Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → HUMANISTISCHER V.D.

BERICHT/224: Eine Reportage aus dem Humanistischen Lebenskundeunterricht in Fürth (diesseits)


diesseits Nr. 94, 1/2011
Das Magazin für weltlichen Humanismus

Die Gedanken sind frei
Eine Reportage aus dem Humanistischen Lebenskundeunterricht der Humanistischen Grundschule Fürth

Von Michael Bauer, Herausgeber der diesseits


Es ist still an der Humanistischen Grundschule in Fürth. Kaum zu glauben, dass hier 50 aufgeweckte Kinder unterrichtet werden. Seit dem September 2008 gibt es diese erste weltlich-humanistische Weltanschauungsschule, an der reformpädagogische Methoden mit humanistischem Geist verknüpft werden.

Im Erdgeschoss des himmelblauen Gebäudes sitzt die Rektorin Franziska Ernst mitten unter ihren Schülern - am Boden, auf Augenhöhe mit den 25 Kindern der ersten und zweiten Jahrgangsstufe. In solchen Kreisgesprächen geht die Gruppe oft spontan auf den richtigen Umgang mit Freunden oder Streitigkeiten im Schulalltag ein. Heute geht es um die Wut. "Einige meiner Erst- und Zweitklässler können ihrer Wut nur Ausdruck verleihen, indem sie andere Kinder ärgern oder gar schlagen", erklärt Franziska Ernst später. "Da dieses Thema immer wieder bei uns aufkam, haben wir uns heute mit der Wut und dem Umgang mit ihr mal etwas näher beschäftigt." Als methodischen Ansatzpunkt nutzt Franziska Ernst das Kinderbuch Anna und die Wut von Christine Nöstlinger. Die Lehrerin liest engagiert und lebendig vor. Man sieht den konzentrierten Gesichtern an, wie die Kinder in die Welt dieser Geschichte hineingezogen werden. Sie hören von Anna, einem Mädchen, das unheimlich schnell wütend wurde. Viel schneller und viel öfter als andere Kinder! Das Schlimmste an Annas riesengroßer Wut war aber, dass jeder etwas abkriegte, der ihr in die Nähe kam. So wollte bald kein Kind mehr mit ihr spielen. Anna versuchte auf verschiedenen Wegen mit ihrer Wut umzugehen. Die Wut hinunter schlucken oder der Wut aus dem Weg gehen. Doch nichts wollte so richtig helfen.

An dieser Stelle unterbricht Franziska Ernst die Geschichte und sieht in die Runde, sucht den Blickkontakt. "Sagt mal, was macht Euch denn wütend?", fragt sie. Mit einigen Impulsen bringt sie die Diskussion in Gang. "Wann wart ihr denn das letzte Mal wütend? Gibt es jemanden, auf den ihr besonders häufig wütend seid?"

Schnell stellt sich heraus: "Wenn ich mein Zimmer aufräumen muss", das ist der häufigste Grund, der die Kinder wütend macht. Aber auch Streit mit Freunden oder Sich-ausgeschlossen-fühlen identifizieren die Kinder gemeinsam als Ursachen für eine aufkommende Wut. "Wenn andere Kinder mich aufziehen, wenn ich etwas nicht weiß und die Kinder dann immer sagen ,das weißt du nicht, das weißt du nicht", das sind für die siebenjährige Catharina Gründe zum wütend werden. Die kleine Valentina denkt intensiv nach und berichtet dann: "Wenn die anderen was behaupten und das einfach nicht stimmt und mir nicht glauben, dann werde ich wütend". Zu den extrovertiert Wütenden gehört Jindara: "Wenn ich ins Bett muss, dann verschränke ich die Arme, schaue grimmig und diskutiere erstmal. Und wenn ich dann wirklich gehen muss, stampf ich mit den Füßen und trampel die Treppen hoch."

Jetzt ist es Zeit, die gefundenen Antworten in einer gemeinsamen Aktion zu Papier zu bringen. Alle organisieren sich Stifte und Papier und schreiben auf, wie sie mit ihrer Wut umgehen. "Die Vielfalt der Bewältigungsstrategien ist beeindruckend", staunt Franziska Ernst, als sie mit den Kindern die Papierbögen an die Wand heftet. Das eine Kind tobt sich aus, das andere verkriecht sich erstmal ins Bett, wieder andere Kinder greifen zu Süßigkeiten. "Na, da haben wir doch schon den nächsten Ansatzpunkt für die Ernährungserziehung", lächelt Ernst hintersinnig.

Dann setzen sich alle wieder zum Kreis zusammen. Franziska Ernst liest die Geschichte von der wütenden Anna zu Ende vor. Zum Abschluss geben die Kinder der kleinen Anna Tipps, wie sie mit ihrer Wut umgehen könnte, ohne andere zu verletzen. Denn alle Kinder haben jetzt gehört, wie ihre Mitschüler mit Wut umgehen, und sie haben verschiedene Handlungsmöglichkeiten kennen gelernt. "Das führt auch zu mehr Verständnis für den Anderen, gerade in Konfliktsituationen", freut sich Franziska Ernst und hat mit ihren Schülern scheinbar ganz nebenbei eines der Lernziele des Lebenskunde-Lehrplanes erreicht.


Einüben von Empathie und Respekt vor der Andersartigkeit anderer

Lebenskunde-Stunden gibt es an der Humanistischen Grundschule nicht. Das Fach ist zwar als ordentliches Lehrfach staatlich anerkannt und hat einen umfangreichen Lehrplan. Doch ebenso wie die anderen Fächer wird es situativ, in Projekten, Gesprächen, Aktionen, im Kontext zu anderen Fächern unterrichtet. So sieht es die reformpädagogische Konzeption der Schule vor. Dabei durchzieht die Humanistische Lebenskunde das gesamte Schulleben an der Humanistischen Grundschule. "Fächerübergreifend beschäftigen wir uns auch im Deutsch-, Heimat- und Sachunterricht oder auch Kunst mit Themen wie Toleranz, Angst oder unterschiedlichen Lebensformen oder wir treffen Entscheidungen zum Schulalltag", erklärt die Rektorin. Besonders wichtig ist ihr dabei das Einüben von Empathie und Respekt vor der Andersartigkeit anderer. "Der Umgang innerhalb der Gruppe mit der Verschiedenartigkeit der Kinder in Aussehen, Leistung und Art ist ein ständig besprochenes Thema bei uns".


Ein Stockwerk höher bereitet Isa Hauenstein im geräumigen Lehrerzimmer der Schule ihren Unterricht vor. Die Sozialpädagogin betreut gemeinsam mit Franziska Ernst die Kinder der ersten beiden Jahrgangsstufen. Im Hort ist sie auch für das "Philosophieren mit Kindern" zuständig. Auf die Frage, was den Lebenskundeunterricht vom Philosophieren mit Kindern unterscheidet, zögert sie zunächst. "Da fällt mir die Abgrenzung schwer. Die Bereiche vermischen sich doch recht stark." Dann berichtet sie von einem Projekt, das sie bereits seit mehreren Wochen durchführt. Es geht um Hexen. "Das ist humanistisch-weltanschaulich", betont Hauenstein, "da dreht es sich um Vorurteile und religiösen Machtmissbrauch, aber auch um Toleranz und Rationalität."


Nicht alles, was fremd ist, ist böse. Viele Hexen und Zauberer lehnen sich gegen Unrecht auf und helfen den Schwachen

Um die Kinder für das Thema zu interessieren, suchte sie einen lebensweltlichen Zugang. Schließlich sind den Kindern aus Fernsehen und Hörspielen viele Hexen und Zauberer sozusagen persönlich bekannt: Bibi Blocksberg, die Hexe Lilli, Harry Potter. Schnell fanden die Kinder in Kleingruppen heraus, dass die Hexen- und Zaubererfiguren, die sie bewundern, sich gegen Unrecht auflehnen, den Schwachen helfen und immer fair urteilen. Trotzdem ecken sie oft an und sind gesellschaftlich schwer integrierbar. Erst nach und nach können sie ihre vermeintliche Schwäche und ihren Sonderstatus positiv umwandeln. "Damit haben wir beim Hexenprojekt wichtige Themenbereiche der Demokratieerziehung durchgenommen", erklärt Hauenstein. "Das Fazit der Kinder war: Nicht alles, was fremd ist, ist böse", freut sie sich über den pädagogischen Erfolg.

Daraufhin hat Hauenstein das Projekt von den Phantasiegestalten auf die historischen Hexen hin gesteuert. "Die Kinder haben erfahren, dass früher tatsächlich bestimmte Frauen als Hexen galten." In einer gemeinsamen Recherche in Büchern und im Internet wurde nach den Gründen dafür gesucht. Dann erhielten die Schüler einen schwierigen Auftrag. Sie sollten auf der Grundlage ihrer Nachforschungen Kriterien für Hexen und Zauberer entwickeln. Am praktischen Beispiel übten sie das wissenschaftlich-methodische Vorgehen ein und fanden so bestimmte Merkmale heraus, die Hexen üblicherweise aufweisen: Eine spezielle Kleidung, das Wissen über Heilkräuter, Kenntnisse in der Medizin und Geburtshilfe, aber auch unterstellte magische Kräfte und ein besonderes Verhältnis zu bestimmten Tieren. In mehreren Gesprächsrunden wurden die Ergebnisse dann zusammengetragen, diskutiert und auf Postern festgehalten. "Mir hat besonders gut gefallen, dass wir uns dabei einem sagenumwobenen Thema ganz rational genähert haben", sagt Hauenstein. "Früher galt eine Frau schon als Hexe, nur weil sie wusste, dass Kümmel gegen Bauchweh hilft! Solche Entmystifizierungen empfinde ich als einen zentralen Punkt im Humanismus." Und die Rolle der Kirche bei den Hexenverfolgungen? Kam sie auch zur Sprache? "Natürlich habe ich den Kindern die grausigen Details vorenthalten, aber es ist schon in Ordnung zu vermitteln, dass die Institution Kirche eine teils sehr gruselige Vergangenheit hat!"


Bräuche sind nicht selbstverständlich, konnten die Kinder an der Humanistischen Grundschule in Fürth im Rahmen eines Weihnachtsprojekts lernen

Kirchenkritik ist ein sensibles Thema an der Humanistischen Grundschule. Das liegt nicht nur am Alter der Kinder. Denn die "HGS" ist zwar eine Weltanschauungsschule, aber sie ist zugleich offen für alle. Und bei weitem nicht alle Eltern und Kinder haben einen atheistischen oder humanistischen Hintergrund. Isa Hauenstein sieht darin kein Problem. "Es geht bei uns ja nicht um Mission, sondern um Gleichberechtigung", erklärt sie. Ein Beispiel dafür ist die Fest- und Feierkultur an der Schule. Vor Weihnachten haben die Kinder in einem Projekt bearbeitet, wie in anderen Ländern Weihnachten gefeiert wird. "Die Kinder waren sehr verblüfft, dass es z.B. in vielen Ländern an anderen Tagen gefeiert wird, es anderes Essen gibt und andere Personen oder Sagengestalten für die Geschenkelieferung zuständig sind", berichtet die Pädagogin. In das Projekt wurden auch die Eltern mit ihren unterschiedlichen ethnischen Hintergründen eingebunden. Hauenstein schmunzelt. Als eine Mutter erzählte, dass man in ihrer Heimat Serbien an Weihnachten drei Stücke Eichenholz ins Feuer wirft, kam den Kindern das komisch und unnötig vor. "Die eigenen Bräuche und was dem zu Grunde liegt, haben sie bis dahin aber noch nie in Frage gestellt." Doch in den Gesprächsrunden, in denen die Ergebnisse des Projekts zusammengetragen wurden, kamen die Kinder ins Nachdenken. Anhand ihrer Forschungsergebnisse erkannten sie, dass ihre scheinbar selbstverständlichen Bräuche in Wirklichkeit gar nicht selbstverständlich sind. Hauenstein fasst zusammen: "Ich bin zwar Atheistin, aber ich kann mich in unserer Kultur nicht vor Weihnachten verschließen oder es ignorieren. Allerdings kann ich den Kindern zeigen, dass das christliche Weihnachten nur eines von vielen Festen auf der Welt ist, nicht mehr und nicht weniger."


HUMANISTISCHE LEBENSKUNDE

Für die 50 Kinder an der Humanistischen Grundschule in Fürth ist Humanistische Lebenskunde ein ordentliches Lehrfach. Das Fach wird auch in Berlin und Brandenburg unterrichtet, wo derzeit die meisten Schüler den Humanistischen Lebenskundeunterricht besuchen. Hier wird Lebenskunde als freiwilliges Unterrichtsfach in Verantwortung des Humanistischen Verbandes angeboten. In der Hauptstadt liegen die Zahlen der Lebenskundeschüler mit 49.813 knapp unter der 50.000-Schüler-Marke. In Brandenburg werden derzeit 1.187 Schüler im Humanistischen Lebenskundeunterricht unterrichtet. In Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen laufen derzeit gerichtliche Auseinandersetzungen bezüglich der Erteilung des Lebenskundeunterrichts.


*


Quelle:
diesseits - Das Magazin für weltlichen Humanismus
Nr. 94, 1/2011, S. 16-19
Herausgeber: Michael Bauer im Auftrag des
Humanistischen Verbands Deutschlands
Anschrift der Redaktion:
c/o Humanistischer Verband Deutschlands e.V.
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-34
Telefax: 030/613 904-864
E-Mail: info@diesseits.de
Internet: www.diesseits.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 2. September und 2. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2011