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BERICHT/218: Das "Nachtasyl Gorki" in Berlin stellt sich vor (diesseits)


diesseits 1. Quartal, Nr. 90/2010 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Ein Jegliches hat seine Zeit

Von Karsten Krampitz, Sebastian Rosche


Berlin - Das "Nachtasyl Gorki" stellt sich vor

Mit den Nachrichten über die ersten Kältetoten blicken die Zeitungen in guter Regelmäßigkeit auf die Lage der Obdachlosen in unserer Stadt. Eine beschämte Öffentlichkeit fragt sich dann, was eigentlich der Staat tue. Worauf die Volksvertreter gern darauf verweisen, wie viel Geld man doch an Hilfseinrichtungen zahle und dass alles getan werde, um diese Angebote zu verbessern: Während der sogenannten Kältehilfeperiode (von Anfang November bis Ende März) können Berliner Obdachlose in meist überfüllten Notunterkünften und Nachtcafés eine Bleibe für die Nacht finden. - Seit dem letzten Herbst gehört mit dem "Nachtasyl Gorki" auch eine Einrichtung des HVD-Berlin dazu, wenngleich die Finanzierung durch die öffentliche Hand derzeit noch nicht gesichert ist. Jeden Donnerstag bieten wir obdachlosen Menschen direkt am Bahnhof Lichtenberg eine warme Schlafstätte zur Nacht. Das Nachtcafé nutzt hier Räume in der Tagesstätte für Obdachlose der "MUT - Gesellschaft für Gesundheit gGmbH", die dort unter anderem eine Arztpraxis und Kleiderkammer betreibt, so dass auf der Straße lebende Menschen ein integriertes Hilfsangebot vorfinden.

Individuelle Hoffnungslosigkeit

In seinem berühmten Theaterstück erzählt Maxim Gorki von den Folgen individueller Hoffnungslosigkeit. "Nachtasyl - Szenen aus der Tiefe" ist zugleich eine Allegorie auf die Unbehaustheit unserer Zeit. Und so "... wollen wir den Menschen respektieren, nicht bemitleiden. Wir wissen doch nicht, wer er ist, wozu er geboren wurde und was er noch vollbringen kann." Wir wollen aber auch, dass das Problem Obdachlosigkeit wieder stärker im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent ist, und zwar unabhängig von der Jahreszeit; denn an Obdachlosigkeit sterben die Menschen das ganze Jahr über.

Allerdings hat sich die Politik, auch die linke, schon vor langer Zeit aus diesem Themenbereich verabschiedet, jedenfalls als Akteurin - die Politik bezahlt, aber sie gestaltet nicht. Die Verantwortung wurde an freie Träger übertragen, in ihrer Mehrheit Einrichtungen der großen Kirchen, die sich ihre Caritas mit Steuergeldern bezahlen lassen. In Fernsehen und Presse werden die Unbedachten dann zu Werbeträgern des christlichen Glaubens. Gott sei Dank, denkt sich das Publikum, kümmern die sich um die Mühseligen und Beladenen. Doch: "Ein jegliches hat seine Zeit." (Prediger 3,1) Unsere Projektgruppe fordert keine Verstaatlichung der Obdachlosenhilfe, wohl aber eine Säkularisierung. Diese Entkirchlichung der Sozialarbeit sollte in Berlin einhergehen mit einem Informations- und Gedankenaustausch von Politik und den im Obdachlosenbereich Tätigen - mit dem Ziel, einen Einklang zu schaffen von Wissen und Verantwortung. Wir reden von Gedankenaustausch, denn ein Diskurs zum Thema Armut scheint leider eine Utopie zu sein, wie manches andere auch.

Vor nunmehr zwei Jahren hat unsere Gruppe den kirchlichen Raum verlassen - im Zorn, nicht im Streit. Einen Streit darüber, inwieweit Obdachlosenarbeit politisch sein kann und darf, hat es nicht gegeben (siehe Kasten), ist doch die Kirche ihrem Selbstverständnis nach ein Ort der Kontemplation und Meditation, aber nicht der Auseinandersetzung. Jenseits der Harmonie wird mitgeteilt, nicht diskutiert.

Tagtäglich Katastrophen

Als Debattenthema ist Obdachlosigkeit aber auch schwer zu greifen. Es gibt viele Gründe, warum Leute ohne Obdach sind: Naturkatastrophen wie zuletzt in Haiti, die eine ganze Gesellschaft treffen, erleben wir hierzulande nicht. Gleichwohl erfahren viele Menschen tagtäglich eigene Katastrophen. Alkoholismus, Arbeitslosigkeit und Beziehungsprobleme bilden den Treibsand. Dabei sind es hauptsächlich Männer, die auf der Straße leben. - Warum eigentlich? Frauen verlieren doch mindestens so oft wie Männer ihre Arbeit, warum nicht auch ihre Wohnung? Kommen Frauen etwa besser mit Einsamkeit zurecht? Hat Obdachlosigkeit seine Ursache etwa auch in männlichem Denken?

So gut wie nie ist sie Ausdruck eines romantischen Aussteigertums, um so öfter aber Folge einer Selbstaufgabe, so als wolle sich derjenige selbst bestrafen, dass man fragen will: "Was für Steine hängen dir am Hals? Was hast du getan, dass du dich derart schämst?" Wer die eigene Biografie verdrängt und nicht sagen kann, wo er herkommt, der kann auch nicht sagen, wohin er geht, der lässt sich treiben - von einer Wärmestube zur nächsten, von einem Nachtcafé zum anderen. Seit mehreren Jahren steigt zudem die Zahl von Wirtschaftsmigranten aus Osteuropa (vor allem aus Polen), die im Westen ihr Glück versuchen wollten und in Berlin gestrandet sind. Mehr und mehr Menschen, die auf der Straße leben, leiden auch an schweren psychischen Krankheiten.

Säkularisierung der Obdachlosenfürsorge

Mit dem "Nachtasyl Gorki" wollen wir nicht nur Teil des bestehenden Hilfesystems bleiben. Unser langfristiges Ziel ist es, zu einem Wandel der Berliner Sozialpolitik beizutragen. Auf dem Gebiet der Obdachlosigkeit soll die Politik wieder aktiv werden: Erster Schritt für eine "Säkularisierung" der Obdachlosenfürsorge könnte die Schaffung einer zentralen Anlaufstelle sein, in der einerseits schnell und unbürokratisch durch ein soziales und medizinisches Betreuungsangebot vor Ort und andererseits durch die Bündelung der Kompetenzen von Meldestellen, Jobcentern, Krankenkassen u. ä. dauerhaft geholfen wird. Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände sollten aus der Obdachlosenarbeit nicht verdrängt, jedoch zur Zusammenarbeit mit dem Landesrechnungshof angehalten werden. Dies würde zu mehr Effektivität und Transparenz verhelfen.

Wenn unsere Arbeit mit den Obdachlosen etwas gezeigt hat, dann dass man die Menschen nicht der Hilfe anpassen kann, sondern die Hilfe den Menschen angepasst werden muss. Eine Verbesserung der Obdachlosenhilfe wird es nicht ohne Streit geben und auch nicht ohne Streitkultur. Die Diskussion über Armut sollte u. a. auch mit der Kirche geführt werden, aber nicht in der Kirche, sondern in demokratisch organisierten Gremien auf Landes- und Bezirksebene - und warum eigentlich nicht am Runden Tisch gegen Obdachlosigkeit?


KASTEN:
Die Wurzeln des "Nachtasyl Gorki" reichen bis in die Zeit der Wende und die Arbeit des grün-ökologischen Netzwerkes "Arche" zurück. Mehrere Jahre lang engagierten sich die Mitarbeiter im Nachtcafé der Treptower Bekenntniskirche, darunter auch der 2009 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominierte Berliner Autor Karsten Krampitz. Nach einem Streit mit der Diakonie um die Umbenennung der dortigen Einrichtung in "Nachtcafé Landowsky" (*) suchte ein Teil der Mitarbeiter den Neuanfang unter dem Dach des HVD Berlin.

Informationen zu Öffnungszeiten, Kontakt und Spenden finden sie unter:
www.hvd-berlin.de/nachtasyl-gorki


(*) Klaus-Rüdiger Landowsky, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, musste im Zuge des Berliner Bankenskandals zurücktreten und wurde wegen Untreue strafrechtlich verurteilt.


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Quelle:
diesseits 1. Quartal, Nr. 90 1/2010, S. 14-15
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2010