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BERICHT/173: Seyran Ates erhält Humanismuspreis 2006 (diesseits)


diesseits 4. Quartal, Nr. 77/2006 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Rückenwind für Couragierte Seyran Ates erhält Humanismuspreis 2006

Von Corinna Telkamp


Berlin - In einer feierlichen Veranstaltung verlieh der Humanistische Verband Deutschlands, Landesverband Berlin, am Sonntag, 22. Oktober 2006, den Ossip-K.-Flechtheim-Preis an die Frauenrechtlerin Seyran Ates. Sie teilt sich den mit 2.500 Euro dotierten Preis mit den vier Berliner Schülern Marianne Hachtmann, Wenda Lehmann, Robin und Patrick Hering. Diese konnten durch ihre außergewöhnliche Initiative die Abschiebung einer bosnischen Mitschülerin verhindern.


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"Häufig weht denjenigen, die mutig Zivilcourage zeigen, ein starker Gegenwind entgegen. Umso wichtiger ist, diese Mutigen nicht allein zu lassen, sondern ihnen durch öffentliche Anerkennung Unterstützung zu zeigen", stellt der Berliner Integrationsbeauftragte Günter Piening in seinem Grußwort zur Preisverleihung fest. Wie gut Seyran Ates diese Unterstützung derzeit gebrauchen kann, wusste noch niemand, als die siebenköpfige Jury im Mai dieses Jahres entschied, den Preis an die türkischstämmige Frauenrechtlerin zu verleihen. Der Gegenwind blies ihr so massiv ins Gesicht, dass Ates im August dieses Jahres aus Angst um ihr Leben ihre Arbeit als Rechtsanwältin vorerst aufgab.

Die diesjährigen Preisträger engagierten sich auf unterschiedliche Weise gegen Gewalt. Die vier Schüler der Fritz-Karsen-Schule in Berlin Neukölln verhinderten mit Mut und Zivilcourage die Abschiebung ihrer Mitschülerin Tanja Ristic. Dabei handelten sie nach ihrem Gerechtigkeitsempfinden und entgegen der gültigen Rechtslage. Ihr Kampf gegen die staatliche Gewalt hatte Erfolg. Seyran Ates kämpft seit Jahren als Menschenrechtlerin und Anwältin gegen Gewalt, Zwangsverheiratungen und so genannte "Ehrenmorde". "Es gibt nur wenige Menschen, die sich zu einem so wichtigen Thema in dieser Weise exponieren, so produktiv und provozierend sind und im Interesse der Frauen ein genaues, differenziertes Hinsehen fordern", fasst die stellvertretende Berliner Landesvorsitzende Dr. Felicitas Tesch in ihrer Eröffnungsrede die Jurybegründung zusammen.

Balsam für die Seele

"So ein Preis ist Balsam für meine Seele", sagt Seyran Ates, "das hilft, den Akku wieder aufzuladen." In ihrer Dankesrede erläutert sie vor den etwa 100 Gästen im Berlin-Saal in der Zentral- und Landesbibliothek die Ereignisse der letzten Monate. Zuvor hatte das Jurymitglied Prof. Dr. em. Christina Thürmer-Rohr in ihrer Laudatio die Arbeit der erbitterten Streiterin für die Rechte muslimischer Frauen gewürdigt.

Den massiven Hass ihrer Gegner bekam Ates ständig zu spüren: Drohbriefe, hasserfüllte E-Mails, tätliche Angriffe. Eine solche Attacke auf dem Rückweg von einem Gerichtstermin im Juni brachte den Entschluss: Zu ihrem eigenen und zum Schutz ihrer kleinen Tochter entschied sie sich, ihre Arbeit als Rechtsanwältin aufzugeben. "Der Gegenwind hat mich in die Knie gezwungen", fasst Ates ihre Beweggründe zusammen. Es war ein starker Gegenwind, der gleich aus mehreren Richtungen blies. In der türkischen Community gilt sie als Nestbeschmutzerin, das türkische Massenblatt Hürriyet erklärte sie für "verrückt"; manche linksliberale Deutsche werfen ihr hingegen vor, die Lage der türkischen Frauen zu dramatisieren. Die ständigen Drohungen und Kränkungen schüchterten die Streiterin für Frauenrechte ein, sie begann zu zweifeln. "Ich glaubte plötzlich selbst, für diese Gesellschaft zu weit gegangen zu sein", so Ates, "ich hatte nicht mehr die Kraft, mich dem entgegenzusetzen, auch weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr soviel Rückhalt zu haben."

Erst in dem Moment, in dem sie aufgegeben hat, spürt Ates, dass viele hinter ihr stehen. "Ich habe zwei Leitz-Ordner voller Post zuhause", erzählt sie und dabei klingt sie verwundert und erleichtert zugleich über diese Welle an Solidaritätsbekundungen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie bekommt Ermutigungen aus allen politischen Parteien. Viele betroffene Frauen und solche, die mit Betroffenen arbeiten, melden sich bei ihr. "Es waren viele, die es als Verlust ansehen, wenn diese, meine Stimme verloren geht", erzählt Ates. Das stärkt und ermutigt sie, den Kampf für die Selbstbestimmung der Frauen fortzuführen. Es ist schließlich ihre Lebensaufgabe. "Ich mache weiter", sagt sie wieder kämpferisch.

Zivilcourage zeigt Erfolg

Die Vergabe des Preises an die Jugendlichen beginnt mit einem Gespräch zwischen Jurymitglied Lea Rosh und dem heutigen Direktor der Fritz- Karsen-Schule in Berlin Neukölln, Robert Giese. Sichtlich gerührt schildert Giese den Ablauf der Ereignisse im Jahr 2004. Die Polizei holt die Schülerin Tanja Ristic aus dem Unterricht, angeblich im Auftrag der Mutter. Ein Anruf bei der Mutter zeigt: Diese sitzt bereits im Abschiebegefängnis, auch Tanja soll nach Bosnien abgeschoben werden. In das Land, aus dem sie mit ihrer Familie als Dreijährige geflüchtet ist. Marianne Hachtmann ist heute noch empört: "Ich dachte immer die Polizei ist da, um zu helfen, und dann passiert so etwas." Die Schüler sind entsetzt. Sie organisieren eine Demonstration vor dem Neuköllner Rathaus, sie schreiben Briefe an die politisch Verantwortlichen, sie gehen an die Presse. Einige Lehrer unterstützen die Jugendlichen, andere zeigen sich gleichgültig. "Es gab Lehrer, die sagten, 'das wird schon richtig sein, wenn die Polizei so handelt' oder 'ihr könnt demonstrieren, aber das wird nichts ändern'", erinnern sich die Jugendlichen.

Mit ihrem Engagement haben die Jugendlichen nicht nur Mitschüler und viele Lehrer zum Handeln aufgerufen. Das Grips-Theater inszeniert "Hiergeblieben!" und bringt so das Thema Bleiberecht von Kindern und Jugendlichen auf die Bühne. Der Berliner Integrationsbeauftragte Günter Piening sieht den Fall Ristic als einen Wendepunkt in der Diskussion um das Asylrecht. "Die Aktivitäten der Schüler haben einen Politikwechsel ausgelöst, der nachhaltige Wirkung zeigte", so Piening. Die Aktion hat Erfolg: Tanja Ristic und ihre Mutter können bleiben, ihr Vater konnte im Frühsommer dieses Jahres wieder nach Deutschland einreisen. "Von der Aktion der Schüler geht Signalwirkung aus. Sie ermutigt in jedem weiteren Einzelfall für ein Bleiberecht betroffener Flüchtlingskinder zu streiten", begründet die Jury ihre Entscheidung. Schule sollte solches Engagement unterstützen, mahnt Direktor Robert Giese: "Es ist wichtig, dass Schüler lernen: In einer demokratischen Gesellschaft kann man sich aktiv beteiligen und etwas bewegen."


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Quelle:
diesseits 4. Quartal, Nr. 77/2006, S. 12-14
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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den 11. Januar 2007