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BERICHT/210: Liebe als soziale Notwendigkeit und persönliches Problem (ha)


humanismus aktuell Heft 23 - Frühjahr 2009
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Liebe als soziale Notwendigkeit und persönliches Problem

Von Thomas Heinrichs


Philosophie der Liebesverhältnisse

Die Philosophen haben sich mit der Liebe zumeist nur am Rande beschäftigt. Sie war ihnen nicht rational genug. Es ist schwierig, für eine bestimmte Art und Weise Liebens rational zu argumentieren. Dennoch kann auch Philosophie bei der Auseinandersetzung mit Liebeskonflikten hilfreich sein. Wenn man Philosophie als eine kulturelle Praxis der Selbstverständigung darüber, wie wir leben wollen, und der Selbstbestimmung, wie wir uns verstehen wollen [1], emanzipatorisch und radikal demokratisch betreiben will, dann bedeutet dies zunächst, Aufklärung zu leisten über die Verhältnisse, in denen wir leben.

Es bedeutet, die historischen Differenzen aufzuzeigen und unter Heranziehung des wissenschaftlichen Wissens zu zeigen, wie die Verhältnisse tatsächlich sind, warum wir so leben, wie wir leben. Aufzuklären bedeutet, in diesem Sinne Desillusionierung zu leisten und den Raum für Alternativen aufzuweisen. Wir können nur dann selbstbestimmt unser Leben führen, wenn wir wissen, wie unser Leben immer schon von den sozialen Verhältnissen bestimmt ist und dass es andere Weisen zu leben gibt.

Auf dieser Basis können Philosophen dann für eine oder mehrere Alternativen argumentieren und versuchen, andere davon zu überzeugen, so ihr Leben zu führen. Das einzig mögliche philosophische Argument ist dabei letztlich immer nur die soziale Dimension eines solchen Lebensentwurfs, die Auswirkungen für die Anderen. Je "privater" ein Problem daher ist, je geringer die soziale Relevanz einer Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Art und Weise, sein Leben zu führen, ist, desto weniger lässt sich philosophisch für eine allgemeine Lösung argumentieren. Alles andere würde dazu führen, dass Philosophen den Menschen Vorgaben darüber machen wollen, wie sie zu leben haben. Sie würden deren Selbstbestimmung beschränken.

Wie wir heute unsere Beziehungen führen und unser Lieben leben, hat keinen relevanten sozialen Bezug mehr. Unsere Beziehungsverhältnisse sind großteils von unseren gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnissen ab- und statt dessen an die Komsumverhältnisse angekoppelt worden (s.u.). Ob wir alleine, zu zweit oder zu dritt leben und wie lange wir mit einem oder mehreren Partner zusammen leben, hat hierzulande keine relevanten sozialen Auswirkungen mehr - nur bei der Frage der Kinderaufzucht bleibt es unvermeidlich bei der sozialen Relevanz. [2]

Daher kann Philosophie im Hinblick auf die Frage, wie die Einzelnen ihre Beziehungsverhältnisse gestalten sollen, nicht mehr begründen, dass bestimmte Beziehungsverhältnisse zu bevorzugen seien. Sie kann bei dieser Frage den Einzelnen nur noch ihre Handlungsalternativen klarmachen. Ihre Entscheidung kann nur das Ergebnis ihrer privaten Gründe sein.

Den Einzelnen diesen individuellen Freiraum zur Gestaltung ihres Liebesverhältnisse zu eröffnen setzt fast zwangsläufig eine Säkularisierung der Gesellschaft voraus, denn Religionen geben in aller Regel genau Anweisungen, wen man zu lieben hat, wie man zu lieben hat, und wie lange man zu "lieben" hat. Götter sind in aller Regel Herrschaftsinstanzen und werden dazu benutzt, dass die Herrschenden den Menschen eine bestimmte Form, ihr Leben zu leben, vorgeben. Humanistische, also von den jeweiligen Menschen selbstbestimmt gestaltete Formen des Liebens sind daher nur da möglich, wo es keine solche Vorgaben gibt.


Liebesbeziehungen

Wenn wir, was Liebe ist, nüchtern beschreiben wollen, so kann man sagen, dass es sich dabei um eine Emotion handelt, die das Bedürfnis nach einer engen Beziehung zu einer anderen Person ausdrückt und die häufig, aber nicht immer, mit sexuellem Begehren verbunden ist. Menschen können weder alleine leben, noch wollen sie das. Sozialität ist ihnen ein Bedürfnis und eine Notwendigkeit. Menschen können nur gemeinsam das für ihr Leben Notwendige produzieren, und es ist für sie lebensnotwendig, dass sie in positiven emotionalen Verhältnissen mit anderen Menschen existieren.

Die Liebe ist eine gesteigerte Form dieses allgemeinen Bedürfnisses nach positiver Sozialität. Diese Definition der Liebe ist sehr weit. Was jeweils in den Kulturen unter Liebe verstanden wird, ist unterschiedlich. [3] Mit dem Wandel der sozialen Formen des Liebens ändert sich auch die Bedeutung, die die Liebe für die Menschen hat und die Art und Weise, wie sie sich als Liebende verstehen. [4]

Man kann Ursachen dafür finden, warum die Liebe in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich empfunden und gelebt wird. Zwar beruht jede kulturelle Differenz auch auf einem guten Teil Zufall - dass in einigen Gegenden des Schwarzwaldes rote und in anderen schwarze Bollenhüte als Tracht getragen wurden, lässt sich nicht aus ökonomischen oder sozialen Strukturen ableiten. Menschliche Gesellschaften müssen jedoch die sie konstituierenden, grundlegenden sozialen Verhältnisse regulieren. Es entwickeln sich Formen des Zusammenlebens, die sicherstellen, dass in ihrem Vollzug zugleich die Reproduktion der Gesellschaft als Ganzer wie auch die Reproduktion der Einzelnen verwirklicht wird.

Auch die sozialen Formen von Liebe und Partnerschaft haben diese doppelte Funktion, einerseits müssen sie die Aufgabe der sozialen Reproduktion erfüllen und anderseits erfüllen sie die Aufgabe der individuellen Reproduktion. Die persönliche Form des Zusammenlebens findet in einer Art und Weise statt, die zugleich die gesellschaftliche Reproduktion sicherstellt. Die Liebespraxen, die für den Einzelnen mit einer hohen emotionalen Bedeutung versehen sind, bei denen er sein Liebes-Glück erlebt, sind zugleich sozialen Praxen. Was man tut, um seine Liebe mit dem Geliebten zu leben, hat zugleich immer einen sozialen Bezug. Daher reproduziert man in den vorgegebenen Formen des Liebens zugleich die Strukturen der gesellschaftlichen Ökonomie.


Philia und Eros

In subsistenzwirtschaftlich geprägten Gesellschaften wird die biologische und die materielle Reproduktion in der Familie geleistet. Die Familie und mit ihr auch die Paarbeziehung unterliegt damit in hohem Ausmaß ökonomischen Zwängen. Sicherung der Fortpflanzung, Produktion des zum Leben Notwendigen und Aufrechterhaltung des sozialen Status werden durch die Familie garantiert. Diese Zwänge machen eine Wahl des Partners, die nicht an Hand von sozialen und ökonomischen Kriterien erfolgt, sondern an Hand persönlicher Gefühle, unmöglich.

Leidenschaftliche Liebe ist daher ein Gefühl, welches für die Konstitution der familiären Paarbeziehung nicht relevant ist. Solche Liebe hat ihren Raum nur außerhalb dieser Beziehung. Hier stellen diese Gesellschaften in der Regel mehr oder minder tolerierte, mehr oder minder offene Formen bereit, leidenschaftliche Liebe neben der familiären Paarbeziehung zu leben. Während die Paarbeziehung auf Dauer angelegt ist, sind die leidenschaftlichen Liebesverhältnisse von vornherein als zeitlich begrenzt angelegt.

Wenn wir als historisches Beispiel die Begriffe nehmen, die in der klassischen griechischen Antike "Liebe" bezeichnen, so sind dies "philia" und "eros". Aristoteles beschäftigt sich in der Nikomachischen Ethik sehr intensiv mit der "philia", weil dieses Gefühl ein wichtiges soziales Bindeglied für die Gesellschaft darstellt. Wenn wir uns die Beispiele, die Aristoteles benützt, ansehen, so können wir erkennen, dass der Begriff der "philia" sowohl Gefühle bezeichnet, die wir heute Freundschaft nennen, als auch Gefühle, die wir heute Liebe nennen. [5]

Alle persönlich geprägten sozialen Beziehungen werden durch die eine oder andere Form von Philia konstitutiert. Dies reicht von den Kinderfreundschaften über die Geschäftsbeziehungen bis zur Ehe. Den Eros bezeichnet Aristoteles als eine Übersteigerung der Philia. Er ist als leidenschaftliches Gefühl für die Konstitution der Partnerschaft und der Familie ohne Bedeutung. Der Eros galt in der Antike als eine Art "Krankheit", von der man geheilt werden musste. Was wir heute vorrangig als Liebe bezeichnen, nämlich das sexuell geprägte Zweierverhältnis, welches nicht wesentlich auf einem familiären Arbeitszusammenhang beruht, kommt dagegen bei Aristoteles gar nicht vor.

Dies ist auch in anderen überwiegend subsistenzwirtschaftlich produzierenden Kulturen nicht anders. Bis zur bürgerlichen Neuzeit ist die leidenschaftliche Liebe für Ehe und Familie nicht sozial konstitutiv, sondern auf vorübergehende, außereheliche Beziehungen beschränkt. So ist z.B. auch das bekannte mittelalterliche "Liebespaar" Abaelard (1079-1142) und Heloisa kein Beispiel einer sozial scheiternden, individuellen, leidenschaftlichen Liebe. [6]

Der Konflikt besteht hier zwischen dem Beruf Abaelards als Lehrer an der Domschule von Notre Dame, wo er die niederen Weihen empfangen hatte, und den Anforderungen eines Ehelebens. Es ist sozial nicht vorgesehen, wenn auch nicht verboten, dass ein Lehrer an einer kirchlichen Schule verheiratet ist. Da die Bildungselite des Mittelalters im wesentlichen durch die Kirche gestellt wird, gilt für sie direkt oder indirekt auch der entsprechenden Verhaltenskodex für Funktionäre der Kirche, und zu diesem gehört das Zölibat.

Dieser Konflikt zwischen Abaelards sozialer Rolle und den sozialen Anforderungen des Ehelebens ist jedoch nicht das Thema, er wird in der Geschichte nicht herausgearbeitet. Warum Abaelard trotz seiner Liebe für Heloisa die letztlich mit ihr geschlossene Ehe nicht lebt und Heloisa nach der Ehe ins Kloster schickt, wird nicht thematisiert. Es gibt dafür keine Sprache und für ein sozial abweichendes Verhalten so wenig Raum, dass es noch nicht einmal als Problem thematisiert werden kann.

Liebe und Ehe haben nichts miteinander zu tun. Wie Duby schreibt, weiß man über die Liebe zwischen Ehegatten im Mittelalter nichts, weil sie kein Thema war, und was man weiß, zeigt an, dass die Liebe aus der Ehe entfernt wurde. [7] Die gelebte Liebe kann nur im Diskurs der Sinnlichkeit, der Verführung und der Sünde thematisiert werden. Für einen positiven Liebesdiskurs ist in dieser theologischen Welt kein Raum.


Liebe als Paarbeziehung

Der Liebebegriff ist in der bürgerlichen Gesellschaft verengt und intensiviert worden, während alle anderen Formen positiver emotionaler Beziehungen mit den Begriffen der Freundschaft, der Sympathie oder eines gutnachbarlichen Verhältnisses näher beschrieben werden. Diese Verengung des Liebesbegriffs auf die Paarbeziehung und zugleich die Intensivierung dieses Liebesgefühls zur leidenschaftlichen Liebe im Europa des 18. Jahrhunderts geht einher mit der Entwicklung des Individuums in der bürgerlichen Neuzeit. [8]

Es ist ein Prozess, in dem Familie, Herkunft, Stand an Bedeutung verlieren und der Einzelne, das individuelle Leben an Bedeutung gewinnt. Es ist auch ein Prozess, in dem die Liebe humanisiert wird. Denn der Liebesbegriff ist im christlichen Mittelalter primär auf die Liebe zu Gott gerichtet. Die Liebe zu anderen Menschen gilt nur als eine abgeleitete Form. [9] Erst mit der Befreiung der Liebe aus dieser theologischen Besetzung kann die Liebe der Menschen zueinander durchweg positiv wahrgenommen werden.

In dem Moment, in dem die mit der Entstehung des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft geschaffenen Produktionsverhältnisse durch die gesteigerte Produktivität und die von der Familie losgelösten sozialen Produktionsformen (Fabrik) die Familie zunehmend mehr von der Notwendigkeit der materiellen Reproduktion befreien und ihr nurmehr nur die Aufgabe der biologischen Reproduktion bleibt, wird es möglich, die Partnerwahl nach persönlichen Gefühlen, nach dem Gefühl der leidenschaftlichen Liebe zu treffen.

Solange jedoch soziale Zwänge noch in einem relevanten Ausmaß bestehen, müssen diese entweder mit der Liebe in Einklang gebracht werden oder aber es muss eine Entscheidung zwischen beiden getroffen werden. Dabei stellt sich die Frage, wie man sich entscheiden soll, mit welcher Wahl man glücklicher wird. Ein großer Teil der Roman- und Ratgeberliteratur kreist im 18. und 19. Jahrhundert um diese Frage, um die Wahl zwischen "Sense" und "Sensibility". [10]

Insofern ist der klassische bürgerliche Liebeskonflikt, die tragische Liebe, wie sie exemplarisch Romeo und Julia erfahren, Zeichen einer Übergangsepoche. Sowohl die ökonomischen Verhältnisse als auch die überkommenen sozialen Regeln erlauben noch nicht wirklich eine Wahl der Partner nach Gefühlen, das individuelle Glücksverlangen richtet sich jedoch bereits auf den durch leidenschaftliche Liebe ausgesuchten Partner.

Die rationale, standesgemäße Ehe, die ohne große Gefühle der Partner füreinander, scheint dieses Glück nicht mehr geben zu können. Dass dieser individuelle Glücksanspruch jedoch bereits sozial anerkannt ist, zeigt sich daran, dass auch für die Vernunftehe in der Regel mit der Aussicht auf ein dauerhaftes Eheglück argumentiert wird, während die Liebesehe als ein Glück von kurzer Dauer beschrieben wird.

Die Wahl des Partners aufgrund eines leidenschaftlichen Gefühls stellt die Paarbeziehung in der bürgerlichen Gesellschaft auf einer Basis, die im Gegensatz zur ökonomischen eine sehr viel geringere Stabilität aufweist. Die immer noch vorhandene Forderung, die familiäre Paarbeziehung solle von Dauer sein - zumindest wegen der biologischen Reproduktion ist eine gewisse Dauer sinnvoll -, gerät in Konflikt mit der neuen, flüchtigen, emotionalen Basis dieser Beziehung.

Während es vorher selbstverständlich war, dass leidenschaftliche Liebesverhältnisse zeitlich begrenzt waren, soll nun auf dem vergänglichen Gefühl der leidenschaftlichen Liebe eine dauerhafte Ehe aufgebaut werden. Neue Probleme entstehen auch deswegen, weil es sich bei diesem Wechsel nicht nur um einen Austausch der Motive für das Eingehen einer familiären Paarbeziehung handelt, sondern der soziale Wandel darüber hinaus auch die bestehenden sozialen Formen für familiäre Paarbeziehungen auflöst.


Liebeskonsum

Das Zusammenleben der Menschen ist sozial vorstrukturiert. Wir leben und handeln immer schon in vorgegebenen sozialen Rollen, Formen, Mustern, Strukturen. Nicht zuletzt ist die Paarbeziehung durch eine Vielzahl solcher Muster strukturiert.

Soziales Handeln ohne solche Vorgaben ist kompliziert und verlangt hoch entwickelte soziale Kompetenzen der Partner. Die Auflösung der ökonomisch nicht mehr erforderlichen alten Familien- und Paarbeziehungsmuster löst damit einen Bedarf an Neuorientierung aus.

Da die Familie in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft von den Notwendigkeiten der materiellen Reproduktion weitgehend freigestellt ist, orientieren sich die neuen sozialen Muster nicht mehr an den Produktionsverhältnissen, sondern an den Konsumverhältnissen. Die Liebesverhältnisse werden als Konsumverhältnisse ausgestaltet. [11] Je nach Generation gemeinsames Essengehen, Kino-, Theater-, Discobesuche. Reisen, Urlaub usw. bilden das soziale Programm der leidenschaftlichen Liebe. Gemeinsamer Aufbau des materiellen Haushaltes und Investitionen in die Kinder bilden das soziale Programm der "alltäglichen" Liebe.

Die neuen Formen des Liebens sind für die heutige warenproduzierende Gesellschaft funktional. Lieben verlangt, miteinander und füreinander bestimmte Waren zu konsumieren. Das gilt sowohl für die romantische, leidenschaftliche Form der Liebe, wie für die alltägliche Paarbeziehung. Jedoch gibt es hierfür je unterschiedliche Konsummodelle.

Die Liebe als Freizeitkonsum steht neben der Partnerschaft als Alltagskonsum. Die Einzelnen verstehen die romantische, leidenschaftliche Liebe als etwas, das einen hohen Stellenwert in ihrem Leben einnimmt und außerhalb des Alltags inszeniert werden muss, man unternimmt etwas Nichtalltägliches miteinander. Dagegen ist die alltägliche Liebe ausgerichtet auf die bürgerliche Kleinfamilie und geprägt durch den gemeinsamen Aufbau eines schönen Haushaltes, die Anschaffung standesgemäßer Güter (Auto, Haus) und die Sorge um das Fortkommen der Kinder. [12]

Hinter den sozial vorgegebenen Konsummustern steht jedoch kein individueller ökonomischer Zwang mehr [13], sondern nur noch ein sozialer Gruppenzwang. Es gibt heute bei uns keine starren Standesregeln und keine eindeutigen Rollenmuster mehr. Zwar gibt es noch die alten Partnerschaftsformen der heterosexuellen Zweierfamilie, und es gibt noch die alten Rollenzuweisungen des erwerbstätigen Mannes und der die Kinder erziehenden Ehefrau, aber diese Formen und Rollen sind nicht mehr verbindlich.

Es sind Spielräume vorhanden, von ihnen abzuweichen, anders seine Partnerschaften, sein Lieben zu gestalten, und eine solche Abweichung ist generell nicht mehr sozial sanktioniert, auch wenn es im Einzelnen immer noch die Diskriminierung bestimmter Liebes- und Partnerschaftsformen, z.B. der Homosexualität, gibt. Es fehlt für neue Formen des Liebens, der Partnerschaft und Familie aber an sozialen Orientierungen. Damit stehen die Menschen vor der Aufgabe, entweder einen oder mehrere Partner zu finden, die zufällig dasselbe wünschen, oder aber mit ihren Partnern zusammen innerhalb des kulturell vorgegebenen Rahmens eigene Formen des Lebens der Liebe erst zu entwickeln.


Lieben lernen

Wenn Familie, Ehe und Liebe in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich gelebt werden, so bedeutet dies, dass die Menschen das "Lieben", wie alle anderen kulturellen Fertigkeiten auch, jeweils erlernen müssen. Die Menschen lernen in ihrer jeweiligen Kultur, wie man sein Leben lebt, und dazu gehört auch, dass sie lernen, wie man liebt. [14]

Man lernt, die Rollen des Liebenden zu spielen. Man lernt die Techniken, wie man sich einander annähert, wie man Kontakt aufnimmt, wie man Übereinstimmung herstellt, wie man das Lieben praktiziert. Das Ende des bürgerlichen Liebeskonflikts zwischen Standesanforderungen und Gefühlen hat daher nicht dazu geführt, dass es keine Liebeskonflikte mehr gäbe.

Auch wenn es keine starren sozialen Formen mehr gibt und die Konsummodelle relativ neutral sind, bleibt die Liebe konflikthaft. Zwar gibt es heute keine Gründe mehr, Partnerschaften auf die dauerhafte Zweierpaarbeziehung zu beschränken, sexuelle Treue - etwas, was es faktisch ohnehin nur höchst selten gab - ist auch offiziell nicht mehr nötig.

Daher könnte man heute z.B. neben der inzwischen ja fast selbstverständlichen chronologischen Abfolge unterschiedlicher Partner auch gleichzeitige Verhältnisse mit weiteren geliebten Partnern neben der bestehenden Beziehung ganz anders leben als früher, wo dies nur in der Form des heimlichen Nebenverhältnisses möglich war. Auch Trennungen, die früher häufig nur in desaströser Form möglich waren, könnten heute anders gelebt werden. Auch ganz andere Formen des Liebens und partnerschaftlichen Zusammenlebens wären möglich. [15]

Dies alles ist jedoch nur selten der Fall. Immer noch ist ganz überwiegend die Kleinfamilie die auf Dauer angelegte Paarbeziehung. Die Gesellschaft stellt für andere Partnerschaften keine sozialen Formen zur Verfügung, da es hierfür keine sozialen Notwendigkeiten gibt. Damit besteht auch nicht die Möglichkeit, dass die Einzelnen im Prozess ihres Heranwachsens lernen, wie man sich anders als in der Kleinfamilie liebt - und dazu gehört das heimliche Nebenverhältnis - und wie man man sich anders als desaströs trennt. Für die Trennung wird immer noch nur das Muster der endgültigen und völligen Trennung sozial vorgegeben. [16]

Die Trennung erscheint für den Verlassenen immer noch als der unverzeihliche Treuebruch, der Bruch des Versprechens lebenslangen Zusammenleben, ein Versprechen, das keine soziale Funktion mehr hat. Wenn man die alten Formen von Liebe, Partnerschaft und Trennung nicht nutzen will und andere nicht gelernt hat, dann steigen die Anforderungen an die Partner, die solche miteinander erst entwickeln müssten, und es sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass man auf einen oder gar mehrere Partner trifft, der / die spontan dasselbe Verständnis von Liebe und Partnerschaft mitbringen.

Der Konflikt hat sich in die Individuen verlagert. Wir dürfen alles, aber wir können es nicht. Denn für vieles, was wir fühlen und wünschen, gibt es keine adäquaten sozialen Formen. Wir selber kennen nur die alten Muster, die unsere Vorstellungen von Liebe und Partnerschaft immer noch prägen. Wir selbst haben es nicht gelernt, Liebe und Partnerschaft anders zu leben, wir finden keine gemeinsame Form und haben es auch nicht gelernt, uns gemeinsam eine passende Form zu erarbeiten. Je mehr die sozialen Formen sich öffnen, je weniger streng sie sind, desto höher werden die Anforderungen an die Individuen, ihre eigenen Formen zu entwickeln. Deswegen leisten heute Paare "Beziehungsarbeit" und gehen zum Familientherapeuten, wenn sie alleine mit den Problemen überfordert sind.

Dass es heute einen größeren Spielraum gibt, weil die sozialen und ökonomischen Zwänge geringer sind, heißt daher noch nicht automatisch, dass die Menschen diesen Raum auch nützen können, um ein mehr an persönlichem Glück zu verwirklichen. Immer noch gibt es Vorgaben, denen man gerecht zu werden versucht, immer noch hat man nur bestimmte Formen des Liebens gelernt. Ein Mangel an gleichermaßen erlernten sozialen Formen und/oder sozialen Kompetenzen und die widersprüchliche Struktur der dominanten Konsummodelle des Liebens sind heute die wesentlichen Gründe für Liebeskonflikte.

Wenn man von dieser Diagnose aus Vorschläge für die konfliktfreiere Gestaltung der Liebesverhältnisse machen will, so bleibt nur, dafür zu sorgen, dass die Menschen die ihnen offen stehenden Freiräume auch nutzen können, dass sie die Widersprüchlichkeiten der gesellschaftlich vorgegebenen sozialen Modelle erkennen und dass sie die nötigen sozialen Kompetenzen erwerben, um in dem immer vorhandenen, vorgegebenen kulturellen Rahmen das, was möglich ist, gemeinsam verwirklichen zu können.


Vortrag des Autors am 23. Mai 2007 anlässlich der Ausstellungseröffnung "Von der Liebe" in der Berliner Galerie Nord und am 06. Juni 2008 beim Philosophischen Frühstück des HVD Nürnberg.


Anmerkungen

[1] Vgl. Thomas Heinrichs: Freiheit und Gerechtigkeit. Philosophieren für eine neue linke Politik. Münster 2002, S.15ff.

[2] Man sieht dies auch an der Entwicklung der Familienpolitik. Während sich die Politik in die Beziehungsverhältnisse kaum mehr einmischt und die einstige Privilegierung der Ehe inzwischen fast vollständig aufgehoben ist, werden im Bereich der Kindererziehung selbstverständlich und allgemein akzeptiert weiterhin politische Regulierungen vorgenommen.

[3] Fromm hat zurecht auf den Bedeutungswandel der Liebe, ihre Modeunterworfenheit verwiesen. Vgl. Erich Fromm: Die Kunst des Liebens. In: Gesamtausgabe, Bd. IX, München 1989, S.441.

[4] Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Annahme ist nämlich auch die "Liebe" nicht universell (so z.B. Bas Kast: Die Liebe und wie sich Leidenschaft erklärt. Frankfurt a.M. 2004, S.18), sondern wie alles menschliche Verhalten sozial geprägt und damit historisch bedingt.

[5] Vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Stuttgart 1969.

[6] Vgl. Abaelard: Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Helioisa. Darmstadt 2004.

[7] Georges Duby: Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter. Berlin 2002, S.35, 47).

[8] Edeltraud Kapl-Blume: Liebe im Lexikon. Zum Bedeutungswandel des Begriffes "Liebe" in ausgewählten Lexika des 18. und 19. Jahrhunderts. In: "Liebe" im Wandel der Zeiten. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. von Klaus Tanner. Leipzig 2005, S.108.

[9] Kapl-Blume. Liebe im Lexikon, S. 109ff.

[10] Vgl. den gleichnamigen Roman von Jane Austen. - Für das auslaufende Geschäftsmodell der Ehe gibt Minheer Drogostoppel in Max Havelaar oder Die Kaffeeauktionen der Niederländischen Handelsgesellschaft von Multatuli (Leipzig 1972) ein gutes Beispiel.

[11] Vgl. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt a.M. 2003.

[12] Dass es Konsummodelle dafür gibt, wie wir "lieben" sollen, heißt nicht, dass Liebe nur noch entfremdet möglich wäre, sondern es ist nur eine sozial vorgegebene Form des Liebens, die ihre Vor- und Nachteile hat wie andere auch. Ein nicht mit dem Konsum von Waren verbundendes Leben einer Liebe wäre in unserer heutigen Gesellschaft unvorstellbar.

[13] Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 1994, S.183.

[14] Zu Recht hat Fromm darauf hingewiesen, dass die Liebe eine "techne" sei, eine Kunstfertigkeit, die man erwerben müsse, vgl. Fromm: Die Kunst, S.440ff.

[15] Zu anderen Beziehungsmodellen vgl. Laura Méritt, Traude Bührmann u. Nadja Boris Schefzig: Mehr als eine Liebe. Polyamouröse Beziehungen. Berlin 2005.

[16] Erste Ansätze zu einem anderem Umgang mit Trennungen zeigen sich in der Familientherapie, wo es bereits spezielle Angebote zur Begleitung der Trennung und zur Durchführung von Trennungsfeiern gibt.


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 23 - Frühjahr 2009, Seite 70 - 76
Hefte für Kultur und Weltanschauung
Herausgegeben von der Humanistischen Akademie Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2009