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STANDPUNKT/053: Canforas "kurze Geschichte der Demokratie" (Freidenker)


Freidenker Nr. 2-10 Juli 2010
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Canforas "kurze Geschichte der Demokratie"(1)


Luciano Canfora, Professor für klassische Philologie an der Universität Bari, versucht aus der Besichtigung europäischer Geschichte vom antiken Griechenland bis zur aktuellen EU einen Begriff von Demokratie zu gewinnen.

Dabei betet er nicht die zum Überdruss bekannten wohlfeilen Lehrsätze nach, sondern konfrontiert diese mit einem radikalen Begriff von Demokratie, der als Anspruch unterdrückter Gesellschaftsklassen auf realen Einfluss und Gleichheit noch nicht eingelöst ist.

Bei der herrschenden Rede über die Demokratie stellt Canfora eine heillose Begriffsverwirrung fest, die nicht zuletzt den Zweck erfüllt, Demokratie lediglich formal zu definieren bzw. als Fassade oligarchischer Herrschaft zu nutzen.

Bei genauerem Hinschauen stelle man fest, dass "Herrschaftsformen, die in der politischen Theorie gemeinhin als einander fremd oder entgegengesetzt gelten, in der konkreten Wirklichkeit eine enge und irritierende Verwandtschaft aufweisen".

Während der Tyrann gemeinhin als anderer Name für Diktator gebraucht werde, wusste Aristoteles: "Der Tyrann entsteht aus dem Kampf des Volkes und der Menge gegen die Vornehmen, damit das Volk durch diese nicht weiter unterdrückt werde." Hingegen wurde "demokratia" auch im Sinne einer Herrschaft über das Volk gebraucht, davon der Begriff "demokràtor" abgeleitet, der "im Kern dem des Diktators" entsprach.

Canforas Vorrede zu dem Werk endet daher: "Das Problem lässt sich nicht lösen, wenn man die klassenspezifischen Inhalte im Dunkeln lässt, die unter der Oberfläche der 'politischen Systeme' verborgen liegen."(2)


Demokratie retten - vor dem Autor?

Das von Canfora formulierte Anliegen stieß freilich im deutschen Verlags- und Historikersumpf auf wenig Gegenliebe. Ursprünglich plante der Münchner Verlag C.H. Beck die Herausgabe, nachdem das Buch bereits in Italien, Frankreich, Spanien und England erschienen war. Doch vorsichtshalber gab man beim Historiker Hans-Ulrich Wehler ein Gutachten in Auftrag und der urteilte scharfrichtergleich, es handele sich bei Canforas Buch "nicht nur um eine extrem dogmatische Darstellung, sondern um eine so dumme, dass sie an keiner Stelle den Ansprüchen der westlichen Geschichtswissenschaft genügen kann".

Wenn das keine Empfehlung ist. Der "westlichen Geschichtswissenschaft" schaut der 'Kalte Krieg' förmlich aus allen Knopflöchern.

So erschien die "Kurze Geschichte der Demokratie" dankenswerterweise Anfang 2006 im Kölner PapyRossa-Verlag, nachdem das "auf der Grundlage von Gerüchten schon Ende 2005 meist gegen Canfora urteilte".(3)

Der Literaturkritiker Köhler befand auch, dass den Verlag "die ganze Richtung stört" und "was die Verantwortlichen bei Beck wie auch ihre Gutachter offenkundig überforderte: Demokratie ist bei Canfora wörtlich genommen Herrschaft des Volkes - als Herrschaft zumal, die in ihren Mitteln nicht immer zimperlich ist. Als solche kann sie der Freiheit entgegengesetzt sein."

Doch die reaktionären Kritiker finden eine 'linke' Ergänzung in Christoph Jünke, der in mehreren Werken gegen Canfora zu Felde zieht. Er meint, dass sich hier ein "Anwalt des so genannten Volksfrontkommunismus in den Fängen der Stalinismusapologie verfängt" und äußert Verständnis für die Zensoren: "Eine solch stalinistische Sicht auf die Geschichte setzt sich nicht zu Unrecht vielfältigen Anfeindungen aus."(4) Höchst praktisch, der 'Stalinismus': Kritiker Jünkes wie Georg Fülberth, Jürgen Harrer, Otto Köhler, Junge Welt, Neues Deutschland, Blätter für deutsche und internationale Politik, Marxistische Blätter, Ossietzky - alle gelten dem Kritiker Jünke als Vertreter "der nie wirklich entstalinisierten und nun gesamtdeutschen Linken".


Demokratie - für wen?

Womit der Autor den Zorn verdient hat? Die "klassenspezifischen Inhalte" offen zu legen ist der 'rote Faden' von Canforas Werk. Der Widerspruch, wie Demokratie und Sklaverei zusammenpassen, kommt ja schon den Nachdenklicheren in den Sinn, wenn die Griechenland-Legende erklingt. Ein noch in der Neuzeit aktuelles Problem, wie Canforas Frage zeigt: "Wie kam es, dass von den Proklamationen der 'Rechte' durch die Englische und Amerikanische Revolution nie eine Vorstellung und keine Praxis geschaffen wurde, die die Sklaverei in Frage gestellt hätte?"(5)

"Gottes Wille" war für die in Tradition der Reformation stehenden "heiligen Revolutionäre" Englands die zentrale Begründung ihres Tuns - gleiche Rechte für alle mit "angestammten Rechten", die Bewohner ihrer Kolonien fielen ihnen dabei nicht ein.(6) Fast 150 Jahre später: "trotz aller biblischen Emphase (stellt) die amerikanische Verfassung in ihrer ursprünglichen Version von 1787 die Sklaverei keineswegs in Frage.(7)

Neben den offenkundigen wirtschaftlichen Interessen spielt zu deren Rechtfertigung die Bibel die zentrale Rolle. Neben anderen wird Paulus' Brief an die Epheser (6,5-9) zitiert: "Ihr Sklaven, gehorcht Euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Jesus ...". (8)

Bei den französischen Revolutionären war die Sklaverei hingegen Thema, und Canfora zitiert die Rede des Robespierre-Anhänger René Levasseur: "Ich fordere, dass der Konvent - nicht aus einer Laune der spontanen Begeisterung, sondern in Anerkennung der Prinzipien der Gerechtigkeit und getreu der Erklärung der Menschenrechte - erklärt, dass die Sklaverei mit sofortiger Wirkung auf dem gesamten Territorium der Republik abgeschafft ist."(9) Nach streitiger Debatte wurde dies beschlossen, ergänzt um die Formulierung: "Damit erhalten alle Menschen ohne Unterschied der Hautfarbe die französischen Bürgerrechte."(10) Nicht lange, denn Napoleon kassierte die Abschaffung der Sklaverei wieder.


Wahlen?

Als Lehre aus der Niederschlagung der Pariser Commune 1871 mit mehreren zehntausend Ermordeten wird uns Marx ins Gedächtnis gerufen mit dem Hinweis, die Arbeiterklasse könne "nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen".

Nach dem Scheitern der I. Internationale und nach Aufhebung der Bismarckschen Sozialistengesetze begab sich die deutsche Sozialdemokratie auf den langen Marsch der Wahlen im parlamentarischen System. Canfora zeigt, dass ein allgemeines Wahlrecht eben noch gerade keine Demokratie bedeutet(11), und setzt sich mit den zeitgenössischen Illusionen auseinander. Schon in der französischen Revolution von 1848 sei deutlich geworden, dass ein Wahlrecht für alle Männer keinesfalls der radikalen Linken den Sieg garantierte.

In diesem Zusammenhang weist er schonungslos auf zwiespältige Aussagen von Friedrich Engels nach Marx' Tod hin, dessen positive Aussagen zum 'parlamentarischen Weg' er für naiv, weitgehend unbegründet und strategisch in die Sackgasse mündend bewertet.

Gegen dessen - auf Wahlergebnisse gestützte - Hoffnung, "gegen 1900 wird die Armee, früher das preußischste Element des Landes, in ihrer Majorität sozialistisch sein", lobt er den Realismus Karl Liebknechts in "Militarismus und Antimilitarismus", dass sich die Herrschenden die Militärkaste nicht entwinden ließen, mittels der sie die Gesellschaft im eisernen Griff hielten. (12)

Canfora sieht dies in der weiteren Entwicklung zum I. Weltkrieg, der Niederschlagung der Novemberrevolution mitsamt der Ermordung von Karl und Rosa bestätigt.


Faschismus - Variante bürgerlicher Herrschaft

Das schlimmste "Vergehen" Canforas besteht aber in den Augen der Kritiker darin, dass er sich der heute geltenden Doktrin des antitotalitären Konsens' verweigert. Anhand der Faschisierung in den 1920er Jahren weist Canfora nach, dass es sich vom I. bis zum II. Weltkrieg um "einen einzigen Konflikt"(13) handelt.

Im Zentrum der Anstrengungen der Herrschenden stand der Kampf gegen den Kommunismus im Allgemeinen und seit 1917 gegen die Sowjetunion im Besonderen, "taugte doch Russland als Beispiel für den kürzesten Weg zu sozialer Gerechtigkeit".(14)

Der oft zitierte "Europäische Bürgerkrieg" datiert vom Sommer 1918, als ein englisches Expeditionscorps Archangelsk und Murmansk besetzte, in der Funktion des Kriegsministers agierte damals, heute weitgehend vergessen, Winston Churchill. Der hatte 1919 "den Alliierten einen Plan vorgelegt, der die Umgestaltung Russlands in einen föderalen Staat unter einer Regierung vorsah, die das Vertrauen der Westmächte genoss. Dieser Plan wurde schließlich 1991/92 mit der Regierung Jelzin umgesetzt". (15)

Anhand zweier Zitate weist Canfora die Identität der Stoßrichtung nach: Zunächst Hitler im Gespräch mit Völkerbundkommissar Burckhardt:

"Alles, was ich unternehme, ist gegen Russland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, und dann mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden."(16)

Es folgt Churchill 1933 vor der antisozialistischen Liga in London:

"Der von Mussolini verkörperte römische Genius, der größte heute lebende Gesetzgeber, hat vielen Nationen gezeigt, wie man dem drohenden Sozialismus entgegentreten kann; er hat den Weg gezeigt, dem eine mutig geführte Nation folgen kann. Mit seiner faschistischen Herrschaft hat Mussolini eine Orientierung gegeben, von der sich die Länder in ihrem gemeinsamen Kampf gegen den Sozialismus leiten lassen müssen."(17)

Canforas Fazit: "Es gilt als unfein zu sagen, dass die 'liberalen Demokratien' dem Faschismus 'die Hand reichten', um den Linken den Weg zu versperren. Man kann es auch eleganter und sicherlich genauer formulieren: Die Klassen, welche die bis dahin regierenden Parteien (Liberale, Radikale etc.) unterstützt hatten, entzogen diesen allmählich das Vertrauen. Sie verloren den Glauben an die 'parlamentarische Demokratie' und optierten für den Faschismus. (...) Die Unterstützung der faschistischen Bewegungen durch Teile des Großkapitals spielte dabei eine Schlüsselrolle".(18)


Kalter Krieg - Rückzug der Demokratie

Auch mit diesem Kapitel weist Luciano Canfora seine Nichteignung für den 'Antitotalitarismus' nach. "Die Gründung der Bundesrepublik war ein Produkt des Kalten Kriegs"(19), weist er faktenreich nach. Er beschreibt die Zeit von der Gründung des US-"Komitees für unamerikanische Umtriebe", den Aufstieg der Nazis in Adenauers BRD bis zum KPD-Verbot.

Und er zitiert die einstimmige Resolution des US-Repräsentantenhauses 1955: (Das faschistische!) "Spanien ist ein wichtiges Glied Westeuropas gegen den internationalen kommunistischen Imperialismus."(20) In diesem Kontext wird der Algerienkrieg, der Militärputsch in Griechenland, die Kommunisten-'Prävention' in Italien analysiert.


West-Demokraten gegen Ost-Diktatoren?

"Es war ein enormer propagandistischer Vorteil für das westliche Lager, den Begriff 'Demokratie' ganz allein für sich in Anspruch nehmen zu können, während eben dieser Westen gleichzeitig mit Riesenschritten auf die Restauration einer unkontrollierten freien Marktwirtschaft zusteuerte und sich bereits (auch illegaler!) staatlicher Apparate bediente, die im Kampf gegen 'den Kommunismus' zu allem bereit waren. Ein Geschenk des Himmels also, dass man all das 'Demokratie' nennen konnte"(21).

Im Kontext der Westpropaganda untersucht Canfora Soll und Haben, insbesondere der Französischen und der Russischen Revolution. Dabei zeigt er "wie auch die Verfassung der sozialistischen Sowjetunion Eingang in den Fundus fand, aus dem heraus sich das Neuartige in den antifaschistischen Verfassungen Westeuropas und besonders Italiens entwickelte."(22) Diese müssten allerdings "als kodifizierte Bilanzen der Kräfteverhältnisse gelesen werden".

Canforas Anliegen ist es, jenseits hohler Propagandasprüche einen tragfähigen Begriff von Demokratie zu erarbeiten. Die noch zu erkämpfende Demokratie definiert er als institutionell und wirtschaftlich gesicherten gleichen Zugriff aller auf die Entscheidung über öffentliche Fragen.

Dabei gilt ihm soziale Gleichheit als unverzichtbare Vorbedingung von Demokratie. Was nochmals ein guter Grund für die Feindseligkeit der Hohepriester des Kapitalismus ist.


Anmerkungen:

(1) Luciano Canfora, Eine kurze Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur Europäischen Union, Köln: PapyRossa 2006, 404 Seiten; vierte, verbesserte und um ein Nachwort von Oskar Lafontaine erweiterte Fassung 2007, S. 13
(2) ebenda, S. 14
(3) Kai Köhler, Demokratie oder Liberalismus, Luciano Canforas umstrittenes Bild der Geschichte,
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9805
(4) Christoph Jünke, Ein bisschen Demokratie, viel Oligarchie, Luciano Canfora, die europäische Demokratie und die deutsche Linke,
http://www.iablis.de/iablis_/2007/juenke07.html
(5) S. 62
(6) vgl. S.55/56
(7) S. 57
(8) S. 63
(9) Luciano Canfora, a.a.O., S. 59
(10) ebenda, S. 60
(11) ebenda, S. 151
(12) ebenda, S. 162
(13) ebenda, S. 223
(14) ebenda, 5. 220
(15) ebenda, S. 219
(16) ebenda, S. 218
(17) ebenda, S. 228
(18) ebenda, S. 226
(19) ebenda, 5. 285
(20) ebenda, S. 284
(21) ebenda, 5. 355
(22) ebenda, S. 262


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Quelle:
Freidenker - Nr. 2-10 Juli 2010, Seite 8-11, 68. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
Schillstraße 7, 63067 Offenbach
E-Mail: redaktion@freidenker.org
Internet: www.freidenker.de

Erscheinungsweise: vierteljährlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2010