Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → HUMANISTISCHER V.D.

ETHIK/028: Kant und das Recht zur Lüge (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 93/2010 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Kant und das Recht zur Lüge

Von Anna Ignatius


Es gibt wohl kein moralisches Prinzip, das die Idee einer universalen Ethik mehr repräsentiert als Immanuel Kants kategorischer Imperativ. Sein Denkgebäude wird als eine Philosophie vermittelt und gelehrt, die den "aufgeklärten" Menschen als selbstverantwortliches Wesen in den Mittelpunkt stellt. Zählt Kant also mit Recht zu den großen Vordenkern des Humanismus?


Wenn man sich genauer mit Kants Moralphilosophie beschäftigt, erscheint das fraglich. Denn auch wenn Kants Philosophie einen entscheidenden Schritt weg von der göttlichen Autorität hin zur Rationalität gemacht hat, sind Zweifel daran berechtigt, inwieweit seine Ethik sich mit einem Humanismus vereinbaren lässt, der versucht, dem Menschen in der Ganzheit seiner Existenz - als individuelle Persönlichkeit und mit all seinen Bedürfnissen - gerecht zu werden. Dies wird deutlich, wenn es um die konkrete Verwirklichung der kantschen Moralprinzipien geht. Ein Beispiel, an dem erkennbar wird, zu welchen Konsequenzen die in der reinen Theorie so vollkommen erscheinenden Prinzipien Kants in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens führen, ist Kants Haltung zum Problem der Lüge.

Wahrhaftigkeit um jeden Preis In seinem Aufsatz von 1797 mit dem Titel "Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen" setzte sich Immanuel Kant mit der Frage auseinander, ob es ein Recht zu lügen gibt, wenn durch die Lüge ein Menschenleben gerettet werden könnte. Konkret geht es um die Frage, ob ein Mensch das Recht hat, jemanden, der einen anderen Menschen in mörderischer Absicht verfolgt, über den Aufenthaltsort des Flüchtigen zu belügen, um damit das Leben des Verfolgten zu schützen.

Nicht erst seit der Judenverfolgung im Dritten Reich lässt sich solch ein "Lügen" als ein hochethisches Verhalten bewerten. Sowohl nach dem allgemeinen ethischen Wertempfinden als auch nach unserem Rechtssystem verdienen jene, die die SS-Schergen im Dritten Reich belogen haben, um das Leben ihrer jüdischen Mitmenschen zu schützen, Hochachtung für ihr verantwortungsvolles Verhalten. Kant sieht das allerdings ganz anders! Er spricht dem Menschen jedes Recht auf eine Lüge kategorisch ab. Gemäß seiner Moralphilosophie ist es "ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein."

Kant geht sogar noch weiter und erklärt, dass ein Mensch, der in einer bestimmten Situation lügt, für alle Folgen dieser Lüge auch vor Gericht voll verantwortlich sei und dafür büßen müsse, so unvorhergesehen diese Folgen auch gewesen sein mögen. So kann für Kant ein Mensch, der versucht hat, einen sein Opfer verfolgenden Mörder durch eine Lüge auf die falsche Fährte zu bringen, "... mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden", wenn dieser Mord dennoch geschieht.

Der Kantianer Julius Ebbinghaus verfolgt diesen Ansatz Kants bis hin zur extremen Konsequenz, wenn er eine Lüge sogar zu etwas moralisch weit Schlimmerem erklärt als das Töten eines Menschen.

Urheber des Todes eines Menschen bzw. derjenige zu sein, der durch sein Verhalten einen Mord legitimiert, das sind schwere Vorwürfe. Andererseits aber widersprechen die Konsequenzen aus Kants Philosophie dem humanistischen Wertesystem, wie es in den Menschen- bzw. Grundrechten verankert ist. Denn dies beinhaltet eine Hierarchisierung von Werten, nach der die Bewahrung eines Menschenlebens nicht nur weit über dem Unrecht einer Lüge steht, sondern wonach eine Lüge sogar eine ethische Forderung ist, wenn dadurch ein Menschenleben gerettet werden kann.


Rein abstraktes Prinzip

Wie aber kommt Kant zu solch einer rigorosen Haltung? Entgegen dem, was häufig suggeriert wird, geht es Kant nicht um eine differenzierte, situationsabhängige Beurteilung einer moralisch relevanten Situation, die einerseits dem Menschen und seinen Bedürfnissen gerecht wird und andererseits das Individuum als selbstbestimmtes, selbstverantwortliches Wesen stärkt. Ein situations- oder kontextorientiertes Handeln und Urteilen lässt sich mit Kants Moralphilosophie prinzipiell nicht vereinbaren. Denn seine Moralphilosophie stellt den Anspruch, völlig unabhängig von aller Empirie zu sein. Dementsprechend lässt sich der ethische oder moralische Wert einer Handlung bei Kant nicht empirisch, wie z. B. mit der Bewahrung eines Menschenlebens, rechtfertigen.

Bei Kant geht es um ein rein abstraktes Prinzip. Von der Ebene dieser Abstraktion aus gesehen aber ist Wahrhaftigkeit die Basis aller Verträge unter den Menschen. Während ein Mord nur einzelne betrifft, ist eine Lüge nach Kant ein Unrecht, welches der Menschheit insgesamt zugefügt wird. Wer lügt, macht sich daher in jedem Fall schuldig. Die kantsche Moralität definiert sich nicht über die erhoffte Wirkung oder in der unmittelbaren Absicht, die hinter einer Handlung steckt (eben z. B. ein Menschenleben zu retten), sondern allein über "die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst". Mit dieser "Vorstellung des Gesetzes an sich selbst" ist nicht ein bestimmtes Gesetz gemeint, sondern das Gesetz um seiner Gesetzmäßigkeit willen. Allein dies und nicht die hehre humanistische Gesinnung, wie sie bei der Bewahrung von Menschenleben oder dem Schutz der Unversehrtheit usw. zum Ausdruck kommt, meint die kantsche Gesinnungsethik: eine Gesinnung, die sich frei von aller Empirie allein auf das Gesetz seiner gesetzmäßigen Form nach bezieht. Deshalb handelt derjenige am moralischsten, der seinem Gefühl nach, "kalt und gleichgültig gegen die Leiden anderer" ist und dennoch aus Pflichtgefühl Gutes tut. Mitleid, Barmherzigkeit oder Güte haben bei Kant keine moralische Bedeutung.


Vernunft als universale Größe

An einer anderen Stelle schreibt Kant: "Es war eine erhabene Vorstellungsart des Weisen, wie ihn sich der Stoiker dachte, wenn er ihn sagen ließ: Ich wünsche mir einen Freund, nicht der mir in Armut, Krankheit, in der Gefangenschaft usw. Hülfe leiste, sondern damit ich ihm beistehen und einen Menschen retten könne; und gleichwohl spricht eben derselbe Weise, wenn sein Freund nicht zu retten ist, zu sich selbst: was geht's mich an? d. i. er verwarf die Mitleidenschaft."

Nicht allein, dass Kant ein Gefühl wie Mitleid wie etwas behandelt, was man an- und ausschalten kann, bezogen auf den Leidenden wird hier eine Haltung deutlich, die aus humanistischer Sicht eigentlich nicht anders als menschenverachtend genannt werden kann. Kant gelangt zu seinen moralischen Prinzipien, indem er seine Moralphilosophie frei von jeder Empirie und Anthropologie hält. Heraus kommt ein abstraktes Prinzip, das in der Realität angewandt zu unmenschlichen Konsequenzen führt.


Aber wie anders soll man zu universalen ethischen Gesetzen gelangen?

Jede Ethikbegründung braucht irgendein Fundament, auf dem sie ihre Prinzipien gründet. Kant fundierte seine Moralphilosophie auf einem "Faktum der Vernunft" als einer nicht hintergehbaren Größe. Wie fast alle Philosophen, die die menschliche Ethik rein auf der Vernunft gründen wollen, geht Kant davon aus, dass seine Ableitungen damit auf einer objektiven und universalen Größe stehen. Diese Vernunftvorstellung ist allerdings eine Setzung, die sich immer mehr als falsch erwiesen hat. Wie wissenschaftliche Forschungen z. B. der Neurophysiologie, Verhaltenspsychologie usw. belegen, ist die menschliche Vernunft keineswegs objektiv und universal. Die Vernunft jedes Einzelnen ist grundsätzlich immer das Ergebnis des Zusammenspiels vieler Faktoren, wie Gefühle, Erfahrungen, Charaktereigenschaften und vielem mehr. Sie lässt sich nicht unabhängig davon verstehen.


Naturalistischer Fehlschluss

Was aber ist die Alternative? Will man hier nicht wieder bei einer transzendenten Größe wie Gott landen und einfach den Glauben fordern, dann muss man sich an den universalen Gesetzen der Natur orientieren. Wer sich allerdings bei seiner Ethikbegründung dann tatsächlich an der Natur orientiert, sieht sich schnell dem Vorwurf des "naturalistischen Fehlschlusses" ausgesetzt. Man dürfe nicht vom Sein auf das Sollen schließen, so die Argumentation.

Für einen säkularen Humanismus scheint hieran jedoch kein Weg vorbeizuführen: Eine Ethik, die dem Menschen gerecht werden will, muss sich am Menschen und grundlegenden empirischen Erkenntnissen über ihn und seine Natur, d.h. an seinen gattungsmäßig genetisch verankerten grundlegenden Fähigkeiten und Bedürfnissen orientieren. Denn ebenso wie jedes "Sollen" ohne ein "Können" letztlich sinnlos ist, so ist jedes "Sollen" leer, wenn ihm kein Bedürfnis entspricht. Es ist sinnlos, eine reine Vernunftmoral für den Menschen zu konstruieren, wenn der Mensch in der Realität gar nicht rein vernünftig urteilen kann - und es ist auf der anderen Seite überflüssig zu fordern, der Mensch solle sich jeden Tag im Dreck suhlen, wenn das nicht (wie etwa bei einem Schwein) zu seinen Grundbedürfnissen gehört.

Aus der wissenschaftlichen Erkenntnis aber, dass das "Sein" eines neugeborenen Menschen ein existenzielles Bedürfnis nach körperlicher Nähe beinhaltet, lässt sich das "Sollen" ableiten, ihm diese Nähe zu gewähren. Insofern muss sich eine lebbare und menschengerechte Ethik am "Sein" des Menschen orientieren. Es ist unvermeidlich, in diesem Sinne vom "Sein" auf das "Sollen" zu schließen.


Anna Ignatius ist promovierte Philosophin und Vorstandsmitglied des neu gegründeten HVD Baden-Württemberg. Sie lebt in Freiburg.


Die Argumentation der Autorin ist ausführlicher dargestellt und begründet in: "Ethik und Empirie. Die Ethik der reinen Vernunft und der Mensch als Wesen der Natur" (Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften, 2010) bzw. auch als elektronische Dissertation (2009) im Netz zu finden.


*


Quelle:
diesseits 4. Quartal, Nr. 93/2010, S. 32-33
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2011