Ders. u.a. (Hg.), Das österreichische Patientenverfügungsgesetz, Wien u. New York 2007, S.20-31, hier S.22f.

[19] Vgl. z.B. Hermann Lübbe: Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität, in: Heinz Kleger u. Alois Müller (Hg.), Die Religion des Bürgers, Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986, S.195-220, bes. S.199, 206f.

[20] Vgl. Josef Isensee: Menschenwürde. Die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten. In: Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 131, 2006, S.173-218.

[21] Vgl. Wilfried Härle: Der Mensch in der Vielfalt seiner Beziehungen. Die Orientierungsleistung des christlichen Menschenbildes. In: Forschung & Lehre 2001, S.522f.

[22] Vgl. Theo Kobusch: Person und Freiheit. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik 50 / 2006, S.7-20.

[23] Vgl. Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 2007, H. 11, S.48f (Gespräch der Redaktion mit dem Vf. dieses Aufsatzes über "Religion und Politik").

[24] Böckenförde: Die Entstehung, S.207.

[25] Böckenförde: Die Entstehung, S.238, vgl. S.231 Anm. 1, S.237ff.

[26] Ausführlicher vgl. H. Kreß: Religionsfreiheit und Toleranz als Leitbild. In: Ders. (Hg.), Religionsfreiheit als Leitbild. Staatskirchenrecht in Deutschland und Europa im Prozess der Reform, Münster 2004, S.21-58. - Ders.: Toleranz als Chance zum enrichment. Die Notwendigkeit der Überwindung eines asymmetrischen Toleranzbegriffs, in: ethica 12 (2004), S.197-201.

[27] Böckenförde: Der säkularisierte Staat, S.39, vgl. S.37f. - Eine neuere empirische Studie, die versachlichend wirken kann: Katrin Brettfeld u. Peter Wetzels: Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt, Hamburg Juli 2007, hg. vom Bundesministerium des Innern. Die Studie lässt sich über www.bmi.bund.de als pdf-Dokument herunterladen oder beim Publikationsversand der Bundesregierung bestellen.

[28] Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz / Ministerium der Justiz, Fortpflanzungsmedizin und Embryonenschutz, 12. Dezember 2005, S.12, S.47 (2. Teil, Ethik, These 2), im internet über www.justiz.rlp.de, danach "Ministerium" und "Bioethik". - Vgl. hierzu H. Kreß: Embryonenstatus und Gesundheitsschutz. Reformbedarf im Rahmen eines umfassenden Fortpflanzungsmedizin- und Stammzellgesetzes, in: Jahrbuch für Recht und Ethik Bd. 15, Berlin 2007, S.23-50.

[29] Schmidt: Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft. In: Günter Gorschenek (Hg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, 1977, S.13-28, hier S.21.

[30] Vgl. Winfried Hassemer: Religiöse Toleranz im Rechtsstaat. München 2004, S.51, S.49. - Zum folgenden vgl. auch Christoph Enders: Toleranz als Rechtsprinzip? In: Ders. u. Michael Kahlo (Hg.), Toleranz als Ordnungsprinzip? Paderborn 2007, S.243-265, bes. S.255 - Vgl. auch Hermann Weber: Zurückhaltende Abwehr, fürsorgliche Belagerung oder hereinnehmende Neutralität? Die Rechtslage des Islam in den unterschiedlichen europäischen Staaten. In: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 52 / 2007, S.354-399, bes. S.397ff.


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 22 - Sommer 2008, Seite 7-19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2008