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FRAGEN/002: Wir Ärzte müssen lernen, Sterben zuzulassen (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 91/2010 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Wir Ärzte müssen lernen, Sterben zuzulassen

Von Patricia Block


Dr. Michael de Ridder, Chefarzt der Rettungsstelle am Berliner Urban-Krankenhaus, stellte im Frühjahr auf der Leipziger Buchmesse sein aufrüttelndes Buch "Wie wollen wir sterben?" vor, dass die Würde des Menschen und sein Recht auf Selbstbestimmung auch am Lebensende in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt.


DIESSEITS: Herr de Ridder, Sie sind Leiter einer Rettungsstelle, müssen täglich Leben retten. Wie kommt es, dass Sie jetzt ein Buch vorlegen, das sich gegen eine Lebensverlängerung um jeden Preis ausspricht?

DE RIDDER: Das Buch ist ja nicht von jetzt auf gleich entstanden, es war lange geplant. Ich habe Tagebuch geführt, ich habe viele Patientengeschichten aufgeschrieben. Ich bin während meiner gesamten Berufslaufbahn, darunter 15 Jahre Notarztwagen, 6 Jahre Intensivstation, immer wieder mit dem Thema Lebensende und wie es ärztlich zu bewältigen ist, in Berührung gekommen. Sukzessive wurde diese Frage zum Schwerpunkt meiner Arbeit. Ich habe gemerkt, welch großer Bedarf besteht, dass viele Ärzte sich nicht auskennen, weder in den ethischen noch in den rechtlichen Fragen, die das Lebensende betreffen. Hier ist es längst überfällig, Verantwortung zu übernehmen. Ich tue das mit diesem Buch.

DIESSEITS: Die Möglichkeiten der Hochleistungsmedizin stellen Mediziner vor Entscheidungen über Sterbenlassen oder Reanimation. Sind die Ärzte auf solche Entscheidungsfragen gut genug vorbereitet?

DE RIDDER: Manche sind gut vorbereitet, weil sie sich befasst haben mit dem Problem. Die Jüngeren, die jetzt von den Universitäten kommen, sind auf dem Gebiet der Palliativmedizin oder zu Patientenverfügungen nicht ausgebildet. Sie wissen nicht, wann eine lebenserhaltende Behandlung indiziert ist und wann nicht. Dieser alles entscheidenden Frage müssen wir uns immer häufiger stellen, weil wir immer mehr Menschen haben, die im hohen Alter in schwierigste Situationen kommen. Ich muss mich dann fragen, ob meine Behandlung als Arzt noch eine sinnvolle Lebenserhaltung oder mehr eine qualvolle Sterbeverzögerung ist. Wenn sich das ärztliche Bewusstsein dafür sensibilisiert, würde das viel Unglück am Lebensende verhindern.

Man kann nur hoffen, dass das neue Patientenverfügungsgesetz aus dem letzten Jahr dazu beitragen wird, dass sich Ärzte mehr damit befassen. Ganz deutlich gesagt, ärztliches Handeln hat immer auch eine verfassungsrechtliche Dimension, wenn man die unberücksichtigt lässt, läuft man Gefahr, erhebliche Fehler zu machen.

DIESSEITS: Wie kann man diesen Entscheidungsdruck von den Ärzten nehmen? Gibt es objektive Entscheidungskriterien, in welchem Fall sich eine Reanimation noch lohnt?

DE RIDDER: Wir werden niemals alles regeln können. Es wird immer Situationen geben, in denen auch mit bestem Wissen und Gewissen keine eindeutige Entscheidung möglich ist. Das ist so und das kann auch gar nicht anders sein. Bei einem plötzlichen Herz-Kreislaufstillstand wird ein Arzt immer gehalten sein, sofortige Wiederbelebungsmaßnahmen einzuleiten. Er kann ja in der Kürze der Zeit unmöglich überprüfen, ob es eine Patientenverfügung gibt und wie der Wille des Patienten aussieht. Aber oft genug habe ich auch andere Situationen erlebt. Ich werde zu einem Patienten in die Wohnung gerufen. Die Ehefrau teilt mit, mein Mann atmet plötzlich nicht mehr. Sie sehen einen Patienten, körperlich stark ausgezehrt, seit langem bettlägerig. Sie erfahren, dass er einen Lungentumor hat. Die Angehörigen haben aus lauter Angst und Überforderung den Notarzt gerufen. Dann kann der Arzt sehr wohl, auch in Sekundenschnelle, entscheiden, auf jegliche Maßnahmen zu verzichten und den Kranken friedlich sterben lassen. Das habe ich auch schon getan. Dann muss man allerdings etwas ganz anderes machen, man muss sich um die Angehörigen kümmern. Der Kranke hat es, wie man so schön sagt, geschafft - nicht geschafft haben es die Angehörigen, die jetzt in ihrer Verzweifelung Hilfe brauchen.

DIESSEITS: Wie kam es dazu, dass aus segensreichen medizinischen Möglichkeiten plötzlich Instrumente zur qualvollen Leidensverlängerung wurden?

DE RIDDER: Diese Entwicklung hat in den 50er-, 60er-Jahren in geballter Form begonnen. Im sogenannten goldenen Zeitalter der Medizin entstanden Möglichkeiten der Beatmung, der elektrischen Stimulation des Herzens oder auch der künstlichen Ernährung. Diese Möglichkeiten waren ursprünglich als vorübergehende Behandlungen für Patienten mit heilbaren Erkrankungen gedacht. Künstliche Ernährung etwa setzte man bei Unfallopfern ein, die zeitweise nicht schlucken konnten. In dieser Form brachten sie den Menschen erstmal nur Vorteile. Bestärkt durch gute Erfolge wurden diese Möglichkeiten dann ausgedehnt und man übersah den Unterschied zwischen einem Unfallopfer mit Aussicht auf Genesung und einem Sterbenden. Dahinter steht ein falsches Verständnis von Lebensschutz mit dem Ergebnis qualvoller Sterbeverzögerung.

DIESSEITS: Haben sie die Hoffnung, dass man das stoppen kann?

DE RIDDER: Nicht von heute auf morgen. Das muss in den Köpfen der Ärzte passieren. Deswegen hoffe ich auf eine möglichst weite Verbreitung des Buches, darauf, dass die Medizin lernt loszulassen, Sterben zuzulassen. Die Medizin ist doch nicht dazu da, das Sterben an sich zu verhindern, sondern das vorzeitige Sterben und das quälende Sterben zu verhindern. Aber wenn der Sterbeprozess einmal eingesetzt hat, der Tod absehbar ist, dann geht es nur noch um das Patientenwohl durch die Palliativmedizin. Diese brauchen wir nicht nur im Hospiz und in speziellen Einrichtungen der Krankenhäuser, sondern auch in der großen Masse der Pflegeheime. Es gibt soviel Schwerkranke heute, die nicht in den Genuss der palliativmedizinischen Möglichkeiten kommen.

DIESSEITS: Ist es wirklich nur die Entscheidungsnot der Ärzte oder spielen finanzielle Fragen, Bettenauslastung z.B., nicht inzwischen die größere Rolle, wenn medizinische Maßnahmen verordnet werden, für die es eigentliche keine Rechtfertigung mehr gibt?

DE RIDDER: Das ist sicher nicht von der Hand zu weisen, aber zu beweisen ist es nicht. Die Intensivstationen konkurrieren um Patienten, wir müssen möglichst viele Fälle generieren und je schwerer die Fälle sind, umso höher sind die Erlöse für die Krankenhäuser. In diesem Prozess der Auslese werden nur wirtschaftlich arbeitende Krankenhäuser überleben. Darum werden manchmal auch Patienten einer intensivmedizinischen Behandlung zugeführt, obwohl die Indikation fragwürdig ist. Das ist medizinisch wie auch ethisch bedenklich, weil die Intensivstation eine erhebliche Belastung für Patienten darstellt. Das wissen alle, die schon einmal selbst erfahren mussten, was es bedeutet, beatmet zu werden, dazuliegen und sich nicht bewegen zu können, in kompletter Abhängigkeit von intensivmedizinischen Maßnahmen sich nicht mitteilen zu können.

DIESSEITS: Kann eine Patientenverfügung nicht nur das Ende von Behandlungsmaßnahmen festlegen, sondern auch mein friedliches, schmerzfreies Sterben sicherstellen?

DE RIDDER: Das ist ja gerade das schöne an der Patientenverfügung. Ich "zwinge" den Arzt dazu, von palliativmedizinischen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, wenn ich nach einem schweren Schlaganfall, der voraussichtlich nicht rückbildungsfähig ist, künstliche Ernährung versage. Dann ist der Arzt verpflichtet, dem nachzukommen und dafür zu sorgen, dass ich auf oralem Weg genug Flüssigkeit bekomme, dass mein Mund feucht gehalten wird mit Wattestäbchen oder Eisstückchen. Insofern ist eine qualifizierte Patientenverfügung Anschub für eine gute palliativmedizinische Versorgung. Der Arzt muss von seinem Denken abrücken, jedes Leben erhalten zu wollen, bis ihm die Mittel versagen.

DIESSEITS: Das Gesetz über die Patientenverfügung ist inzwischen gültig, die Ärzte müssen sich daran halten. Gibt es eine erste Bilanz, wie die Kollegen damit umgehen? Haben Sie Informationen über gehäufte Konfliktfälle?

DE RIDDER: Nein, dafür ist die Zeit zu kurz. Dieser Prozess wird über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gehen. Wir stehen vor der Aufgabe, eine ganze Medizinkultur zu ändern und Patientenverfügungen sind Ausdruck dieses neuen Denkens. Nicht mehr der Doktor sagt, wo es langgeht und der Patient gehorcht. Das ist vorbei, der Wille des Patienten ist oberstes Gebot. Wobei wirkliche Selbstbestimmung sich in einer Patientenverfügung nur wiederfinden kann, wenn der Verfügende sich ausführlich mit diesen Fragen auseinandersetzt, wenn er mit seinem Arzt, mit Vertrauten ins Gespräch kommt. Ich plädiere für eine neue Sterbekultur, die da heißt, das Sterben ins Leben mit hineinzunehmen. Das bedeutet auch, sich nicht erst am Lebensende diesem Thema zu stellen, sondern dies in gesunden Tagen zu tun. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, dass Arzt und Patient zu einer Partnerschaft finden. Dialog ist das Schlüsselwort, doch das letzte Wort hat der Patient. Dieser muss auch keine Beratung annehmen, allerdings geht man dann schon das Risiko ein, dass eine Patientenverfügung nicht nach den eigenen Vorstellungen ausgelegt wird. Eines möchte ich noch ergänzen. Ich respektiere auch jeden Menschen, der auf eine Patientenverfügung verzichtet, weil er seinem Schicksal vertraut, seinen Ärzten oder seinen Angehörigen. Sich nicht festzulegen sollte allerdings eine bewusste Entscheidung sein. Manche verdrängen ja auch nur, das ist nicht gut.

DIESSEITS: Was aber zum Beispiel, wenn ein solcher Mensch dann im irreversiblen Wachkoma liegt? Ist die medizinische Lebensverlängerung in diesem Fall vertretbar, weil es keine Hinweise auf den Willen des Patienten gibt?

DE RIDDER: Das ist eine ganz schwierige Frage, es gibt hier keine Kriterien, die vorschreiben, wie es zu sein hat. Bei einem korrekt diagnostizierten Wachkoma, ich nenne es übrigens "permanent vegetativer Status", der mindestens seit einem Jahr besteht, geht die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus diesem Zustand noch einmal aufwacht, praktisch gegen null. Ich persönlich plädiere dafür, dass so ein Mensch, der an nichts mehr teilhat, der nichts mehr erkennen, nichts mehr fühlen kann, sterben darf. Selbst wenn ein solcher Mensch noch Bewusstseinsfetzen hat, wäre das ja aus meiner Sicht noch schlimmer. Das ist eines der unerträglichsten Schicksale, die einem Menschen widerfahren können. Eine Besserung oder gar Heilung ist so gut wie unmöglich, da scheue ich mich nicht zu sagen, Menschen am Leben zu erhalten, die sich im Zustand der totalen Isolation befinden, ist für mich ein der Folter vergleichbarer Zustand. Die zur Zeit noch gültigen Richtlinien der Bundesärztekammer besagen, wenn wir gar nichts wissen, dann sollte der Patient am Leben gehalten werden. Jedoch gibt es ein Urteil des Bundesgerichtshofes in dem Tenor, wenn keine Möglichkeit besteht, den Willen des Patienten zu erkunden, darf nach allgemeinen Wertvorstellungen geurteilt und gehandelt werden. Bisher ist mir niemand begegnet - und ich habe mit vielen Menschen darüber gesprochen - der in diesem Zustand am Leben gehalten werden möchte. Damit wäre dies eine allgemeine Wertvorstellung und ich darf den Patienten sterben lassen.

DIESSEITS: Sie haben auf ihrer Dankesrede bei der Verleihung des Humanismus-Preises den Fall der jungen, halsabwärts gelähmten Biologin erwähnt, die Sie darum bat, ihr beim Sterben zu helfen, wenn ihr Zustand unerträglich würde. Unserer Leser kennen den Fall. Was ist aus ihr geworden? Haben Sie Wort gehalten?

DE RIDDER: Katharina S. hat es nach vielen Monaten Atemtraining geschafft, weitgehend ohne Beatmungsgerät sein zu können. Vielleicht wird sich ihr Zustand weiter bessern. Noch ist ihr Sterbewunsch nicht unumstößlich. Ich rate ihr, sich wenigstens auf den Versuch einzulassen, die Welt außerhalb des Krankenhauses "neu" kennenzulernen, bisher war sie seit dem Unfall ja nur in ihrem High-Tech-Krankenzimmer. Ihre Wahrnehmung und ihr Urteilsvermögen schränkte dies zutiefst ein. Jetzt ist sie zu Hause und in ihrer Entscheidung noch offen. Wenn Sie dennoch zu keinem neuen Lebensentwurf findet, werde ich zu meinem Entschluss stehen und diesen auch vor jedem Gericht und jeder Ethikkommission verteidigen.

DIESSEITS: Welche Reaktionen von Kollegen haben Sie auf ihr Buch bekommen?

DE RIDDER: Die Reaktionen waren ausschließlich positiv. Das hatte ich auch erwartet. Zwar sind die Medizinerkollegen noch etwas zurückhaltend, aber auch sie ermutigen mich. Nicht alle können oder wollen dazu öffentlich Stellung nehmen, zum Beispiel weil sie ganz genau wissen, sie kennen sich mit speziellen Fragen des Lebensendes nicht gut genug aus.

DIESSEITS: Vor dem Erscheinen des Buches hörte man gelegentlich, dass Sie sich darin für die Möglichkeit eines ärztlich assistierten Suizids aussprechen würden. Das tun Sie allerdings nur sehr verhalten. Ist die Zeit noch nicht reif?

DE RIDDER: Ich habe mit dem Buch eine Debatte angestoßen. Wir werden sehen, was sich daraus ergibt. Ich möchte ausdrücklich betonen, auch um Vermutungen energisch zu widersprechen, der ärztlich assistierte Suizid steht nicht im Mittelpunkt meiner Veröffentlichung, meine Herzensangelegenheit ist es vielmehr, dass wir wieder lernen, unsere Sterblichkeit zu akzeptieren. Mein Buch ist ein Plädoyer für eine qualifizierte Palliativmedizin, die die Menschen am Lebensende gut versorgt. Es ist mir wichtig, dass die Menschen aufgeklärt werden über alle Möglichkeiten, die es für diese Phase gibt und dass diese Möglichkeiten dann auch voll ausgeschöpft werden.

Das Interview mit Dr. Michael de Ridder führte Patricia Block.


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 91 2/2010, S. 17-19
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2010