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STANDPUNKT/049: Europas christliche Werte und die "unantastbare Menschenwürde" des Einzelnen (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 3/11

Europas christliche Werte und die "unantastbare Menschenwürde" des Einzelnen

Von Rolf Bergmeier


"Die Menschenwürde ist unantastbar", lautet der erste Satz von Artikel eins des Grundgesetzes. Damit macht die Verfassung die Achtung der Würde des Menschen zum wichtigsten ihrer Grundsätze. Auf den ersten Blick klingt dieser Satz unumstößlich und so "würdevoll", dass er selbst unantastbar scheint. Aber was ist eigentlich "Menschenwürde"? Woher stammt der Begriff? Und: Ist sie unwandelbar, keinerlei gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen, ein ehernes Mahnmal in einer leichtlebigen, vom Tanz um das goldene Konsumkalb gekennzeichneten Epoche?


Und was hat es mit den "Werten" auf sich, die, nach Meinung einer ehemals großen Volkspartei mit dem großen "C" im Namen, vom Christentum und dem dort formulierten Menschenbild ableitbar sein sollen und deshalb meist nur im Doppelpack gehandelt werden: "Christliche Werte". 47 Seiten hat die "CDU-Wertekommission" unter Leitung des damaligen, inzwischen wegen Betruges geschassten, rheinland-pfälzischen CDU-Chefs Christoph Böhr im Dezember 2001 unter dem Titel "Die neue Aktualität des christlichen Menschenbildes" zusammengeschrieben. Das Programm wurde vom damaligen Generalsekretär der CDU, Laurenz Meyer, mit den Worten vorgestellt: "Unsere Werte, die Fundamente, auf denen unsere Gesellschaft gebaut ist, sind heute und in Zukunft ... dieselben wie zuvor." Also ewige, zudem christliche Werte? Nicht einmal geht das blamabel platte Werk auf die antike Philosophie mit ihren wertesetzenden Maximen, auf die griechisch-römische Kultur oder die Denkansätze der "Aufklärung" ein. Waren also Sokrates, Platon, Cicero, Seneca und David Hume wertlos?

Letztlich meldete sich der ehemalige Ministerpräsident Baden-Württembergs, Erwin Teufel, ein wackerer tiefschwarz-katholischer Politiker aus dem schwäbischen Rottweil, der sich nach seinem Abgang als Ministerpräsident trotz fehlenden Abiturs in der Münchner Jesuiten-Hochschule für Philosophie einschreiben durfte und das Philosophie-Studium nach vier Semestern abbrach, wieder zu Wort: In einem FAZ-Beitrag empört sich Teufel am 2. August 2011, die Lage der Partei sei ernst, die Wirtschaft sei zum Selbstzweck verkommen, die christliche Identität der CDU verloren gegangen. Wenig später assistiert ein weiterer, ebenfalls schon etwas angegrauter CDU-Politiker, Bernhard Vogel, Ex-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen. Vogel mahnt die Unterstützung der CDU durch die Kirche an und denkt dabei an einen Hirtenbrief der Bischöfe, in dem zur Wahl der CDU aufgerufen wird. Im Übrigen, meint er, sollten "wir Christen mehr auf die Kirche hören" (Welt-Online, 14.8.2011).


Christliche Werte?

Für die meisten Politiker scheint es klar zu sein: Deutschlands "Werte" sind christlich und, weil sie göttlich sind, auch ewig. Ohne diese christlichen Werte werde der Gesellschaft der Boden unter den Füßen weggezogen. Zwar zeigt schon der erste Augenschein, dass Gesellschaften ohne christlichen Fundus nicht minder gut aufgestellt sind, man denke nur an die muslimisch-arabischen Staaten, an Japan oder an die Indianer Nordamerikas, die überhaupt erst als Folge der Durchsetzung "christlicher Werte" aus ihrem Paradies mit dem Glauben an die Naturgötter und aus dem daraus abgeleitete Wertesystem herausgefallen und in eine eher betrübliche christliche Gegenwart hineingestoßen worden sind. Auch könnte man sich fragen, wo denn im christlichen, von Terror zwischen Protestanten und Katholiken geprägten Irland die "christlichen Werte" zu finden und wie Inquisition und Index Librorum Prohibitorum mit der Bergpredigt zu vereinbaren sind. Ohnehin bleibt dem Fragenden rätselhaft, wie Athener und Römer in vorchristlichen Zeiten ohne christliche Würde und Werte haben leben können und dennoch eine einmalige Hochkultur entwickelten mit Philosophenschulen, in denen das ausformuliert wurde, was wir heute Ethik nennen. Man könnte also Fragezeichen über Fragezeichen hinter dem Anspruch der "fundamentbildenden christlichen Werte" setzen, aber was zählen globale Betrachtungen, geschichtliche Kenntnisse und philosophische Erwägungen, wenn sich Politiker verpflichtet fühlen, dem Volke religiöse Werte zu predigen.

Und so wird ganz unverdrossen drauflos geplappert, die grundlegenden Werte unserer Republik und der Begriff von der Würde des Menschen seien ganz wesentlich aus dem christlichen Lehrsatz der Gott-Mensch-Ebenbildlichkeit (1 Moses 1,27) ableitbar. Folglich forderten in der Vergangenheit deutsche Politiker, "Gott" als ein wertedefinierendes Merkmal einer europäische Verfassung voranzustellen. Was, dank unserer Nachbarstaaten, abgewehrt wurde.

Diese Debatte um die Gott-Mensch-Ebenbildlichkeit und um die angeblich daraus ableitbare gottgegebene Menschenwürde sollte man so rasch wie möglich vergessen. Sie ist eine logisch und theologisch unsinnige Gespensterdebatte. Denn sie unterstellt, dass Gott erkennbar ist (Spiegelbild des Menschen), was wiederum seine Unendlichkeit und damit seine Göttlichkeit grundsätzlich in Frage stellt. Im Übrigen ist die Gott-Mensch-Ebenbildlichkeit durch die Kirchenlehre selbst widerlegt: Gott straft die Menschen mit Vertreibung, Sünde und Tod, löscht sie in einer Sintflut aus und schickt sie am Ende aller Tage als massa damnata in die Hölle. Warum sollte Gott so handeln, wenn nicht wegen der substantiellen Andersartigkeit der Menschen? Die Gott-Mensch-Ebenbildlichkeitsdebatte ist also Phraseologie in Reinstform, lediglich geeignet, eine tiefer gehende Werte- und Würdediskussion zu umgehen und diese stattdessen in archaische Denkweisen einzumauern.


Wir waren schon einmal weiter: Wertedebatte im vorchristlichen Rom und Athen

Die griechische Antike (Vorsokratiker, Platon, Aristoteles) kennt den Begriff der Menschenwürde nicht. Wollte man einen Ansatz in der Antike suchen, dann wäre dieser am ehesten im Begriff humanum zu suchen. Die aber sieht etwa Aristoteles nicht in einem der zahlreichen Götter verankert, sondern in der Vernunft. Aus der Tatsache, dass der Mensch als rationales Wesen in einer Gemeinschaft lebt, folgt für Aristoteles, dass sich die Würde eines Menschen danach bemisst, was er für die Gemeinschaft leistet. Würde muss man erwerben, sie wird messbar und man kann sie auch wieder verlieren.

Die Adepten griechischer Kultur und Wissenschaft, die römischen Denker, kennen den Begriff der Menschenwürde ebenfalls nicht, wohl aber den der humanitas. Erstmals um 90 v.Chr. in der anonymen Schrift Rhetorica ad Herennium diskutiert, verknüpft Cicero (106-43) die humanitas mit der griechischen paideia: Humanität sei dem Menschen nicht angeboren, sondern werde erst durch Erziehung zur humanitas geformt und gebildet. Zur humanitas, schreibt Cicero, gehöre neben Gerechtigkeit auch liebenswertes Miteinander, Muße, Freude an einer gepflegten Sprache sowie vor allem eine schwerelose und verbindende Geistigkeit. Der rücksichtslose Mensch, der sich für andere Menschen nicht interessiere, sei nicht human. Cicero ergänzt in seinen Schriften De re publica und De officiis den Begriff der humanitas mit dem der dignitas (Würde, Würdigkeit). Dort, wo er vom Menschen im Gegensatz zum Tier redet, billigt er allen Menschen eine spezifisch menschliche Würde zu, "weil wir alle an der Vernunft teilnehmen, an dieser Vorzüglichkeit, mit der wir die Tiere übertreffen". Würde erhalte der Mensch demnach, weil er im Gegensatz zum Tier vernünftig sei, und zwar zunächst unabhängig von seinen Leistungen. Allerdings müsse er sich diese Würde durch ein entsprechendes Verhalten (kein Luxus, keine Prunksucht) bewahren. Dies hänge auch ganz wesentlich von seinen gemeinschaftsdienlichen Leistungen ab. Man könnte dies vergleichen mit einem Glas, das bei der Geburt mit einer bestimmten Menge Flüssigkeit (= Würde) gefüllt ist. Im Laufe des Lebens könne die Flüssigkeit zu- oder abnehmen.

Dem Großmeister Cicero folgen die Tugendlehrer Vergil, Livius, Seneca, Tacitus und Horaz. Letzterer fordert von seinen Lesern: "Wage, weise zu sein", ein Spruch, den Immanuel Kant leicht abgewandelt zum Leitspruch der Aufklärung machen wird: "Bediene dich deines Verstandes". Als Höhepunkt der antiken Tugend- und Wertelehre gilt die Philosophie der Stoa, die die Liebe zu allen Menschen und Völkern fordert und damit die christliche "Nächstenliebe" vorwegnimmt.

Auch nach dieser lediglich skizzenhaften Erörterung wird deutlich, auf welch hohem Niveau jahrhundertelang in der Antike um Begriffe wie Würde und Werte gerungen wurde. Der geradezu dramatische formale und semantische Abfall zu einer undiskutierbaren christlichen Dogmatik, die keiner weiteren Begründung bedarf, ist unübersehbar und hat dazu geführt, dass die ehemals lebendige Diskussion um epochenabhängige Werte völlig verflachte und es der Priester bedurfte, um die nunmehr statischen "Werte" zu interpretieren. Natürlich im Sinne kirchlicher Vorgaben. Und so haben die Philosophen abgedankt, und so sind die Priester zu Lehrmeistern der Ethik geworden, die nun als Tugendwächter in allen möglichen Fernseh- und Ethikräten sitzen, einschließlich eines Rates, der über den Ausstieg aus der Kernenergie zu befinden hat.


Einwand: Die antike Sklavenhaltergesellschaft

Der Haupteinwand, die Antike sei Schöpfer allgemein gültiger Vorstellungen über die Würde und Rechte der Menschen gewesen, ist der Hinweis auf die Sklavenhaltergesellschaft, die Sklaven als frei verfügbare Sache einstuft. Der Einwand ist berechtigt, betrifft aber die heidnische Antike ebenso wie das Christentum. Denn der Gedanke, dass Sklaven als Wesen minderen Rechtes außerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft leben, ist in der antiken Gesellschaft ebenso präsent wie in den christlichen Gemeinden, deren Positionierung in dieser Frage weitgehend parallel zur gesellschaftlichen Entwicklung verläuft. Den antiken Gebräuchen entsprechend handeln Juden mit Sklaven (3 Moses 25,44) und sehen darin auch keinen Verstoß gegen das Gesetz der Ebenbildlichkeit. Auch das Neue Testament liefert keine unmittelbaren Argumente gegen die Sklaverei. Paulus hat zwar die Aufnahme von Sklaven in die christlichen Gemeinden betrieben, aber von den christlichen Eignern keine Freilassung ihrer Sklaven gefordert (Philemon-Brief). Spätere Kirchenlehrer lehnen die Sklaverei ebenfalls nicht ab, im Gegenteil: Augustinus sucht nach einer theologischen Rechtfertigung und findet sie: Sklaverei sei eine Folge des Sündenfalls. Konträre Stimmen wie die von Gregor von Nyssa (Homilia 4,1) ändern nichts daran, dass sich die Kirchenväter nicht als Kronzeugen gegen die Sklaverei eignen. Dies gilt auch für die mittelalterlichen Kirchenrechtler, die das antike Völkerrecht lediglich dahingehend eingrenzen, dass Christen keine Christen versklaven sollen. Im Übrigen ist die mittelalterliche Kirche Betreiber und Nutznießer des Frondienstes - wie die weltlichen Herren.


Der alles erschlagende Begriff der Nächstenliebe

Dass Sklaven anständig behandelt werden sollen, ist auch kein originär christliches Gedankengut. Der römische Philosoph Seneca schreibt seinem Freund Lucilius: "Gerne habe ich von denen erfahren, die von hier kommen, dass du mit deinen Sklaven freundlich umgehst. Das zeugt von deiner Klugheit und von deiner Bildung. Sie sind Menschen" und, so ergänzt Seneca an anderer Stelle, sie haben "dieselben Anfänge, denselben Ursprung; niemand ist vornehmer als ein anderer, außer wenn er sich durch eine aufrechte und aufgrund guter Charaktereigenschaften bessere Gesinnung auszeichnet" (De beneficiis). Wie es überhaupt jedem christlich Gesinnten empfohlen werden kann, sich mit dem "Heiden" Seneca zu beschäftigen.

Mit dem Gebot "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (3 Mose 19,18) liefert das Judentum dem Christentum die Vorlage für den alles vernebelnden und hoffnungslos unredlich verwendeten Begriff von der "Religion der Nächstenliebe". Nicht nur, dass diese "Liebes"-Religion eine nicht mehr greifbare Anzahl von Menschen ihrer Gesinnung wegen verfolgt, ihrer Kultur beraubt und getötet hat. Vielmehr ist die Lehre selbst ein einziger Angriff auf das Liebesgebot. Jedenfalls, wenn wir darunter solche Begriffe wie Toleranz und Güte subsummieren: In der Hölle landen fast alle, obwohl sie bereits mit Tod, Vertreibung und Ertränken hinreichend bestraft worden sind. Was hat das alles mit "Nächstenliebe" zu tun?

Die Kirche erklärt das Geschehen auf ihre Art: Sie verbindet das monotheistische Gebot mit dem "Missionierungs-Befehl" ("Gehet hin in alle Welt", Matthäus 28,19) und erhebt das Konglomerat zur unglückseligen obersten Maxime: "Du musst Gott lieben" oder in den Worten Paulus': "Wer den Herrn nicht liebt, sei verflucht" (1 Korinther 16,22). Die Durchsetzung dieser Maxime hat unendlich vielen Menschen Leid und Tod gebracht und ist - nach der Verbrüderung des Christentums mit dem Staat im Jahre 380 n.Chr. - der zweite große Sündenfall des Christentums, der hinsichtlich der Anzahl der Entrechteten und Geopferten, der unüberbietbaren Grausamkeiten und im Hinblick auf die Länge der Leidensperiode einen Vergleich mit allen Barbareien aushält. Dass die Kirche sich dennoch als Träger der Religion der Liebe darstellt, ist ebenso unerträglich wie die Leugnung des Holocaust durch die gerade in den Schoß der katholischen Kirche aufgenommenen Pius-Brüder.

Im Übrigen dürften vermutlich alle Kulturen den Wert der "Nächstenliebe", wenn auch unter verschiedenen Namen, hervorheben, ohne sich deshalb ständig an die Brust zu klopfen. Bereits die Philosophie Zarathustras (vor 500 v.u.Z.) basiert auf den drei Grundsätzen "Gut Denken, gut Reden und gut Handeln" und auf Zarathustras Credo "Ich bin Zarathustra, wahrhaftiger Gegner der Lügner, und ich werde sie bis zu meiner letzten Kraft bekämpfen. Aber mit meiner ganzen Kraft werde ich den Aufrechten und Rechtschaffenen beistehen" (43/8. Strophe). Wenige Jahrhunderte später lässt Sophokles um 450 v.u.Z. seine Antigone rezitieren: "Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich geschaffen". Aristoteles erkennt um 330 v.u.Z. im achten Buch seiner Nikomachischen Ethik, das Wesen der Freundschaft sei, mehr Liebe zu geben als zu nehmen. Der römische Philosoph Seneca schreibt ein ganzes Buch über die Wohltaten, De beneficiis, und erkennt: in seinem Werk Vom glückseligen Leben, das höchste Gut sei "ein ruhiges Handeln, reich an Menschenliebe und Rücksicht für die, mit denen man lebt". Keiner ist bisher auf den Gedanken gekommen, die Lehren Zarathustras, Sophokles' oder Senecas mit dem Epitheton "Philosophie der Liebe" zu versehen, obwohl ihnen dieses Markenzeichen wahrlich zustände.

Die weitere Entwicklung der Menschenrechte hat mit der Kirche nur am Rande zu tun. Jahrhundertelang leben die Menschen im Schatten der Zwangsmissionierung. Jahrhundertelang werden den Juden und Heiden, den Ketzern und Häretikern, den "Wilden" und Schwarzen die Menschenrechte abgesprochen. Die Reste einer jüdisch-frühchristlichen Liebes-Ethik werden schließlich auf den Folterbänken geopfert, die Papst Innozenz III. im 11. Jahrhundert einführt und die durch die "heilige" Inquisition ihre perfide Vollendung erlebt.

Dann setzt sich die Aufklärung an der Spitze der neuen Menschenrechtsbewegung. Ihre Denker müssen vielfach gegen die Kirche argumentieren, und ihre politischen Werke heißen Petition of Rights (1628); Habeas Corpus (1679); Bill of Rights (1689); Virginia Bill of Rights; Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ("unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück", 1776); Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) und Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne (1791). Sie ergänzen die philosophischen Schriften von Aristoteles über David Hume bis Kant und verstehen sich als Texte der Befreiung, die in der Losung gegen das Kartell aus Kirche und Staat kulminieren: "Liberté, Egalité, Fraternité".


Zusammenfassung

Die monopolisierende, gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, die Idee von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen habe die Menschenrechte begründet, und es sei ein Verdienst des Christentums, die Formel von der Menschenwürde gefördert zu haben, ist also nachweisbar falsch. In Wahrheit ist die Redensart voll bitterer Ironie. Denn was die Lehre von der Erbsünde anthropologisch bedeutet, liegt auf der Hand: Sie ist menschenverachtend. Der Mensch ist verderbt, ein Wurm und Opfer seiner Sinne. Gott macht mit ihm, was er will. Würde ist Eitelkeit, der Mensch solle stattdessen zu Staube kriechen und sich blind in sein jenseitiges Schicksal ergeben. Selbst der Gottessohn wird entwürdigt. Gegeißelt und mit Dornen gekrönt wird er seit Jahrhunderten den Menschen zur Schau gestellt.

Die wahren Gründer und Förderer der Idee von der Menschenwürde und den Menschenrechten sind Griechen, Römer und die Heroen der Aufklärung und nachweisbar nicht die christlichen Kirchen. Dennoch hat die Gottesebenbildlichkeit-Ideologie bis heute nachhaltige Auswirkungen auf unsere Gesellschaftspolitik. Sie ermuntert Politiker ohne historischen, philosophischen oder philologischen Hintergrund, Kirchenvertretern, die weder das erforderliche Fachwissen haben, noch die Bereitschaft nachweisen, von ihrem einseitigen totalen Wahrheitsanspruch ferner Zeiten auch nur einen Jota abzuweichen, mit zweitausend Jahre alten Axiomen aus einer Wüstenprovinz in wichtigen Gremien mitzubestimmen. So wurde im Vorfeld des Bundestagsbeschlusses zur Präimplantationsdiagnostik das "Recht auf Leben" unmittelbar aus den kirchlichen Vorgaben zur Gottesebenbildlichkeit als unantastbar abgeleitet. In ihr wurzele das Lebensrecht des Embryos, und in Verbindung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die Würde des Menschseins liege auch für das ungeborene Leben vor, müsse der Gesetzgeber folglich für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik eintreten. Mit dieser Dicken Berta kirchlicher Dogmatik, die ganz und gar nicht der schwierigen Materie im Grenzbereich von Lehen und Nichtleben, Tier und Mensch, Hilfe und Missbrauch gerecht wird, werden auch künstliche Befruchtung, Stammzellforschung und therapeutisches Klonen bekämpft, wie überhaupt die "Menschenwürde" als Waffe gegen Fortschritte in Wissenschaft, Medizin und Religionskritik geeignet ist.

So spricht manches dafür, dass nicht die Menschenwürde unser oberster Grundwert ist, sondern die Freiheit. Um nichts anderes haben die Vertreter der Aufklärung und die Revolutionäre von 1789, 1848 und 1989 gekämpft. Und in ihrem Namen rebellieren in Nordafrika die Menschen. Dass die Verfassungsväter kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und unter dem Eindruck der Schrecknisse von Auschwitz die Menschenwürde zum obersten Verfassungsprinzip erhoben, muss aus der Zeit heraus verstanden werden. Heute aber kann der Begriff nicht mehr als ein Appell sein, eine Erinnerung, die daran leidet, regelmäßig für politische Zwecke missbraucht zu werden, eine Flucht in die Undeutlichkeit.


Rolf Bergmeier. Jahrgang 1940, Studium der Alten Geschichte und Philosophie an der Gutenberg-Universität Mainz. Im Oktober erscheint sein Buch Schatten über Europa, in dem er die Zerstörung der antiken Kultur durch das Christentum beschreibt.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Sokrates und die antike griechische Philosophie - wertlos?

- Der heidnische Philosoph Seneca empfahl "Menschenliebe und Rücksicht für die, mit denen man lebt" - bevor das Christentum den Begriff der Nächstenliebe als "Marke" für sich reklamierte.

- Die Inquisition bewies ihre christliche Nächstenliebe mit äußerst kreativen Mitteln.


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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 3/11, S. 38-43, 40. Jahrgang
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2012