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STANDPUNKT/045: Christliche Politik und Menschenwürde (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 3/08

Christliche Politik und Menschenwürde
Warum das "christliche Menschenbild" kein Fundament für politisches Handeln sein kann

Von Marcel Dobberstein



Politik braucht Werte, heißt es, Grundwerte. Sie braucht etwas, worauf sich der politisch Handelnde letzthin stützen kann. Man muss sich gleichwohl von Zeit zu Zeit erinnern und prüfen, was Werte, die im Gestern oder Vorgestern formuliert wurden, dem Heute sagen. Alle Jahrzehnte versuchen Parteien darum, die Stellschrauben ihrer Politik zu justieren. Die Christlich-Demokratische Union hatte sich unlängst zur Standortbestimmung aufgemacht. Der Tagespolitik soll, befand man resümierend, das "christliche Menschenbild" letzter Rückhalt sein. Jenes profilierte Menschenbild soll zur Menschenwürde führen. Es soll, samt der in ihm eingeschlossenen Ethik, jene Würde sogar verkörpern.


An der Übergängigkeit vom Bild zur Würde wird kaum zweifeln, wer im Glauben an solche Bilder steht. Bei genauerer Betrachtung erschließt sich jedoch etwas völlig anderes: Die christliche Auffassung vom Menschen und die Menschenwürde sind unvereinbar. Und jenes Menschenbild kann kein Fundament für politisches Handeln in der Demokratie sein. Wahr ist vielmehr: Wer einen unmündigen, bedrängten Menschen will, wird sich an einem religiös gezeichneten Menschenbild orientieren können.

Nun muss der Zentralbegriff des christlichen Menschenbildes zweierlei leisten. Er muss als Werteträger stark genug sein, um anzuleiten und Standfestigkeit auszustrahlen. Zugleich gilt aber: In der Säkular- und Toleranzgesellschaft und unter prosperierenden Verhältnissen fängt eine scharfe Konturierung von Werten allenfalls Randgruppen ein. Mit kernigen Tugendlehren sind keine Mehrheiten zu gewinnen. Da die Werte kommuniziert werden müssen, beschneidet der Zensor des Laisser-faire Ecken und Kanten des Profils. Wer sich eines religiösen Fundamentes zu versichern hat und dazu Konkurrent auf der politischen Bühne ist, muss es fertig bringen, Dogmen aus den Tagen der Urväter wie neu vorzustellen, als denn Dogmen einer Überlieferung, mit denen sich immer auch harte Sanktionierung von Andersdenkendem verband, als reinen Quell toleranter Barmherzigkeit vorzustellen. Hier ist ein Gespür für Productplacement-Mentalität gefragt, als denn ein Formulieren, das gegen die moderne Mentalität elastisch beharrt.

Dabei müsste eigentlich vom religiösen Zentrum aus formuliert werden, was jenes Bild vom Menschen enthält. Von der Bibel her hieße es Maximen und Bild erinnern. Schließlich kommt von daher die letzte Autorität. Nun kann man sich offenbar durchaus unterschiedlich auf dieselben Urquellen beziehen. Fundamentalisten, Konservative lesen so, Befreiungstheologen anders, Herz-Jesu-Politiker wieder anders. Die Spannweite ist erstaunlich eingedenk der Forderung Jesu, den Willen Gottes aufs Genaueste zu beachten. Wie kann man im Angesicht des allgewaltigen Wortes konträrer Meinung sein? Jene angeführte Schwachheit des erkennenden Menschen müsste die Klarheit des göttlichen Willens doch wettmachen.

Aber der Knackpunkt liegt schon im System. Denn die strengste Befolgung von Regeln ist oft nicht mit jenem Aufruf zur Nächstenliebe in Übereinstimmung zu bringen. Die Welt ist anders, ist vielgestaltiger, als dass man mit rigider Gesetzestreue nächstenlieb bleiben könnte. Realpolitisch heißt das: Wer kein halsstarriger Unmensch sein will, der bringt das Diktum der Nächstenliebe auf, um konservative Strenge außer Kraft zu setzen. Dieser laxe Umgang mit den Gesetzen ist nicht im Sinne des Religionsstifters. Jener Stifter hat sodenn sehr fahrlässig übersehen, was für ein Konfliktfeld entsteht, wenn man beides radikal einfordert; also die Nächstenliebe und die Gesetzestreue. Und dies Dilemma zeitigt durchaus Folgen für die Kommunizierung von Werten. Ganz ähnlich verhält es sich mit Römerbrief 13, wo Paulus die Ergebenheit des Christenmenschen gegenüber einer jeweiligen Staatsgewalt lehrt.

Zur Behandlung von derlei Imponderabilien braucht es professionelle Wort-Designer, die von der Sache überzeugt sind und deren Profession es ist, religiöse Botschaften konsonant in zeitgemäße Diskurse einzubringen. Es ist verständlich, dass christliche Politik dafür auf die rhetorischen Fähigkeiten von Theologen zurückgreift. So wurde unlängst ein gutes Dutzend Universitätstheologen berufen, das Feld der Grundwerte zu sondieren. Diese Sozialethiker erstellten ein die Grundwertdebatte lancierendes Papier: Menschenwürde. Politisches Handeln aus christlicher Verantwortung. Christliche Ethik als Orientierungshilfe.(1) Eine erste, für allgemein befundene Grundüberzeugung lautet dort, dass man "Werte", dass man eine Ethik brauche. Ohne ethisches Fundament keine Politik. Eine zweite formuliert der Herausgeber Bernhard Vogel so: "Wer den Menschen ganz und umfassend wahrnehmen will, muss mehr in den Blick nehmen als ihn allein."(2)

Beide Grundannahmen, so evident sie zunächst scheinen mögen, sind unbegründet und falsch. Die Ethik ist ein altes Manipulationsinstrument der Mächtigen, insbesondere der Theologie; und sonst nichts! Jenes angebliche philanthrope "Mehr", was es zum Verständnis des Menschen bedürfe, lässt sich nicht rational, also überhaupt nicht explizieren. Herr Vogel meint Gott. Er meint jenen Gott, dem sich "erdbebensichere Baugesetze" einer Christlichen Sozialethik verdankten. Derlei Aeternae veritates sollen über der Politik und dem Recht stehen. Die Vernunft könne auf Widersprüche zwischen den ethischen Wertungen aufmerksam machen, aber nie von sich aus allein "inhaltlicher Maßstab" für die Orientierung sein. Ohne Referenz auf "vorpolitische Ethostraditionen" könne keine Politik gemacht werden. Es sei ein Faktum, dass sich Politik "in einem nicht durch sie geschaffenen, sondern ihr vorgegebenen Horizont kultureller Traditionen und der damit gegebenen weltanschaulichen bzw. religiösen Leitüberzeugungen bewegt und ihnen verpflichtet ist". Diese Verpflichtung immer mitzudenken, sei wiederum eine ethische Pflicht.(3)

Dabei wird wie billig eine Glaubenstradition als der versichernde Halt der Identität des Abendlandes vorgestellt. Man könnte, man müsste alternativ die mit den Ioniern anhebende Rationalitätskultur als den Kern des Abendlandes bezeichnen. Die kritische Ratio ist den Theologen jedoch unbequem. Der Theologe stellt numinose Erfahrungen ausdrücklich über die Reflexion; so wenn Joseph Ratzinger "religionsschaffende Erfahrungen" dem "Nachdenken" überordnet.(4) Man sucht die Ratio zu diskreditieren, da sie Ängste und Abwehrstrategien bloßstellt. Modern bietet sich aber auch die Lesart an, die Ratio als Kind einer kulturtragenden religiösen Leitüberzeugung vorzustellen und damit einzugemeinden. Man verspeist den Feind mit Haut und Haaren; eine alte religiöse Praxis.

Dabei wird der Vernunft angetragen, was nicht ihre Sache sein kann. Denn weder begründete diese eine Ethostradition, noch entstammte sie einer solchen. Was hier in der Reflexion auf Grundwerte für politisches Handeln passiert, ist das alte Spiel der Selbstbehauptung. Es heißt Gott, und damit sich selbst, vornan setzen. Der Erhalt von Macht und Einfluss steht hinter jener Sortierung der Vernunft unter die gottverfügte Ethik. Die Diktion in politischen Grundsatzdiskussionen gemahnt allerdings nicht mehr an Willkür, Einschüchterung und Folter, sondern an Verkaufsgespräche mit geschultem Personal.

Die Gottesbedürftigkeit des Menschen wird mit dem Vorhaben, "den ganzen Menschen" zu berücksichtigen, verquickt. "Die Rede von Gott verweist auf dasjenige 'Darüberhinaus', das dem Menschen sein Maß und seine Grenze gibt und das darum auch in der Präambel des Grundgesetzes zu Recht an das Maß und an die Grenze erinnert, die allem menschlichen Handeln und Entscheiden gesetzt sind."(5) Die Eröffnung der Präambel "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott ..." wird also derart für die menschlichen Geisteskräfte subaltern verstanden, wie sie de facto zu lesen ist: Wie mit dem Satz, der nach der Überlieferung über dem Apolltempel stand, "Erkenne dich selbst" und "nichts im Übermaß", so wie mit dem biblischen Sündenfall ergeht auch hier die Forderung: Mensch, zeige Demut deinem Gott. Nur danieden klein, wirst du der Größte im Himmel sein.

So zu verfahren, ist der Vernunft wesensfern und abträglich und für die demokratische Ordnung nicht ungefährlich. Die ethischen Richtlinien können bisweilen vernünftige Tendenzen anzeigen, aber ihr Bedingungsgrund ist von willkürlichen Festlegungen durchsetzt. Die Absolutheit der Befolgung von Gesetzen, wie sie die Bergpredigt verlangt, ist absurd. Sie führte in Weltfremdheit, Gewalt und Willkür. Diese Gesetze hatten zumal den Effekt, den Menschen zum Sünder zu machen, um ihn binden und beherrschen zu können.

Dabei ist es bereits politische Praxis, aus einem anderen Repertoire als dem himmlischer Diktate zu schöpfen. In der Demokratie wird nach rational wissenschaftlich vermittelten Erkenntnissen entschieden. Dabei soll ein Höchstmaß an Gerechtigkeit ermöglicht werden. Die Ethik ist tatsächlich müßig. Forderte man die Ethik nun denn einmal auf, einen durch sie selbst zu entscheidenden Konflikt zu benennen, wüsste sie nichts zu sagen. Der hier suchende Geist würde bemerken, dass er stets auf Sachwissen zurückgreifen und konkrete Lebenssituationen berücksichtigen muss, um den vermeintlich "ethischen" Sachverhalten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Unentscheidbarkeit ruft nicht die Ethik auf den Plan, sondern fordert weitere geistige Anstrengung. "Wissenskompetenz im Gespräch" heißt der Weg zur Handlungsentscheidung. Die Ethik lügt immer, wusste Nietzsche: "Das moralische Urtheil hat Das mit dem religiösen gemein, dass es an Realitäten glaubt, die keine sind."

Lassen sich die Ethostraditionen als Vehikel der Macht der Religion durchschauen, so ist das religiöse "Menschenbild" nicht minder problematisch. Es wird behauptet, nur ein Menschenbild, in dem Gott gegenwärtig ist, erhebe den Menschen in seine Würde. Die Rede von Gott weise über den Menschen hinaus und ließe ihn "unreduziert" wahrnehmen. Und zugleich ist dies, was er nunmehr vom Himmel Gottes wissen soll, eine ihn reduzierende Erkenntnis. Anders gesprochen: Man nimmt den Menschen nur dann unreduziert wahr, wenn man ihn in seinen durch Gott gesetzten Grenzen sieht. Gott ist ein Kleinmacher. Demut soll Treue erzeugen. Das läuft auf ein unappetitliches Diktum hinaus: Mensch, deine Würde heißt Treue. Dahinter steht purer Egoismus. Dass diese Erhebung des soeben gedemütigten Menschen überdies eine Selbsterhöhung mit narkotischer Wirkung ist, bleibt unbemerkt. Das Ganze ist ein Unterwerfungsprogramm, welches als Befreiungsprogramm propagiert wird. Freiheit, Würde erwächst aber aus Wissen, Vernunftgebrauch und Selbstbestimmung. Wie kann man Freiheit mit Selbstaufgabe verwechseln und verlangen, dass jeder die Verwechselung um seines Seelenheiles Willen mitmacht?

Ich soll mich Jesus und den Gesetzen unterwerfen und ihn lieben. Es ist meine Pflicht. Zuwiderhandeln bringt Glücksdefizite im Himmel. So lautet die Frohe Botschaft. Jesus droht unermüdlich. Dergleichen, sagen die Parteitheologen, soll vermittelst des Glaubenskonnexes eine höhere Ebene der Ethik inauguriert sein, die keine Ebene von Konventionen sei, sondern eine, wo sich Dinge "anhand von Zeichen" ereignen. Für diese recht okkulte Auffassung wird dann die Menschenwürde instrumentalisiert: "In der Menschenwürde begegnen Menschen einer Wirklichkeit, über deren Erschließung für sich selbst oder für andere sie nicht verfügen, sondern die sie nur anerkennen können, wenn und sofern sie sich ihnen erschließt."(6) Wer nicht gläubig gehorcht, ist dumm, heißt dies doch. Der nächste Fauxpas folgt auf dem Fuße: "Solange Menschenwürde lediglich verstanden wird als eine kulturelle Konvention, die sich menschlicher Zuschreibung verdankt, bleibt sie nicht nur antastbar, verletzlich und entziehbar, sondern sie ist dann gar nicht in ihrem eigentlichen Wesen und Status erkannt, geschweige denn ernst genommen."(7) Der an der Leine geführte Mensch, welchem man seine Kette als Bedingungsgrund seiner Freiheit und Vernunft angedreht hat, soll dann der würdige Mensch sein.

Das Grundgesetz hat mit seinem Gottesbezug nicht erkannt, dass es einer Doktrin Vorschub leistet, die den Menschen ausdrücklich in seine Unwürde setzt. Das Grundgesetz widerspricht sich selbst. Die verfassungsrechtlich fixierte Würde des Einzelnen gibt ihm eine gewisse Sicherheit vor Willkür und Demütigung. Die Menschenwürde und die Menschenrechte gilt es jedoch gegen den Einfluss der Religion zu universalisieren. Die Weltanschauung präferiert weder Gleichheit noch Freiheit. Die Botschaft des Neuen Testaments zielt auf eine prinzipielle Gleichheit aller Menschen vor Gott, aber doch mit dem Zusatz der Gehorsamspflicht. Das will eine Gleichheit der Köpfe, aber keine Freiheit der Köpfe. Die Theologen setzen Gehorsam und Menschenwürde in eins. Dagegen muss man die Menschenwürde verteidigen. Das Prinzip der Menschenwürde ist ein gegen die Religion errungener Gewinn aus vernunftmäßiger Reflexion. Wenn jene Würde unantastbar ist, dann eben deswegen.

Die Option der Selbstbestimmung ist das hehre Wesensmerkmal des Menschen. Sie verleiht ihm Würde und ist gleichbedeutend mit kritischem Wissen. Wissen, zumal das weltanschauungskritische Wissen, macht frei. Theologen wissen nicht, was Gott will, wenn sie grundsätzlich feststellen, dass eine Gesellschaft, die sich am christlichen Menschenbild orientiert, grundsätzlich nur eine freie Gesellschaft sein könne.(8) Gott will Gehorsam. Was sich Jahwes oral aggressiven Verlangen verweigerte, das vertilgte er spornstreichs. Durch Deo necans hindurch spricht der trosthungrige Mensch gleichwohl zu sich selbst: Zweifle nicht an Phantasmen, die ich mir zur Bannung meiner Ängste erfunden habe: Sei gehorsam! Menschenwürde verkleinert sich zur Tugend des Hundes.


Dr. Marcel Dobberstein, Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Pädagogik in Köln, ehedem Dozent für Musikwissenschaft an den Universitäten in Eichstätt und Bonn; Bücher zur Musik und zur Religionskritik. Weitere Informationen unter: www.anthropologien.de.


Anmerkungen:

(1) Im Zentrum: Menschenwürde. Politisches Handeln aus christlicher Verantwortung. Christliche Ethik als
     Orientierungshilfe. Hrsg. von Bernhard Vogel. Berlin 2006. (Konrad-Adenauer Stiftung)
(2) ebenda, S. 6
(3) ebenda, S. 11, 13f.
(4) vgl. Der Große Herder. Bd. 12, Freiburg 1962, Sp. 1087f.
(5) Im Zentrum: Menschenwürde, S. 16
(6) ebenda, S. 25
(7) ebenda
(8) ebenda, S. 28


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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 3/08, S. 37-40, 37. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2008