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BERICHT/086: (Finanzmarkt-)Krise - Die progressiven Länder Lateinamerikas als Vorbild (Freidenker)


Freidenker Nr. 1-12 März 2012 - 71. Jahrgang

(Finanzmarkt-)Krise:
Die progressiven Länder Lateinamerikas als Vorbild

Von Tobias Baumann



Immer offensichtlicher wird das Unvermögen der bürgerlichen Parteien zur Krisenerklärung. Statt eine Analyse zu versuchen, moralisieren sie und wähnen die Finanzmarktakteure als vermeintliche Schuldige der Krise identifiziert zu haben. Aber ist das konzeptuelle Prokrustesbett der einseitigen Finanzkapital-Kritik wirklich zielführend?

Nach John Maynard Keynes sind Krise und Arbeitslosigkeit durch staatliche Investitionen, niedrige Zentralbank-Zinsen zu bewältigen, doch bereits in der 'Stagflation' der 1970er Jahre erwiesen sich diese staatlichen Programme langfristig als wirkungslos. Die gegenwärtigen Forderungen nach einem 'Green New Deal' und einem "sozial und ökologisch 'zivilisierten' Kapitalismus" (Michael Heinrich, Kapitalismus, Krise und Kritik, 2010) beziehen sich implizit auf den Linkskeynesianismus, der die Vollbeschäftigung, nicht jedoch die Demokratisierung der sozialen Produktionsbedingungen zum Ziel hat. Keine bürgerlich-staatliche Maßnahme, die ausschließlich auf eine Regulierung des Finanzmarkts zielt, wird die Gewalt der Krise, die nach Harvey (Der neue Imperialismus, 2005) die Gewalt der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals wieder freisetzt, eindämmen. Entscheidend ist daher nicht die Verzögerung von Krisen durch staatliche, keynesianisch begründete Interventionen in den Finanzmarkt, sondern die Bekämpfung der Ursachen aller Krisen.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Gewichtverschiebung zugunsten des Finanzkapitals ist die spätestens seit 2011 mit dem Aufkommen der Vertiefung der europäischen Finanzkrise weit verbreitete Kritik an der "relativen Verselbständigung der Finanzmärkte" ein hegemonialer Konsens, der nicht nur von der schwarz-gelben Regierung getragen wird. Auch viele Sozialisten nehmen diese Zinskritik ernst und behaupten, man sollte die Produktionssphäre, d.h. die sogenannte Realwirtschaft, von Spekulation, Kredit und Zins trennen. Dabei handelt es sich jedoch um einen Trugschluss, die zinskritische Argumentation beruht auf einem Reduktionismus. Finanzmarkttransaktionen sind nicht nur Spekulation, sondern integraler Bestandteil jeder kapitalistischen Produktionsweise: Banken spekulieren genauso wie Unternehmen mit eingesetztem Kapital, um maximalen Profit zu erwirtschaften. Ziel einer von ideologischen Scheuklappen befreiten, schonungslosen Kritik muss deshalb das Kapital sein, nicht allein der Zins.

Das Kurieren an den Leitzinssätzen sowie die reformistische Zinskritik wird auch von Alan Woods, der seit einigen Jahren in Venezuela die Bolivarische Revolution analysiert und fördert, in seinem Artikel "Europa in der Krise" (Dezember 2010) als Antikrisen-Placebo entlarvt: "Die Zinsen bewegen sich auf null und können nicht weiter gesenkt werden". Auch heute fällt auf, dass in den Rezessionsökonomien Süd- und Westeuropas trotz der Krise Investitionen nicht mehr staatlich stimuliert werden können. Mittels des neoliberalen Korsetts versuchen die EU und die nationalen Regierungen, eine - schon sprachlich widersinnige - Ansteckung der Realwirtschaft durch die instabilen Finanzmärkte zu verhindern. Es ist hingegen nicht möglich, die imaginierte "Produktionsstätte", d.h. die angeblich getrennt existierende Realwirtschaft (in der EU haben wir seit 1992 einen einzigartigen regionalen Binnenmarkt, der mehr als nur eine Zollunion mit Freihandelszone ist und mit der Finanzwirtschaft eng verwoben ist), vom übermäßigen Profitstreben der Zirkulationsebene befreien zu wollen. Karl Marx unterstrich bereits im "Kapital", dass Kapitalreproduktion ohne ein entwickeltes Kreditsystem unmöglich ist. Daher müssen beide kapitalistischen Sphären, sowohl die des "Äquivalententauschs", der Zirkulation, als auch jene der Akkumulation, also des produktiven Kapitals, gleichsam kritisiert werden. Marx betonte bereits in seiner gegen den antisemitischen Utopisten Proudhon gerichteten Schrift "Das Elend der Philosophie", dass die Marktwirtschaft (Zirkulation) und Kapital (Akkumulation) trennenden Frühsozialisten letztlich "aus allen Menschen Bourgeois machen" wollten (Nadja Rakowitz, Die Kritik am Zins, 2010).

Es scheint daher kaum ausreichend, die kapitalistische Bank zwingen zu wollen (wie es in den hegemonialen Medien regelmäßig geschieht), vorrangig Kredite zu vergeben und die sich wieder auf vermeintlich ursprüngliche Geschäftstugenden zu besinnen - dies ist eine ahistorische, utopische Argumentation, die Teil der derzeit herrschenden Krisen-Ideologie wurde. Die Demokratisierung der Finanzstrukturen und die Bezwingung des "europäischen Geldadels" (Sahra Wagenknecht in FAZ v. 8.12.2011) können hierbei nur ein erster Schritt eines größeren, radikaldemokratischen Umwälzungsprozesses sein. Nehmen wir ein südamerikanisches Land, die Republik Ecuador, als Beispiel für einen geglückten Kampf sowohl gegen das Finanz- als auch das produktive, nationale Kapital. Das ecuadorianische Schuldenaudit des Jahres 2007 führte im Folgejahr zu einem radikalen Schuldenschnitt, nachdem bewiesen worden war, dass es illegale Absprachen zwischen den privaten Gläubigern und den internationalen Finanzinstitutionen gegeben hatte, um die Gläubiger zu bevorteilen: Die Ausgaben für den Schuldendienst fielen in Folge dessen von 2006 - über 9% - auf 2,5% des BIP im Jahr 2009. Doch auch dieses angemessene Vorbild für Griechenlands Schuldenproblematik darf man nicht aus dem Zusammenhang der Bürgerrevolution, die mit der Wahl Rafael Correas zum Präsidenten von Ecuador im Dezember 2006 einsetzte, lösen, da der Kampf gegen die Finanzmärkte erst in Verbindung mit den weiteren sozialen Fortschritten wirksam ist. Diese historische Erfahrung Ecuadors belegt, dass ein wirklicher Haircut, d.h. eine Emanzipation vom Diktat der Gläubiger sowie des IWF und der Weltbank nur möglich ist, wenn die Kräfteverhältnisse von Kapital und Arbeit sich insgesamt zugunsten der Arbeiterinnen und Arbeiter verschieben.

Bei der Umstrukturierung des Finanzsystems sollte zudem die lateinamerikanische Banco del Sur (Bank des Südens, eigenständige Institution des südamerikanischen Staatenbündnisses UNASUR) ein institutionelles Vorbild sein, denn diese Entwicklungsbank setzt über die Prioritäten des Marktes und der Preissignale eigene Prioritäten bei der Kreditvergabe. "Der Weltmarkt und die von ihm ausgehenden Signale werden von den transnationalen Unternehmen und den Oligopolen beherrscht", wie der Ökonom und ehemalige ecuadorianische Minister Pedro Páez in Neues Deutschland am 10.12.2011 hervorhob. Das EU-Pendant, die Europäische Investitionsbank (EIB), ist laut Páez spätestens seit der Errichtung des gemeinsamen Markts 1992 neoliberal ausgerichtet. Die Bank des Südens ist dagegen ein wirksames Instrument zur Souveränität bezüglich der Ernährungssicherheit, Gesundheit, Energie, Wissensproduktion, Rohstoffe sowie zur Förderung einer kontinentalen Infrastruktur, die nicht mehr nur dem Export von Rohstoffen unter Wert dient. Im Gegensatz zur europäischen Finanzarchitektur verfolgt diese sozialpolitische Ziele, doch wie in Ecuador so ist auch in den Ländern der Bolivarischen Allianz (ALBA) der Umbau der Finanzstrukturen nur als untrennbarer Bestandteil des Aufbaus des demokratischen Sozialismus, der schrittweise und je nach den nationalen Kräfteverhältnissen mit mehr oder weniger Ungleichzeitigkeiten vorkommt, zu verstehen.

Die kapitalistische Überproduktion - Ursache der Krise - wird derzeit durch die zunehmende Umverteilung zugunsten der Reichen verschärft. Laut dem World Wealth Report 2010 von Merril Lynch gibt es in Deutschland 861.500 Dollar-Millionäre. Die europäischen Dollar-Millionäre hielten 2009 im Durchschnitt ein Nettogeldvermögen von 3,17 Millionen Dollar. Der World Wealth Report berücksichtigt allerdings nicht Vermögen in Form von Gebrauchsgegenständen, worunter auch das selbstgenutzte Wohneigentum fällt. Letzteres kann bei vorsichtiger Schätzung mit durchschnittlich 1 Million Euro veranschlagt werden. Das Aufkommen der deutschen Millionäre bei einem Steuersatz von fünf Prozent kann auf dieser Rechengrundlage mit bis zu 107 Milliarden Euro geschätzt werden (vgl. "Steuerdebatte DIE LINKE 2011").

Eine "radikale Transformation" (Nicos Poulantzas) könnte durch eine radikaldemokratische Sammlungsbewegung die Implementierung einer neuen Vermögensteuer zur Finanzierung neuer Sozial- und Wachstumsprogramme in der EU-Peripherie durchsetzen. Kurzfristig sollte der Rettungsschirm EFSF eine "Banklizenz erhalten, was ihm ermöglichen würde, sich zinsgünstig Liquidität bei der EZB zu beschaffen" (vgl. Sahra Wagenknecht in FAZ v. 8.12.2011) und mittelfristig sollte EU-weit oberhalb von einer Milion Euro eine Vermögensabgabe erfolgen. Mit diesen Übergangsforderungen und einer gerechteren Besteuerung ist eine distributive Umkehrung zugunsten der arbeitenden Bevölkerung - dies haben die ALBA-Staaten bereits erreicht - zweifelsohne möglich. Darüber hinaus würde sich eine solche Transformation des europäischen Finanz- und Wirtschaftssystems aufgrund der engen Verflechtung der EU - als Teil des kapitalistischen Zentrums - mit den Ausbeutungsstrukturen des imperialistischen Weltmarkts unmittelbar weltweit auswirken.

Die europäischen Völker sollten deswegen die Krise nutzen und eine sozial harmonisierte EU - der größte Binnenmarkt der Welt! - zur progressiven Allianz des ALBA-Staatenbündnisses machen und nicht bei der Kritik der Finanzaristokratie stehen bleiben, sondern langfristig jede Kapitalform überwinden, um nicht nur die abstrakten, formal-politischen Menschenrechte, sondern auch die materiellen, sozialen Menschenrechte umzusetzen und weltweit einen gleichberechtigten Handel und eine auf Frieden und soziale Entwicklung ausgerichtete internationale Kooperation zu erreichen.


Tobias Baumann ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes in Berlin

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Quelle:
Freidenker - Nr. 1-12 März 2012, 71. Jahrgang, S. 15-17
Herausgeber: Deutscher Freidenker-Verband
Schillstr. 7, 63067 Offenbach
Tel./Fax: 069-83 58 50
Redaktion: Monique Broquard, Am Friedhof 10, 66280 Sulzbach
E-Mail: redaktion@freidenker.org
Internet: www.freidenker.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2012