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STANDPUNKT/056: Die Welt aus den Angeln heben (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 2/15

Die Welt aus den Angeln heben
Satirische Karikatur und gesellschaftlicher Wandel

Von Barbara Kemmer


In der europäischen Kulturgeschichte ist die Karikatur eng mit sozialen Umwälzungsprozessen verbunden. Sie ist Träger und Ausdrucksmittel von zeithistorisch gebundener Kritik und politischer Positionierung. Indem die satirische Bildkunst menschliche und gesellschaftliche Widersprüche mittels komisch-ironischer Übertreibung und Verzerrung offenlegt, mahnt sie zur Reflexion und Besinnung. Gerade die sozialkritische Darstellung ist als epochenspezifisches Zeugnis gesellschaftlicher Verhältnisse, Strukturen und Ereignisse von besonderer Bedeutung. Satirische Spottbilder legen es einerseits darauf an, den Betrachter zum Lachen zu bringen. Andererseits vermögen sie es, für das politische Tagesgeschehen zu sensibilisieren. Denn durch die typisch betonte Kontrastierung von gedachtem Ideal und erlebter Wirklichkeit legt die Karikatur den Finger in die Wunden der Zeit: Sie will irritieren, schockieren, verstören - und nachhaltig wirken.


Warum aber ist die Karikatur als Spiegel gesellschaftlichen Wandels so wichtig? Seit der Erfindung des Buchdrucks wird die Druckgrafik zum wesentlichen Motor von politisch und religiös motivierten Auseinandersetzungen. Die Entwicklung immer effizienterer druckgraphischer Techniken seit der Frühen Neuzeit führte im Laufe der Jahrhunderte zur massenhaften [Re-]Produktion und Verbreitung gedruckter Bildsatire, so dass immer mehr Menschen Kenntnis erlangten vom aktuellen politischen Diskurs.

In der Zeit der Reformation haben einerseits Papstkarikaturen Hochkonjunktur (Abb. 1). Im Zuge der reformatorischen Umwälzungen und den Bauernkriegen sind diese ein wichtiger Teil der protestantischen Propaganda gegen die katholische Glaubenslehre und vor allem gegen deren Repräsentanten. Aber auch die "andere Seite" nutzt die neuen Druckmedien, um ihre spöttischen Kommentare zu verbreiten: So finden sich von dem zum Gegenspieler des Papstes und zur Leitfigur hochstilisierten Luther unzählige illustrierte Flugblätter und Einzeldrucke, die diesen beispielsweise in Esels- oder Teufelsgestalt zeigen (Abb. 2). Das komische Moment solcher Darstellungen wird durch die übertreibende Hervorhebung bestimmter menschlicher Eigenschaften oder gruppenspezifischer Überzeugungen erzeugt. Es handelt sich also um eine Form des Spottbildes, in der dargestellte Personen, ihr Denken und ihr Handeln der Lächerlichkeit preisgegeben werden - nicht selten mit dem immanenten Ziel, die eigene Position als die klügere, bessere, letztlich überlegene zu definieren. In den politischen und religiös bestimmten Glaubenskriegen ist die Karikatur eine äußerst mächtige Waffe der Agitation.

Neben den zahllosen anonym veröffentlichten Grafiken sind mit der Karikatur des 16. und 17. Jahrhunderts insbesondere die Namen der Caracci-Brüder, Gian Lorenzo Bernini, Cornelis Dusart, Jan Steen, Romeyn de Hooghe und Jacques Callot verbunden. Seit dem 16. Jahrhundert verschärft sich die Lage auf der Seite der Künstler in diesem Kontext insofern, als dass das karikierende Bild im Medium der Druckgraphik nicht mehr ausschließlich anonym verbreitet wird. Die Tatsache etwa, dass die Produzenten nun ein Urheberrecht an ihrem Kunstwerk erheben, stellt ein nicht unerhebliches Risiko für sie dar. Durch die Aufhebung der Anonymität waren sie namentlich mit einem Werk verbunden und somit haftbar: Den Künstlern drohten Auftragsrückgang, Anklagen und Haftstrafen bis hin zu Berufsverboten. Dieses Schicksal ereilte etwa den oben erwähnten Sebald Beham. Er gehörte zusammen mit seinem jüngeren Bruder Barthel und dem befreundeten Georg Pencz zu einer Gruppe von Künstlern, die zusammen mit Hans Denck wegen ihrer offenen Sympathie für die Ideen Thomas Müntzers vor 490 Jahren in Nürnberg als die "gottlosen Maler" verurteilt und ob der "revolutionären Gärung im Volke" im Jahre 1525 aus der Stadt verwiesen wurden.

Die ironische, scharfzüngige Polemik an der zeitgenössischen Moral, der Gesellschaftsform und der herrschenden Klasse steht seit jeher im Fokus der satirischen Karikatur. Zunächst drückt sich der Spott beispielsweise in genrehaften Darstellungen von Gegensatzpaaren im Bild der "verkehrten Welt" aus", etwa in der Umdrehung schichtspezifischer Rollendefinitionen - wie der ironischen Kontrastierung von Figuren wie König und Bauer, Prasser und Bettler. In solchen thematischen Zusammenhängen kommen nicht nur die bildhafte Verkehrung von zeitspezifischen hierarchischen Ordnungen zum Tragen, sondern auch die pointiert vorgetragene Problematisierung damit verbundener Realitäten - "arm" versus "reich", "herrschend" versus "unterdrückt" etc. Eine solche Polemik äußerte sich indes auch in anderen Diskursen der Zeit: Dazu gehören im frühen 16. Jahrhundert Bilderfindungen wie der "Kampf um die Hose", in dem die Geschlechterrollen thematisiert werden und die Frage diskutiert wird, wer in persönlichen Paarbeziehungen sowie in der Gesellschaft die sprichwörtlichen "Hosen anhat" (Abb. 3). Darüber hinaus taucht allenthalben der Narr in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf: In Darstellungen der "Weibermacht" versinnbildlicht er den törichten Mann, welcher der Frau zum Opfer fällt. Aber auch in der antiklerikalen und antiprotestantischen Bildpropaganda findet sich der Narr mit Schellenkappe im Gefolge des Papstes oder im Kreise der Anhänger Luthers. In Bezug auf den katholischen Klerus wird sehr häufig die sexuelle Wollust thematisiert und satirisch kommentiert: Als Kontrapunkt zum gedachten "Ideal" der Keuschheit dienen derartige Bilder dazu, Mönch und Nonne der Bigotterie, Heuchelei und Verlogenheit zu überführen.

Aber nicht nur das Christentum wurde in der Frühen Neuzeit im Kontext antireligiöser Bildpropaganda bedacht: Auch antijudaistische Druckgraphiken und Pamphlete mit Darstellungen wie dem "Judenschwein" oder sogenannten Hostienschändungen finden im mittels der Bilder geführten Diskurs (und Krieg) weite Verbreitung und tragen damit zur Meinungsbildung der Massen bei. Das satirische Bild von als "fremd" wahrgenommenen Gruppen (u.a. luden, Orientalen, sog. Zigeuner) findet sich überdies sehr häufig: Mittels Hervorhebung vermeintlich "typischer" Eigenschaften wurden diese als "anders" gezeichnet und derart als gesellschaftliche Außenseiter definiert.

In der Geschichte der politischen Karikatur waren natürlich Personen der Öffentlichkeit und die mit diesen verbundenen Machtpositionen und strukturellen Hierarchien von besonderem Interesse: Der Spott trifft daher auf tatsächliche oder vermeintliche Charakteristika von König_innen, kirchlichen Würdenträgern, geistigen und weltlichen RepräsentanLinnen. In Hinsicht auf Individuen nimmt die Porträtkarikatur einen besonderen Platz ein: Das Hervorstechende im menschlichen Antlitz wird dabei ganz genau in den Blick genommen. Durch die überspitzte Formulierung individueller Gesichtszüge werden ganz bestimmte Wesensmerkmale unterstrichen oder gar verabsolutiert - und so auf den Punkt der intendierten Aussage gebracht.

In diesem Kontext ist es wichtig, ganz allgemein zu unterscheiden zwischen zweierlei Formen der Karikatur eines Individuums oder einer Gruppe: Eine lediglich auf verachtendem Hohn basierende, oft flach und geistlos daherkommende "Komik" legt es primär oder ausschließlich darauf an, Menschen und deren Dasein in irgendeiner Form lächerlich zu machen oder zu denunzieren. Dem gegenüber steht die Methode einer eher subversiv ausgerichteten, hintergründigen Karikatur, die bestimmte humane Eigenschaften und gesellschaftspolitische Realitäten aufs Korn nimmt - mit der Absicht, Denkgewohnheiten aufzubrechen, Gegebenheiten kritisch zu beleuchten und herrschende Machtstrukturen infrage zu stellen.

"Im Menschen selbst liegen die Hebel, diese unsere verbrauchte Welt aus den Angeln zu heben." (Hugo Ball)

Die anklagenden Radierungen des Spaniers Francisco de Goya zu Beginn des 19. Jahrhunderts, welche die Irrungen und Wirrungen des Menschen auf schonungslose Weise wiedergeben, haben sich der Aufldärung und des mahnenden Aufrufs verschrieben (Abb. 4). Mit Goya setzt eine Welle betont sozialkritischer und an den moralischen Missständen der bürgerlichen Gesellschaft interessierter Karikatur ein. Auch William Hogarth ist in diesem Sinne zu verstehen: Seine mit spitzer Feder gezeichneten grafischen Werke sind äußerst detailreich, alltagsnah gese1lschaftskritisch, ausgesprochen komisch und höchst bissig zugleich (Abb. 5). In seinem OEuvre finden sich auch viele erzählende Serien. Er entblößt in seinen "komischen Historien" das Lächerliche, Wahnwitzige im menschlichen Verhalten, schildert spitzbübisch und hintergründig Geschehnisse und karikiert und kommentiert herrschende Verhältnisse komprimiert in einem Bild.

Politisch bieten im "langen" 19. Iahrhundert unter anderem die Französische Revolution, die napoleonischen Befreiungskriege, die sog. Restauration und der sog. Vormärz die Folie für spezifische Darstellungen des jeweiligen Gegners: Einerseits finden sich darunter nationale Feindbilder, andererseits solche bestimmter sozialer Gruppen. So wird beispielsweise der dekadente Bourgeoise oder satte "Bürgerkönig" in der fiktionalen Figur des "Robert Macaire" gezeigt - geldgierig, frömmelnd, überheblich und skrupellos. Honoré Victorin Daumier nutzt diesen Figurentypus für die von dem republikanischen Verleger Charles Philipon seit 1832 herausgegebene Satirezeitschrift Le Charivari, der Nachfolgezeitschrift der seit 1830 im Paris der Julirevolution erscheinenden Le Caricature. Wegen Majestätsbeleidigung steht Charles Philipon am 14. November 1831 vor Gericht. Im Gegensatz zu dessen Freispruch steht die Bestrafung von Honoré Daumier, der wenig später zu einer halbjährigen Haftstrafe verurteilt wird. Der Grund für die Anklage war eine bissige Karikatur auf den "Bürgerkönig" Louis-Philippe, den Daumier als gefräßiges Ungeheuer darstellt und in Anlehnung an Rabelais "Gargantua" nennt (Abb. 6). Das OEuvre Daumiers bietet aber gleichsam eine Fülle antiklerikaler Bildsatiren. An dieser Stelle sei lediglich auf die Lithografie "Anbetung der Hl. Unwissenheit" verwiesen, die am 9. Februar 1872 in Le Charivari abgedruckt wurde und den Widerstand der katholischen Kirche gegen die Einführung allgemeiner kostenfreier Schulen in Frankreich thematisiert (Abb. 7).

Die Fülle der im 19. Jahrhundert erscheinenden Satirezeitschriften lässt sich nicht allein mit den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen in der Folge der Industriellen Revolution erklären. Die massenhafte Produktion von Zeitungen und deren Etablierung als modernes Massenmedium hängen eng mit der Entwicklung effizienterer Drucktechniken, genauer der Lithografie und der Möglichkeit des Vielfarbendrucks, zusammen. Die herausgegebenen Politmagazine tragen dabei nicht zwangsläufig revolutionäre und progressive Züge im Sinne der Aufklärung. So ist der seit 1841 erscheinende, englische Punch, der den Untertitel "London Charivari" führt, ab Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichsweise konservativ ausgerichtet. Ebenso wie der in Deutschland publizierte Kladderadatsch, der mit der 1848-Revolution noch eher linksliberal eingestellt ist, im Zuge des Kulturkampfes im späten 19. Jahrhundert zwar antiklerikal und papstkritisch bleibt, jedoch auf eine Bismarck-freundliche Linie schwenkt. Nach dem Verkauf an den Industriellen Hugo Stinnes 1923 werden in das Blatt gar rechtskonservative und antisemitische Inhalte aufgenommen. Ganz anders der Simplicissimus, der seit 1896 zu einer antiklerikalen, antifeudalen und antimilitaristischen Institution im deutschsprachigen Raum aufsteigt. In der Zwischenkriegszeit und der Weimarer Republik wird das Blatt zum Sprachrohr der intellektuellen Elite, die nach den Übergriffen von SA-Schlägertrupps 1933 ins Exil gehen.

Künstlerisch nehmen insbesondere Vertreter von "Dada" und "Neuer Sachlichkeit" Einfluss auf die Karikatur in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus: Die mit rasiermesserscharfem Strich dahingeworfenen, höchst gesellschaftskritischen Zeichnungen eines George Grosz etwa attackieren das bürgerliche Wertesystem und Verhalten, das als bigott, verlegen, bösartig und unmenschlich definiert wird - und das dem Künstler als Ursache für Krieg und Zerstörung gilt. Indem Grosz und seine Mitstreiter den Habitus des "Kulturmenschen" in ihren Arbeiten als Maskerade erkenntlich machen, verweisen sie auf das Nichts, das sich dahinter verbirgt. Ohne Ausnahme wird allen Vertretern der Gesellschaft - von der Hure über den Spießbürger bis zum Priester - der Spiegel vor das maschinenhafte, enthumanisierte Antlitz gehalten.

Eines ist sicher: Die Karikatur ist seit jeher ein öffentlichkeitswirksamer Mittler politischer Inhalte und mächtige Waffe in der propagandistischen Meinungsmache. Als Folge verschiedener "Medienrevolutionen" - vom Holzschnitt bis hin zur digitalen Fotografie - konnten immer mehr Menschen teilhaben an dem mittels Bildern geführten Diskurs. Das besondere Potential der karikierenden Darstellung liegt dabei in dem Aufbrechen von Seh- und Denkgewohnheiten. Gut gemachte Satire berührt, erfreut, erschüttert - kurzum: bewegt! Sie ist subversiv, rebellisch, aufklärerisch und sie sucht nach Alternativen. Sicher, der Blick in den Spiegel kann schockieren, er kann schmerzhaft sein, aber er kann auch zur Katharsis führen. Diese Hoffnung bleibt. Wir sollten daher öfter einen Blick riskieren. Ob der Mensch sich darin selbst zu erkennen vermag, ist heute wie einst die drängende Frage. Die Aufgabe indes besteht weiterhin: Immer wieder gilt es dorthin zu zeigen und zu schauen, wo's wehtut. Wenn dabei Lachen unseren Weg begleitet, umso besser - oder, um es mit Grimmelshausens Simplicissimus zu sagen: "Es hat mir so wollen behagen, / Mit Lachen die Wahrheit zu sagen."


Barbara Kemmer M.A. Kunsthistorikerin, wissenchaftliche Volontärin am Mittelrhein-Museum Koblenz, Forschungsschwerpunkt: europäische Malerei, Zeichnung und Druckgraphik des 16. bis frühen 20. Jahrhunderts (Fokus: Belgien, Deutschland, Niederlande).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1:
Sebald Beham, Höllenfahrt des Papstes, Einblattholzschnitt, 1524 (Ausschnitt)

Abb. 2:
Erhard Schön, Des Teufels Dudelsack, Einblattholzschnitt, um 1530

Abb. 3:
Jan Theodor de Bry, Sieben Frauen rauffen sich umb eine Bruch, Kupferstich, 1595

Abb. 4 (oben):
Francisco de Goya, Caprichios, Bl. 70: Das fromme Gelübde. 1797/98

Abb. 5 (unten):
William Hogarth, Credulity, Superstition, and Fanaticism, 1762

Abb. 6:

Honoré Daumier, Gargantua, 1831

Abb. 7:
Honoré Daumier, Anbetung der Hl. Unwissenheit, Lithografie, 1872

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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 2/15, S. 2-8, 44. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Tilsiter Str. 3, 51491 Overath
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2015

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