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BERICHT/195: Menschenwürde in Diskursen humanistischer Organisationen - EHF und IHEU (ha)


humanismus aktuell Heft 22 - Sommer 2008
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Menschenwürde und ihre humanistische Begründung in Diskursen der EHF und der IHEU

Von Sonja Eggerickx


Forderungen

Im Folgenden soll die Tätigkeit von zwei internationalen humanistischen Organisationen vorgestellt werden. Es sind Organisationen, die sich tagtäglich um die Verbreitung, Förderung und Umsetzung des humanistischen Gedankenguts in internationalen Studiengruppen, Mittelstandsorganisationen und Führungsinstanzen bemühen. Dieses humanistische Gedankengut setzt selbstverständlich Werte voraus, die als elementare Eckpfeiler vieler Grundsätze dienen, die man in verschiedenen Menschenrechtsverträgen findet, beziehungsweise die oft sogar deren Grundlage bilden. Dass die humanistischen Organisationen diese Verträge jederzeit mit glühendem Engagement verteidigt haben, liegt auf der Hand.

Aufgrund ihrer Lebenseinstellung steht für internationale humanistische Organisationen die Entfaltung des Menschen an erster Stelle. Dabei haben die folgenden sozialen Zielsetzungen Priorität:

Eine durchdachte Bevölkerungswachstumspolitik und eine ehrliche Verteilung der natürlichen Ressourcen der Welt, um so das Recht eines jeden Menschen auf Nahrung, Unterkunft und Kleidung gewährleisten zu können. Das Recht eines jeden Menschen auf körperliches Wohlbefinden, weswegen diese Organisationen gegen den Krieg und die Todesstrafe sind. Ein weiteres Recht ist das Recht eines jeden Menschen auf Bildung, unabhängig von seinem sozialen Status. Wir wollen die Abschaffung jeglicher Art von Sklaverei, Grausamkeiten, von Folter und Terrorismus. Die vollständige Trennung von Kirche und Staat gehört ebenso dazu wie die Gleichberechtigung auf sozialwirtschaftlicher Ebene.

Wir sind für das Recht eines jeden Menschen auf Selbstbestimmung, gerade auch wenn es um seine sexuelle Neigung, um Abtreibung oder Euthanasie geht. Wir fordern das Recht eines jeden auf den Schutz des Privatlebens, auf eine für jeden Einzelnen würdige und bedeutungsvolle Arbeit. Wir wollen die Mitverantwortung von Personen, Unternehmen und Staaten für die Folgen bewusst machen, die ihre Entscheidungen auf die Umwelt haben. Und schließlich das Recht eines jeden auf den freien Zugang zu Informationen.


Gründung der IHEU 1952

Mit diesen Zielsetzungen vor Augen will ich kurz auf die Geschichte der International Humanist and Ethical Union und der European Humanist Federation eingehen, ihre Arbeit, Tätigkeitsbereiche und ihren inhaltlichen Fokus erläutern.

Ich will mit der IHEU beginnen, eine der ältesten internationalen humanistischen Organisationen überhaupt. Sie wurde 1952 durch das Zusammengehen von zwei synchronen, jedoch völlig unterschiedlichen humanistischen Bewegungen gegründet. Die eine war eine niederländische, die andere eine indische Bewegung. In den Niederlanden kam Jaap van Praag, Gründer und Vorsitzender des Nederlandse Humanistisch Verbond (des Niederländischen Humanistischen Verbandes), selbst jüdischer Abstammung, zu der Schlussfolgerung, dass der weit verbreitete "Nihilismus" (moral indifference) den ungezügelten Aufmarsch des Nazismus während den beiden Weltkriege mit verursacht hatte.

Obschon die übergroße Bevölkerungsmehrheit sich selbst als religiös bezeichnete, fehlte ihr ganz allgemein ein ethisches Bewusstsein. Der Zweite Weltkrieg machte auf eine besonders schmerzliche Weise deutlich, wie außerordentlich wichtig ein auf grundlegenden humanistischen Werten aufgebautes ethisches Bewusstsein für eine friedliche und tolerante Gesellschaft war.

Etwa zum gleichen Zeitpunkt stellte Manabendra Nath Roy in Indien fest, dass Menschen sich von der Politik korrumpieren ließen und zu ethischen Kompromissen bereit waren, um an die Macht zu gelangen. Enttäuscht von dieser Erkenntnis, bildete er seine politische Unabhängigkeitspartei Indian Radicalist Humanist Movement zu einer sozialen Bewegung um.

Verschiedene nationale humanistische Organisationen, darunter der Nederlandse Humanistisch Verbond und die Indian Radicalist Humanist Movement, die zu den größten und einflussreichsten gehörten, veranstalteten 1952, unter Impuls des NHV, einen Kongress in Amsterdam. Zusammen mit dem Belgisch Humanistisch Verbond, der als Gründungsmitglied auftrat, bereitete der Kongress die Errichtung der IHEU bis ins letzte Detail vor.

Das erste Problem, mit dem sich die Gründer beschäftigten, war, einen Namen für ihre Organisation zu finden. Die Amerikaner plädierten für "ethical" im Gegensatz zu den Europäern, die den Begriff "humanist" bevorzugten. Nach 14stündigen (!) Diskussionen entschied man sich dann für die wohl am meisten einleuchtende Lösung. Fortan hieß die neue Organisation International Humanist and Ethical Union. Zwar fehlen die historischen Beweise, aber es wird behauptet, dass alle 400 Anwesenden einen überwältigenden Applaus spendeten.

Beim Ausklang des Gründungskongresses hatte man insgesamt fünf Resolutionen verabschiedet: ein weiterer Grund, zu applaudieren. Zwei Resolutionen waren von größter Bedeutung. Zum einen die Entscheidung, die IHEU tatsächlich einzurichten und zum andern, die Verabschiedung der Erklärung von Amsterdam. Diese Erklärung beinhaltete fünf wesentliche Grundsätze des Humanismus, die der IHEU künftig als Richtschnur für ihre Arbeit dienen sollten.

Zusammengefasst wollte sich die Union für die Umsetzung und Verbreitung folgender Grundsätze engagieren: Demokratie, die Entfaltung des Menschen, der konstruktive Einsatz der Wissenschaft, die prinzipielle Freiheit und Würde des Menschen sowie die soziale Verantwortung. Außerdem wurde beschlossen, der Union das Statut einer Nichtregierungsorganisation zu verleihen und sich so schnell wie möglich der UNESCO anzuschließen. Die vollkommene Verbundenheit mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie verschiedener anderer Verträge, die die UNO zu diesem Zeitpunkt verabschiedet hatte, gehörte ebenfalls zu dieser Erklärung. Noch bevor der Gründungskongress definitiv zu Ende war, stand fest, dass die Union einen pro-UNO-Kurs fahren würde.

Die Presse schenkte dem Kongress viel Beachtung, jedoch nicht immer im positiven Sinne. Das Wochenmagazin Elseviers verglich die Zusammenkunft der Humanisten mit dem Einfall barbarischer Normannen. Anstatt beleidigt zu reagieren und sich über diese Kritik zu entrüsten, fühlte sich der frisch gewählte Vorstand vor allem angeregt, schnellstmöglich an die Arbeit zu gehen, um die grundsätzlichen Erklärungen des Kongresses in die Praxis umzusetzen.


Tätigkeit der IHEU

In den Anfangsjahren der IHEU erreicht der Kalte Krieg allmählich seinen Höhepunkt. Die Russen hatten ein Atomwaffenprogramm entwickelt, das dem der Amerikaner in nichts nachstand. Der Kommunismus breitete sich in Windeseile über verschiedene Kontinente aus und der McCarthyismus erkor die politische Paranoia zum Nationalsport. Hunde und Affen wurden mit Raketen in den Weltraum geschossen und als nationale Helden bejubelt.

Diese Entwicklung und insbesondere die drohende Gefahr eines apokalyptischen Atomkriegs, machte der IHEU Sorgen. Sie sah sich gezwungen, die nach ihrem Initiativnehmer benannte Eaton-Resolution zu verabschieden. Diese Resolution war ein Aufruf, eine neue Denkweise zu entwickeln, losgelöst von ideologischen Richtlinien, beruhend auf einem globalen, kritischen Ansatz.

Unverzüglich wurde eine interdisziplinäre Atomic Bomb Conference einberufen, zu der Wissenschaftler und politische Führer eingeladen waren. Weil Teilnehmer aus den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang fehlten, verfehlte die Konferenz allerdings ihr ursprüngliches Ziel. Trotzdem wurde ein erster Ansatz für eine globale politische Erklärung erarbeitet, die 1962 auf dem Kongress in Oslo weiter entwickelt werden sollte.

Die Anfangsjahre der IHEU wurden geprägt vom ununterbrochenen voluntaristischen Ausbau ihrer Aktivitäten und ihrer Tätigkeitsbereiche, sowohl geografisch als auch inhaltlich. Mit Erfolg konnten verschiedene humanistische Veröffentlichungen über diverse Themen in mehreren Sprachen verbreitet werden. Das Sekretariat der Union wurde ebenfalls weiter ausgebaut und man trat mit verschiedenen humanistischen Organisationen weltweit in Verbindung.

Um 1962 hatten sich verschiedene humanistische Organisationen aus Japan, Korea, Australien, Indien, Israel und Nigeria in der einen oder anderen Form angeschlossen. In Europa dehnte sich die Mitgliedschaft aus wie ein Ölteppich. Organisationen aus Deutschland, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Belgien und den Niederlanden konnten gewonnen werden. Angesichts der wachsenden Mitgliederzahl wurde der Kongress in Oslo zum Erfolg. Rund 450 Mitglieder aus 22 Ländern waren anwesend. Sie wollten in erster Linie die langfristigen Zielsetzungen des Humanismus definieren. Viele Themen wurden behandelt und die Bedeutung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde hervorgehoben.

Gleichzeitig kamen die Teilnehmer zu dem Schluss, dass nur ein größerer Einsatz der UN-Organisationen die Gegensätze zwischen Ost und West aufheben könne. Sie befürworteten ein world government für die Zukunft. Das Manifest, das später als die Oslo-Erklärung bekannt wurde, plädierte für eine neue Perspektive in den internationalen Beziehungen. Dabei sollte die humanistische Tradition der Toleranz als Engagement verstanden werden, eine stetige Verbesserung der Verständigung anzustreben.

Mehr allgemein war dieses Manifest ein Aufruf, um den Kalten Krieg zu beenden, die unterschiedlichen Ideologien auf beiden Seiten zu akzeptieren und für ein friedliches Zusammenleben zu eifern. Verschiedene Resolutionen über das Bevölkerungswachstum, den Hunger in der Welt und eine humanistische Auslegung des internationalen Lebens wurden ebenfalls besprochen und verabschiedet.

In gewisser Weise war der Kongress von Oslo der Startschuss für die IHEU als erwachsene und vollwertige internationale Organisation mit einem spezifischen, eigenen Ansatz für die internationalen Probleme. Auf ideologischer Ebene besaß sie eine deutlich beschriebene und vereinbarte Philosophie und ebensolche Zielsetzungen. In der organisatorischen Praxis besaß sie einen Hauptsitz und eine funktionierende Struktur. Dadurch konnte sie auch aktiv werden und beispielsweise das sehr ehrgeizige Bihar Third World Development Project aufrichten. Leider fehlten paradoxerweise auch in dieser Blütezeit immer die notwendigen Mittel, um die Ambitionen der Organisation in vollem Maße zu realisieren.

Aber auf Basis einer gesamt gesehen erfolgreichen Praxis konnte die Organisation sich selbst weiter entwickeln. Auf Oslo folgten regelmäßige Kongresse - zuerst alle fünf Jahre, inzwischen alle drei Jahre. Im Laufe der Jahre haben sich diese Kongresse stets auf die Erarbeitung humanistischer Ansätze im alltäglichen Leben in einer sich verändernden Welt konzentriert. Die Organisation brachte stets ihre Sorgen in verschiedenen Resolutionen zum Ausdruck, so über das Bevölkerungswachstum, den Hunger in der Welt und eine humanistische Auslegung des internationalen Lebens.

Wegen der heftigen Studentenproteste widmete sich die IHEU der kritischen Untersuchung der Demokratie, wie sie damals praktiziert wurde, aber auch den sozialen Problemen und, erstaunlicherweise bereits zu dieser Zeit, der Umweltproblematik - lange bevor für Al Gore und seine ökologische Route der rote Teppich einer Oskar- Preisverleihung ausgerollt wurde. Wie soeben angedeutet, wollte die IHEU breit aufgestellt aktiv sein. Den Grundsätzen der Freedom From Hunger Campaign der Food and Agriculture Organisation der Vereinten Nationen folgend, nahm die Organisation sich einer verarmten Region in Indien an. Indem man die lokale Produktion und die Lebensbedingungen verbesserte, versuchte man, der lokalen Bevölkerung die Mittel zu reichen, um sich eigenständig einen höheren Lebensstandard zu erarbeiten. Diese emanzipatorische Form der Entwicklungszusammenarbeit war innovierend für eine Zeit, in der man vor allem aus paternalistischen Beweggründen handelte. Leider war das Projekt in den neun Jahren seiner Lebensdauer nur mäßig erfolgreich. Teils lag das an der lokalen Situation, teils an Managementproblemen innerhalb der IHEU.


Entfaltung der Organisation

Während des Kalten Krieges bemühte sich die IHEU stets um einen konstruktiven Dialog mit allen Parteien. Viele waren der Überzeugung, dass das offene Gespräch mit Marxisten und Katholiken über humanistische Werte, wenn auch auf einer minimalen Ebene, die humanistischen Minderheiten in diesen Gruppen unterstützen und kleine Veränderungen ermöglichen konnte. Wie dem auch sei, hat sich die IHEU mit voller Kraft für die Verteidigung einer offenen und toleranten Gesellschaft, der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten engagiert.

Indem die IHEU Ende der 1970er Jahre für die Verteidigung inhärenter humanistischer Kernwerte aufkam, versuchte sie gleichzeitig ihren Bekanntheitsgrad zu steigern. Zu diesem Zweck schlug der damalige Co-Vorsitzende Rob Tielman vor, ein Human Rights Ombudsman-Projekt zu starten. Es sollte eine zentrale Ombudsman-Funktion eingerichtet werden, die ein angesehener Fachmann in internationalem Recht ausfüllen sollte. Seine Aufgabe sollte es sein, Beschwerden von Menschen entgegenzunehmen, die das Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, insbesondere im Bereich der Trennung von Kirche und Staat. Die Funktion sollte auch eine Anlaufstelle sein für das Recht auf den Glaubensverzicht. Aufgrund von vorgebrachten Klagen sollte der Ombudsman eine Untersuchung einleiten und gegebenenfalls Rechtsbeistand leisten, falls Beschwerden an offizieller Stelle eingereicht würden.

Aus diesem Projekt heraus entstand ein beeindruckendes Ombudsteam, dem überwiegend juristisch erfahrene Freiwillige angehörten. Es wurde von einem Kommissar für Menschenrechte (Commissioner for Human Rights) geleitet. Gleichzeitig setzte man sich mit anderen Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International in Verbindung, um Überschneidungen in Tätigkeitsbereichen zu vermeiden und sich über Strategien zu verständigen.

Dem Ombudsteam ging es auch immer darum, politisch heiße Eisen aufzugreifen, die andere NGO's aus unterschiedlichen Gründen nicht aufgreifen konnten oder wollten. Als Beispiele dafür können die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, die Homosexualität und das Abtreibungsrecht genannt werden.

In den 1980er Jahren widmete sich die IHEU, wenn auch mit bescheidenen Mitteln, verstärkt dem Frieden und der Entwicklung im internationalen Rahmen sowie den Menschenrechten. Die Anzahl ihrer Vertreter bei internationalen Organisationen wurde systematisch erhöht, insbesondere in den stets gewichtigeren Organisationen der Europäischen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen. 1983 wurde eine ambitiöse International Humanist Peace Conference organisiert, um erneut nach humanistischen Lösungsansätzen im Atomwaffenwettlauf zu suchen und die Bedeutung des Friedensunterrichts aus einer humanistischen Perspektive zu unterstreichen.

Damals beschloss die IHEU auch, das Ombudsteam-Projekt zu überdenken und seine Schwachstellen zu beheben. In diesem Sinne wurde dem Menschenrechtsprojekt ein Entwicklungsaspekt zugefügt. Über humanistische grass-root-Organisationen in Ländern der Dritten Welt wollte man mit den sozialen Bewegungen in diesen Ländern in Kontakt treten, darunter mit Frauenrechtsgruppen, Friedensbewegungen und mit Organisationen, die sich für die Rechte der Homosexuellen und Aidsopfer engagieren.

Durch Kontakte und Unterstützungsarbeit wollte man diese gesellschaftlichen Akteure in ihren Bemühungen stärken, mehr Selbstbestimmungsrechte zu erlangen. Ihre Mitglieder sollten mit der Theorie über informed consent vertraut gemacht werden. Gleichzeitig wollte man das Bewusstsein innerhalb der IHEU-Mitglieder für Entwicklungszusammenarbeit schärfen.

Ein Projekt, das im Rahmen dieser Entwicklungsstrategie forciert wurde, ist das Institute for the Advancement of Women. Dieses Institut bot Kurse in "juristischer Kompetenz" an, um die spezifische Zielgruppe indischer Frauen ihre Rechten bewusst zu machen, sie über Gesetze zu informieren, die ihr Leben beeinflussen. Die Kursteilnehmerinnen wurden innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft und besonders in führenden Rollen ausgesucht. So konnten sie später ihre erworbenen Kenntnisse an andere Frauen weitergeben. Sie waren sozusagen "Trainerinnen von anderen Trainerinnen". Man hoffte, damit einen Multiplikationseffekt mit diesem Lehrgang loszutreten.

In Indien wurde die Society for the Rehabilitation of the Socially Abandoned eingerichtet. Diese Vereinigung wurde ins Leben gerufen, um jenen Frauen Unterstützung, Unterricht, medizinische und landwirtschaftliche Hilfe zu bieten, die ein Opfer des so genannten "Jogini"-Systems geworden waren. In diesem System opferten sich kastenlose Frauen einer lokalen Göttin, was de facto den Weg in die Prostitution bedeutete. In Ghana wurde die Ghanian Association of Women's Welfare ins Leben gerufen: Sie veranstaltete Kurse in moderner Medizin für Hebammen, die ansonsten nur aufgrund von Traditionen geschult waren.

In den 1990er Jahren gewann die IHEU dank der blitzschnellen Entwicklung der elektronischen Medien weiter an Einfluss. Jetzt war es möglich, Aktionen über Landesgrenzen und selbst Kontinente hinweg schnell zu koordinieren und effizienter aufzutreten. Wenn individuelle Verfechter des Humanismus und der Toleranz gefährdet sind, beispielsweise unter dem Druck fundamentalistischer Regime, kann das Netzwerk der IHEU weltweit sofort in Aktion treten. Die Globalisierung hat eine Intensivierung der interpersönlichen und interorganisationellen Kontakte hervorgebracht. Die IHEU ist nun, wenn man so sagen will, mit einem neuen, transglobalen Motor ausgerüstet. Sie kann in Windeseile eingreifen und aktuelle Probleme lösen helfen.

Heute genießt die IHEU ein Sondermandat als Special Consultative NGO bei den Vereinten Nationen. Dieses Mandat verleiht der Organisation das Recht, Erklärungen vor dem ECOSOC abzulegen, ein Vorrecht, das ihr bis 2000 und vor der Vergabe des Mandats, nicht gestattet war. Die Vertretung bei den Organisationen der UN ist in den letzten Jahren systematisch, wenn auch nicht unumstritten, ausgebaut worden. Fünf Personen sind u.a. als ständige Vertreter bei der UNO in New York hauptamtlich tätig.


Aktuelle Aktivitäten IHEU

Gegenwärtig konzentriert sich die IHEU in ihren umfangreichen Interventionen bei internationalen Organisationen, allen voran die Vereinten Nationen und dem Rat von Europa, darauf, der Verletzung von Menschenrechten aus religiösen Gründen vorzubeugen.

Vor kurzem reichte die IHEU einen Kommentar zur Vorbereitung des White Paper on Intercultural Dialogue und insbesondere bezüglich der religiösen Aspekte dieses Dialogs ein. Der Titel Concerns about the undue religious influence and religious activities compromising human rights spricht Bände. In ihrem Kommentar erläutert und dokumentiert die IHEU mehrere Sorgen der Humanisten bezüglich religiös begründeter Menschenrechtsverletzungen. Die häufigsten Verletzungen betreffen die Meinungsfreiheit, das Recht seinen Glauben zu wechseln oder seinem Glauben abzuschwören, Diskriminierungen von Frauen und Homosexuellen sowie die Versammlungsfreiheit. Das Recht der Frauen, über ihre Fortpflanzung zu bestimmen, Entscheidungen, die den Beginn und das Ende des Lebens betreffen und der freie wissenschaftliche Fortschritt stehen in verschiedenen Regionen erneut unter Druck.

Die IHEU bringt aber nicht nur bestimmte Situationen und Verstöße zur Sprache. Die Organisation engagiert sich umfassend, dass die Universalität der Menschenrechte erhalten bleibt.

Seit geraumer Zeit führen verschiedene internationale Organisationen und Akademiker Diskussionen über die Anwendbarkeit der "westlichen Auffassung" von Menschenrechten in östlichen Ländern. Gleichzeitig wird in östlichen Ländern auf verschiedenen Ebenen - unter anderem durch einheimische Bevölkerungsgruppen - der Vorrang der individuellen Rechte vor den kollektiven Rechten einer Gruppe in Frage gestellt. Als humanistisch inspirierte Bewegung lehnt IHEU diese Entwicklung ab. Jeder Mensch soll die Chance erhalten, sich als Individuum maximal entfalten zu können. Eine Einschränkung dieses Prinzips aus religiösen oder anderen Gründen ist für die IHEU unannehmbar.

Ein gutes Beispiel hierfür sind die Bemühungen der IHEU, auf die Lage der Dalits in internationalen Gremien aufmerksam zu machen. Die Dalits gehören zur untersten Kaste in Indien. Auch in Nepal, Japan und Nigeria gibt es so genannte untouchables, die durch ihre Position in der Gesellschaft mit einer Reihe von existenziellen Probleme konfrontiert werden. In Indien werden diese Unberührbaren regelmäßig aus ihren Wohngebieten vertrieben. Vergewaltigungen durch Angehörige höherer Kasten bleiben ungestraft. Wird ein Unberührbarer, zu Recht oder zu Unrecht, eines Delikts, beispielsweise eines Ladendiebstahls beschuldigt, wird er nicht selten das Opfer der so genannten mob justice. Zeit ihres Lebens, in der Schule, bei der Arbeitssuche oder in ihren gesellschaftlichen Beziehungen werden diese Menschen als minderwertig betrachtet. Von einem humanistischen Standpunkt aus kann eine solche Einstellung nicht hingenommen werden.


Gründung der EHF

1990 kam der Verwaltungsrat zu dem Schluss, dass die Tätigkeit der IHEU mit europäischen Beihilfen unterstützt werden könnte. Dadurch könnten zahlreiche finanzielle Probleme aus dem Weg geräumt werden. Um die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, wurde der Dachverband European Humanist Federation gegründet, der inzwischen die meisten europäischen Mitglieder der IHEU unter seinem Dach versammelt.

Der Dachverband EHF konzentriert sich auf drei große Bereiche, in denen er aktiv ist: ein spezifisches europäisches Aktionsfeld, auf das ich später noch zurückkomme, ist das Lobbying bei den europäischen Einrichtungen und die Suche nach europäischen Mitteln, um die Aktivitäten auszudehnen. Die EHF ist hier eine Brücke zwischen der Europäischen Union und den europäischen IHEU-Mitgliedsorganisationen.

Sie dient auch als Inspirationsquelle für die Errichtung intraorganisationeller lokaler Netzwerke bei der IHEU, beispielsweise in Nordamerika (das North Atlantic Committee for Humanism) und Südasien (South Asian Humanist Network).

In Südasien wird das Ziel wie folgt definiert: "Fokus auf die wirklichen Probleme für den Humanismus in dieser Region: Demokratisierung, Rationalismus, Menschenrechte, Armut, fundamentalistische Wiederbelebung, Aberglaube und Bevölkerungswachstum." Diese lokalen Netzwerke eignen sich vortrefflich, ihre Arbeit auf die lokalen Bedürfnisse auszurichten und die Probleme, mit denen der Humanismus in den jeweiligen Regionen zu kämpfen hat, so effizient wie möglich anzugehen.


Aktuelle Aktivitäten EHF

Der EHF-Dachverband konzentriert sich in erster Linie auf religiös begründete Verletzungen der Menschenrechte. Er beschränkt sich dabei auf Europa. Nachdem die EHF sich zu den Themen der nachhaltigen Entwicklung im europäischen Kontext sowie zu Fragen der partizipativen Demokratie positioniert hat, kämpft sie v.a. für den Erhalt des säkularen Charakters der europäischen Verfassungswirklichkeit.

Wie allgemein bekannt, war eine große Diskussion darüber entstanden, in der Präambel des Verfassungstextes einen expliziten Hinweis auf den christlichen Gott als Inspiration für die gemeinschaftlichen europäischen Werte aufzunehmen. Die EHF betrachtete dieses Vorhaben als eine Diskriminierung von Nicht- und Andersgläubigen sowie eine Bedrohung der strikten Trennung zwischen Kirche und Staat.

Ein demokratischer Rechtsstaat erhält seine Legitimität durch und im Namen des Volkes und nicht, indem er auf eine Religion hinweist. Als eine Stimme von vielen, die sich in dieser Diskussion zu Wort meldeten, plädierte die EHF für eine Verfassung, die völlig neutral auf gemeinschaftlichen Werten wie menschlicher Würde, Freiheit, Gleichheit und Solidarität beruhen sollte.

Das sind Werte, die nicht ohne weiteres exklusiv von der einen oder anderen Glaubensgemeinschaft eingefordert werden können. Auf diese Werte kann jeder Europäer sich berufen und stolz sein, ohne dass er sich unbedingt ein christliches Etikett auf die Stirn kleben muss. Auch der Sonderstatus, der den Religionen in Artikel 52 (vormals Artikel 51) verliehen wurde, war vielen Humanisten ein Dorn im Auge.

Aufgrund dieses Artikels wurde verschiedenen Religionen das Recht eingeräumt, sich in die europäische Gesetzgebung einzumischen. Wir aber meinen: Jeder soll das Recht haben, seine Meinung zu äußern. Wenn bestimmte Religionsgemeinschaften dafür aber einen Sonderstatus erhalten, ist dies diskriminierend und undemokratisch.

Die Einstellung der IHEU und EHF zu einem säkularen Europa wurde von den beiden Organisationen in der Brussels Declaration auf den Punkt gebracht: Sie versucht, den größtmöglichen gemeinsamen Nenner aus allen kulturellen Traditionen Europas zu destillieren. Die Bedeutung, die den Menschenrechten innerhalb dieser Werte verliehen wird, geht daraus hervor, dass sich der zuerst genannte Wert direkt auf die Menschenrechte bezieht: "Wir bekräftigen den Wert, die Würde und die Autonomie jedes Individuums und das Recht eines jeden auf die größtmögliche Freiheit, die sich mit den Rechten anderer vereinbart. Wir unterstützen Demokratie und Menschenrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit und streben die bestmögliche Entwicklung eines jeden Menschen an."

Weiter geht die Erklärung auf die Verantwortung ein, die wir dafür tragen, dass die Natur auch für unsere zukünftigen Generationen erhalten bleibt. Auf unsere Verantwortung gegenüber der grundsätzlichen und totalen Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Religionsfreiheit, der Trennung von Kirche und Staat, der Bedeutung der sozialen Mitverantwortung, des Vorrangs von Toleranz und Meinungsfreiheit, des Rechts auf einen offenen und umfassenden Unterricht, der Ablehnung von Gewalt zur Schlichtung von Streitgesprächen. Die Erklärung betonte unseren Respekt vor der künstlerischen Freiheit und der Freiheit der Wissenschaften.

Ein heißes Eisen für die EU und ihre Mitgliedsstaaten ist gegenwärtig die Asylproblematik. Der EHF-Dachverband setzt sich dafür ein, dass die Gesetzgebung und Praxis in den europäischen Institutionen auf allen Ebenen so human wie möglich ausfällt. Er fordert, dass das Europäische Parlament die heutige Asylpolitik kritisch auswertet, dass die Aufnahme von Flüchtlingen einem Mindestmaß menschenwürdiger Standards entspricht, und dass Migranten einen fairen Zugang zu den Mitteln erhalten, die es erlauben, dass sie korrekt ihren Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis stellen und abwickeln können.

Um das Migrationsproblem an der Wurzel anzugehen, plädiert die EHF für eine Kopplung der Entwicklungspolitik an die Entwicklung der Beziehungen zwischen Nord und Süd. In diesem Sinne befürwortet der EHF auch, dass Europa in der internationalen Politik eine größerer Rolle spielt und sich nicht mit jener unauffälligen Nebenrolle begnügt, die in keiner Weise mit der tatsächlichen Wirtschaftsmacht Europa im Verhältnis steht. Der Ausbau einer rapid deployment force und einer gemeinsamen Außenpolitik unter der Leitung eines demokratischen und mächtigen Europäischen Parlaments kann dafür die notwendigen Voraussetzungen schaffen.

Die EHF erhebt auch in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ihre Stimme, um ihre Werte in den Tätigkeitsbereichen dieser Organisation geltend zu machen. So schlug im Mai 2006 der Verband einen neuen Ansatz zur Bekämpfung der Drogenproblematik vor. Denn trotzt eines Jahrhunderts repressiver Maßnahmen ist der Drogenkonsum nicht zurückgegangen - ganz im Gegenteil.

Vor diesem Hintergrund rief die EHF auf, eine weniger repressive Politik zu führen. Der strategische Fokus sollte auf ausgeglichenen und vorurteilsfreien Informationen liegen.


Perspektiven

Gemeinsam blicken die beiden Organisationen hoffnungsvoll, aber zeitweise auch mit Besorgnis in die Zukunft. Die Welt muss sich heute großen Herausforderungen und Veränderungen stellen. Die natürliche Neigung der Menschen, dieser Entwicklung mit einer konservativen Haltung entgegenzutreten und auf die verhältnismäßige Sicherheit "höherer Mächte" zurückzugreifen, stellt die IHEU und EHF vor besondere Herausforderungen.

Ausgerüstet mit der gesunden Macht der Vernunft brauchen unsere Organisationen sich nicht notwendigerweise und vorab bereits geschlagen zu geben. Es ist meine ganz persönliche Ambition, die von vielen meiner Mitarbeiter geteilt wird, dass die Werte, die wir stets verteidigt haben, sich auch in Zukunft verbreiten, und dass wir um jeden Preis Rückschritte vermeiden müssen. In diesem Sinne werden Sie bestimmt noch von uns hören.


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 22 - Sommer 2008, Seite 53-60
Hefte für Kultur und Weltanschauung
Herausgegeben von der Humanistischen Akademie Berlin
diese Ausgabe in Kooperation mit der Humanistischen Akademie
Deutschland
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"humanismus aktuell" erscheint in der Regel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2008