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BERICHT/074: Lehren aus der Geschichte der Freidenkerbewegung (Freidenker)


Freidenker Nr. 2-10 Juli 2010
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Lehren aus der Geschichte der Freidenkerbewegung

Von Heiner Jestrabek, Heidenheim


In der Spätphase der Weimarer Republik war die Freidenkerbewegung organisatorisch stark und geradezu eine Massenbewegung. Gleichzeitig aber wurden zu keinem anderem Zeitpunkt so erbitterte ideologische Kämpfe geführt.

Der Freidenkerverband mit seinen über 600.000 Mitgliedern war eine bedeutende sozialistische Kulturorganisation, in der alle Strömungen der stark zerstrittenen Arbeiterbewegung vertreten waren. So gab es etwa 1928 Wahlzettel zu den Verbandsgremienwahlen mit zwei Listen: "1. Liste Verbands-Aufbau" des mehrheitlich sozialdemokratischen Vorstands und "2. Liste der Opposition", der überwiegend kommunistischen Opposition.

Das Jahr 1928 war geprägt von heftigsten Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD. Antikommunismus der Regierungspartei einerseits und "Sozialfaschismusthese" anderseits, führten in den folgenden Jahren zur Spaltung von Gewerkschaften, Kulturverbänden, Arbeitersportverbänden und auch des Freidenkerverbandes.

Der Vorsitzende der Freidenker Max Sievers (1887-1944)(1) war ein linkes SPD-Mitglied, hatte dort allerdings keine einflussreichen Funktionen oder Ämter inne. Bis 1921 hatte er zur KPD-Führung gehört und die Partei gemeinsam mit Paul Levi (1883-1930) verlassen. Seit 1922 hatte er den Verein der Freidenker für Feuerbestattung sehr erfolgreich geführt und 1927 die Vereinigung mit der Gemeinschaft proletarischer Freidenker zu einem mitgliederstarken neuen Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung (der sich ab 1930 Deutscher Freidenker-Verband nannte) bewerkstelligt. Bei der Schaffung der Einheit des Freidenkerverbandes waren anfänglich die kommunistischen Funktionäre eine treibende Kraft, vor allem Hermann Duncker (1874-1960). Sievers lehnte die von der rechten SPD-Führung betriebene Politik der "Großen Koalition"(2) ab und wandte sich vor allem gegen deren Inkonsequenz in religionspolitischen Fragen.


Spaltung der Freidenkerbewegung

Das Klima im Freidenker-Verband änderte sich schlagartig, nachdem KPD-Funktionäre ab 1929 auf die Spaltung hinarbeiteten. Die Weisung hierzu kam direkt aus der Komintern-Zentrale(3) und vorangegangen war ein politischer Richtungswechsel. Auf einer den Mitgliedern gegenüber geheim gehaltenen Konferenz Anfang 1928 beschloss Stalin und die Fraktion der KPD um Ernst Thälmann, dass die so genannten "Rechten" die Hauptgefahr in der kommunistischen Bewegung seien. Damit verschärfte sich in allen "Bruderparteien" die "Bolschewisierung" genannte neuerliche ultralinke Ausrichtungsbewegung bei gleichzeitiger Ausschaltung aller oppositionellen Kräfte. Die Sozialdemokraten wurde in verhängnisvoller Weise als "Sozialfaschisten" und als noch gefährlicher wie die Nazipartei eingestuft.

Max Sievers, dem es in erster Linie um die Erhaltung der Organisation ging, wurde zur Hauptzielscheibe der Kritik der Opposition. Sievers sah den Bestand der gesamten Freidenkerorganisation in Gefahr und befürwortete Ausschlüsse. Es kam zu heftigen Differenzen, zur Abspaltung der Opposition und Neugründung der von KPD-Funktionären geleiteten Zentralstelle Proletarischer Freidenker (Umbenennung 1931 in Verband Proletarischer Freidenker, der schon am 3. Mai 1932 durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg verboten wurde). Auch auf internationaler Ebene wurde 1932 die Internationale proletarischer Freidenker in Tetschen-Bodenbach (SR) nach demselben Muster gespalten.(4)

Im Freidenkerverband gab es aber auch oppositionelle Kommunisten, die sich zwar als oppositionelle Kraft innerhalb des DFV verstanden, aber weiter für den einheitlichen Verband kämpften, als Notwendigkeit für einen erfolgreichen Kampf gegen die Kulturreaktion. Sie kämpften um die "Einheit auch gegen die reformistischen Führer" und entlarvten die Spaltungstaktik der KPD-Funktionäre Franz Dahlem (1892-1981) und Horst Fröhlich (1891-1943), bei gleichzeitiger Kritik der "reformistischen Verbandsbürokratie". Der oppositionelle kommunistische Freidenker Erich Melcher (1892-1944) fasste den Kampf um die Einheit im Verband zusammen: "Kulturreaktion und Reformismus können nur bei einheitlicher proletarischer Freidenkerbewegung geschlagen werden."(5)

Nachdem in Deutschland dem Faschismus die Macht übertragen wurde, wurden die Freidenker verboten und brutal verfolgt. Alle Strömungen fanden sich wieder im Exil oder in den KZs. Max Sievers organisierte im Exil die Arbeit des DFV. Die kommunistische Freidenker-Internationale löste sich später sang- und klanglos auf.


Sowjetische Einflüsse

In der Sowjetunion waren spätestens 1928 die innerparteilichen Kämpfe in der KPdSU schon eindeutig zugunsten Stalins (eigentl. Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili) entschieden, und die Periode der "Säuberungen" und der monolithischen Ausrichtung aller Komintern-Parteien begann. In der Sowjetunion begannen die bekannten grausamen Verfolgungen aller oppositionellen Kräfte, die ihren Höhepunkt in den vier Moskauer Schauprozessen fanden.

International anerkannte marxistische Forscher, wie der Begründer des Marx-Engels-Instituts David Rjasanow (eigentl. David Borissowitsch Goldendach, 1870-1938) wurden willkürlich verhaftet und erschossen. Die Ausschaltung vieler selbständig denkender marxistischer Theoretiker machte für die stalinsche Bürokratie durchaus Sinn. An Stelle einer lebhaften und schöpferischen Debatte über die Fragen der marxistischen Theorie und insbesondere des dialektischen Materialismus diktierte die Nomenklatura einen phrasenreichen Pseudomarxismus zur Verschleierung ihrer Diktatur. In der Philosophie wurde der dialektische Materialismus verballhornt, verkürzt, seines lebendigen Gehalts beraubt und zur ideologischen Phrase. Theoretischer Ausdruck dieser Vulgarisierung der marxistischen Philosophie war Stalins Aufsatz 'Über Dialektischen und Historischen Materialismus' Die Geschichte der russischen Revolution wurde bewusst verfälscht und umgeschrieben in der 'Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang von 1938'. Dieser Kanon diente zur verbindlichen Festlegung der Staats- und Parteigeschichte der UdSSR. Was könnte die Geschichtsverdreher da mehr stören, als die Existenz solcher Pioniere wie Rjasanow, der Stalin nach einer seiner theoretischen Äußerungen unterbrach mit den Worten: "Halt ein, Koba, blamiere dich nicht! Jeder weiß, dass die Theorie nicht dein Feld ist."(6)


Bewegung der "Gottlosen"

Eine Besonderheit in der sowjetischen Gesellschaft war auch der Umgang mit dem traditionell stark verwurzelten und mächtigen orthodoxen Klerus und der hierzu als Opposition entstandenen kämpferisch-volksaufklärerischen Gottlosenbewegung. Die Gesellschaft der Gottlosen (Obstsestvo Bezboznikov) wurde 1925 gegründet und nannte sich auch Union der kämpferischen Gottlosen (Soyuz Voynstvnyustsych Bezboznikov). Sie war eine Massenbewegung in der Sowjetunion, die antireligiöse Aufklärung betrieb und in ihren Mitteln nicht immer zimperlich war. A. Lukatschewskij(7) hatte die Funktion des Präsidenten, Emelian Jaroslawski (1878-1943) war der Vorsitzende des Zentralrats des Bundes. Der Bund hatte 1931 fünf Millionen Mitglieder, bei 20 Millionen Sowjetbürgern "die mit der Religion gebrochen und keinerlei Beziehung zur Kirche haben".(8) Die KPdSU hatte zu dieser Zeit drei Millionen Parteimitglieder; im Kommunistischen Jugendverband waren fünf Millionen Mitglieder organisiert. Der Bund gab die Zeitschriften Bezboznik (Der Gottlose) und Antireligionsnik (Der Antireligöse) heraus. Die deutsche Sektion des Verbandes gab auch eine deutschsprachige Zeitschrift Neuland heraus. Der Gottlosenverband hatte einen eigenen Buchverlag, betrieb vielfältige Aufklärungsarbeit, Theater, Filmvorführungen, Vorlesungen und beteiligte sich mit antireligiösen Liedern "Tschastuschkis" ("Vierzeiler") an Demonstrationen. In den Jahren der Revolution und danach stand der Klerus auf Seiten der Konterrevolution, und die Revolutionäre bekämpften deren Einfluss vor allem auf die überwiegend analphabetische Bauernschaft. Dabei wurden, neben positiver Aufklärungsarbeit, auch nicht wenige unschuldige Kleriker verfolgt und ermordet, Kirchen zerstört und Gläubige in ihren Rechten beschnitten. Offiziell war im Sowjetstaat die Religionsfreiheit garantiert. Dieser Anspruch hielt allerdings der sowjetischen Wirklichkeit nicht stand.

Leopold Grünwald (1901-1992), damals Sekretär des tschechoslowakischen Freidenker-Verbands, berichtete über seine damaligen Eindrücke: "Im Spätsommer 1932 kam ich als Mitglied einer Studiendelegation der IPF [Internationale der Proletarischen Freidenker] wieder in die Sowjetunion ... Prof. A. Lukatschewskij, Präsident des Gottlosenverbandes ... der uns auf unserer ganzen Reise durch die UdSSR begleitete, lernte ich in mehreren Gesprächen kennen, die für mich deshalb von besonderem Interesse waren, weil mir der unbestrittene Führer des Atheistenverbandes klipp und klar auseinandergesetzt hatte, dass der Primitivismus der antireligiösen Propaganda nicht nur nicht zielführend ist, sondern der Sache der wissenschaftlichen Aufklärung schweren Schaden zugefügt hat. Ich entnahm seiner Selbstkritik, dass er die Bewegung auf einen fruchtbaren Dialog mit den Gläubigen hinleiten wollte. 1936 ist er plötzlich verschwunden, sein Name wurde aus dem Sowjetlexikon gestrichen, und er fand den Tod im Gulag. Kurz darauf hat Stalin den Gottlosenverband ohne jede Begründung aufgelöst."(9)


Opportunismus gegenüber Klerus

Auch in der Frage des Umgangs mit den Kirchen folgte auf eine unduldsame "ultralinke" Phase eine opportunistische, bei der das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat aufgegeben wurde. Die orthodoxe Kirche wurde hofiert und mit Privilegien ausgestattet.

Die Metropoliten und der führende Klerus wurde in die Nomenklatura(10) aufgenommen und die sowjetische Armee erhielt eine staatlich finanzierte Militärseelsorge. Zugleich mussten die Zeitschriften des Gottlosenverbandes Bezboznik und Antireligionsnik ihr Erscheinen einstellen. 1943 wurden in einer Art Konkordat zahlreiche Privilegien für Kirchenbauten und Errichtung von Priesterseminaren und Akademien für Geistliche festgeschrieben. Der Patriarch Sergej erhielt am 15. Mai 1944 ein Staatsbegräbnis.(11)

Dieses Modell des dirigistischen Umgangs mit Weltanschauungsgemeinschaften übertrug die sowjetische Administration nach 1945 ebenfalls auf die osteuropäischen Volksdemokratien und die DDR. Die teilweise sehr stark in der Vorkriegs-Arbeiterbewegung verwurzelten Freidenkerorganisationen (vor allem in der Tschechoslowakei und im Osten Deutschlands) wurden verboten bzw. deren Wiedergründung streng untersagt. Die Kirchen dagegen wurden institutionalisiert und gefördert. Der Klerus nahm diese Förderung gern an, gemäß seiner traditionell bewährten Praxis, allen Machthabern gegenüber zu dienen. Die stalinistischen und poststalinistischen Staatsparteien setzten auf diese Weise ihre Monopolstellung und alleinige Definitionsmacht in Weltanschauungsfragen und der Frage des Umgangs mit Kirchen und Religionen durch.

Die Freidenkerbewegung dagegen gehörte zu den Opfern des Stalinismus. Sie wurde willkürlichen und aus opportunistischen Beweggründen geopfert. Und diese Stigmatisierung überdauerte sogar die poststalinistischen Realsozialismen. Erst 1988 gab's wieder Freidenker in der DDR.


Aus Fehlern lernen?

Wer aus den Fehlern der Geschichte nichts lernt, ist gezwungen diese zu wiederholen. Wo wir doch für uns die menschliche Vernunft reklamieren, sollten wir Lehren ziehen aus der Geschichte. Warum sollten wir also in einem Antistalinismus ein "Unterwerfungsritual" sehen? An eine luxemburgistische Traditionslinie anknüpfend, sollten wir um unserer Glaubwürdigkeit willen unsere kritische Gegenwartssicht auch mit historischer Selbstkritik verbinden.


Der Artikel stützt sich weitgehend auf das Vorwort von Heiner Jestrabek: "Ist die Welt, das Universum, vernünftig, so ist die Vernunft selbst weltlich", August Thalheimer. Ein jüdischer Schwabe und atheistischer Philosoph. In: August Thalheimer: So ist die Vernunft selbst weltlich. Ausgewählte philosophische und religionskritische Schriften. Herausgegeben von Heiner Jestrabek. Aschaffenburg 2008.


Anmerkungen:

(1) Heiner Jestrabek: Max Sievers. Freidenker, Sozialist, Antifaschist. Ulm 2004.

(2) Die Weimarer Koalition bestand aus SPD, DDP und Zentrum, sie stellten mit Unterbrechungen von 1919 bis 1932 Kanzler und Regierung. Insbesondere die kulturpolitische Rücksichtnahme der SPD gegenüber dem katholischen Zentrum erregten heftigen Widerspruch seitens der sozialdemokratischen Freidenker.

(3) Bestätigt wurde diese Aussage durch Leopold Grünwald, damals Sekretär des tschechoslowakischen Freidenker-Verbands, in einem Interview mit dem Autor in Wien am 23.10.1991 und in dem Buch: Leopold Grünwald. Wandlung. Ein Altkommunist gibt zu Protokoll. Wien 1979.

(4) Nach Leopold Grünwald, s.o.

(5) Dokumentiert in Gegen den Strom, Jg. 1930. Nachdruck, Hamburg 1985.

(6) Zit. nach Isaac Deutscher: Stalin. Eine politische Biographie. Berlin 1990, S. 377.

(7) genaue Lebensdaten unbekannt

(8) Emelian Jaroslawski: Die Gottlosenbewegung in der Sowjetunion. Mit einer Einleitung von A. Lukatschewski. Rede in der gemeinsamen Sitzung des Arbeiterpräsidiums des Bundes Streitbarer Gottloser in der UdSSR mit der internationalen Delegation Proletarischer Freidenker, gehalten am 6. November 1931. Moskau 1933, S.5.

(9) Nach Leopold Grünwald 23. 10. 1991 und in: Wandlung. Ein Altkommunist gibt zu Protokoll. Wien 1979, S. 49-51.

(10) "Namensverzeichnis", ein Verzeichnis der führenden Partei- und Staatsfunktionäre mit ausgewiesenen Privilegien und Vergünstigungen. Ausführlich dargestellt bei Michael Voslensky: Nomenklatura. Rastatt 1980.

(11) Karlheinz Deschner: Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert. Hamburg 1991, S. 152f.


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Quelle:
Freidenker - Nr. 2-10 Juli 2010, Seite 40-43, 68. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
Schillstraße 7, 63067 Offenbach
E-Mail: redaktion@freidenker.org
Internet: www.freidenker.de

Erscheinungsweise: vierteljährlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2010