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STANDPUNKT/044: Mit Gott ist alles erlaubt (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 2/08

Mit Gott ist alles erlaubt

Von Andreas Müller


Wenn Theologen bei einer Diskussion mit Atheisten die Argumente ausgehen, zitieren sie gerne Dostojewskijs Die Gebrüder Karamasow mit "Ohne Gott ist alles erlaubt". Besonders originell ist dieser Kalenderspruch jedenfalls nicht, auf diese Weise hat man schon Zeus verteidigt. Dabei muss man aus philosophischer Sicht sogar teils zustimmen: Es gibt keine ethische Letztbegründung, denn wir können uns nicht an unserem eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen. Allerdings sind auch die vielen Götter und ihre Gesetze kein Ausweg.

Die Moral ist Menschenwerk und sie unterliegt Veränderungen. Mensch sei Dank, denn heute befürworten wir nicht länger die Steinigung von Menschen, die am Sabbat Stöcke sammeln, wie es das Alte Testament vorschreibt. Wir befürworten nicht mehr die Sklaverei oder die Diskriminierung von Homosexuellen. Zum Glück gibt es keine ewigen Wahrheiten im Bereich der Ethik. Mit Hilfe unserer Vernunft und unserer moralischen Intuition können wir uns weiterentwickeln. Das sieht sogar die Bibel ein, wenn sie von "Auge um Auge, Zahn um Zahn" zu "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" voran schreitet (wobei sie gleichzeitig allerdings die Hölle erfindet). Glücklicherweise ändert also auch Gott ständig seine Meinung.

Damit wir uns sowohl individuell als auch gesellschaftlich moralisch verbessern können, benötigen wir Handlungsfreiheit. In einer liberalen Gesellschaft ist man frei, seinem Willen gemäß zu handeln, so lange man andere nicht von der Ausübung der selben Freiheit abhält. Und genau an dieser Stelle betritt die Religion die Bühne wie ein alternder Pantomime, der noch immer seine Luftschlösser baut.

Die Religion ist in ihrer von der Aufklärung unberührten Reinfassung antiliberal. Ihre Anhänger, ob Islamisten oder christliche Fundamentalisten, sind der Meinung, dass der Schöpfer des Universums eines ihrer Bücher geschrieben hat und leider ist es nicht Shakespeares Hamlet, auf das ich getippt hätte, sondern ein besonders rückständiges Werk einer damals schon rückständigen Gruppe von Menschen, die ihre Zeit mit dem Umherirren in Wüsten verbrachte. Und mit dem Steinigen von Ungläubigen, Homosexuellen, frechen Kindern, Anhängern anderer Religionen und Leuten, die "Jehova" sagen. Und diese "Moral" soll nun für uns alle gelten.

Aber so etwas glauben doch nur so ein paar Verrückte im Mittleren Osten und in den USA, sagen unsere moderaten Theologen. Selbst das wäre bereits schlimm genug, doch gibt es auch hier zunehmend viele religiöse Fundamentalisten, man denke nur an Evangelikale, an russisch-orthodoxe Christen und an Islamisten. Zudem sollten sich moderate Religiöse einmal überlegen, wie sie selbst eigentlich argumentieren. Sie sagen doch nichts anderes, als dass sie ihre Moral von ihrer Religion und somit von ihrem heiligen Buch ableiten, auch wenn sie das auf weniger buchstabengetreue Weise tun. Damit schränken sie sich unnötig ein und benutzen eine sehr zweifelhafte Quelle, während uns Naturalisten die gesamte Literatur- und Philosophiegeschichte zur Verfügung steht. Und sie dient uns nicht dazu, unsere religiösen Vorurteile zu bestätigen, sondern sie hilft uns dabei, Wege zu finden, wie wir das Los des Menschen in seinem irdischen Dasein verbessern können. Moderate Religiöse dagegen unterstützen Fundamentalisten, wenn sie behaupten, dass es besonders weise und moralisch sei, seine Ethik aus einem alten Buch abzuleiten.

Moderate Christen und Muslime sind zudem oft der Meinung, man dürfe ihre Religion nicht kritisieren und sie schützen ihre Denkfaulheit mit dem Paragraphen 166 StGB, der Blasphemie unter Strafe stellt, sobald sich genügend Menschen über sie aufregen. Das finden Fanatiker aller Couleur natürlich ganz hervorragend und auch sie stellen ihren allmächtigen Gott unter Denkmalschutz. Nicht nur mit Hilfe des Strafrechts, sondern vor allem mit der von Religiösen aller Art weit verbreiteten Haltung, es sei eine Unsitte, jemandes Religion zu kritisieren. Für Weltbilder gilt diese Konvention nicht. Seit wann nehmen sich Theologen zurück, wenn es um die Kritik am säkularen Humanismus geht? Dabei ist die Lösung ganz einfach: Jeder muss das Recht haben, das Weltbild oder die Religion seiner Mitmenschen auch auf freche Weise zu kritisieren und wenn das jemandem nicht gefällt, dann möge er Saudi Arabien besuchen und sich eine Theokratie in der Praxis ansehen. Dabei nur nicht den Kopf verlieren.

Wenn religiöse Gesellschaften heute aussehen wie Saudi Arabien, Iran oder Sudan, wie sehen dann moderne atheistische Staaten aus? Schweden und Japan gehören zu den ungläubigsten Ländern der Erde (wie Deutschland). Sind Schweden und Japaner unmoralisch? Im Gegenteil. Vor allem Schweden gilt im restlichen Europa als Musterbeispiel eines sozial gerechten politischen und wirtschaftlichen Systems. Im internationalen Ländervergleich gehört es in fast jeder Kategorie zu den Top 10. Und wer hat nicht schon einmal die Tüchtigkeit Japans bewundert, die seiner Bevölkerung Wohlstand gebracht und seine Demokratie stabilisiert hat?

Würde eine atheistische Welt also tatsächlich der allgemeinen Amoralität zum Opfer fallen? Es stellt sich doch die Frage, wohin menschengemachte Gesetze verschwinden, sobald jemand seinen Gottesglauben verliert. Wenn ein Christ stiehlt, wird er genauso dafür bestraft wie ein Atheist. Davon abgesehen teilen wir eine evolutionär entstandene Basismoral, die auch Affen in einfacherer Fassung haben, ganz zu schweigen von unserer Empathie, unserer zivilisierten Kultur und unserer Vernunft. Alle Menschen sind von Natur aus zu moralischem Verhalten fähig und wie der Nobelpreisträger Steven Weinberg bemerkte: "Gute Menschen handeln gut und schlechte Menschen handeln schlecht, aber um gute Menschen dazu zu bringen, schlechte Dinge zu tun, dazu braucht es die Religion."

Bestehlen und ermorden Gläubige tatsächlich nur darum niemanden, weil sie sich einen allwissenden Diktator im Himmel vorstellen, der es ihnen verbietet? Einen Big Brother, der sie für Gedankenverbrechen bestraft? Für einige besonders religiöse Menschen mag das sogar stimmen. Wer Religion und Moral in seinem Kopf untrennbar miteinander verbindet, der könnte gemeingefährlich werden, sobald er seinen Glauben verliert. Auf der anderen Seite: Ist ein solcher Mensch nicht ohnehin schon gemeingefährlich?

Woher bezieht er nämlich seine Moral? Was sollen wir seiner Meinung nach lesen und befolgen, damit wir nicht als das Steak auf einer ewigen Grillparty enden? Unfassbar öde Bücher mit zweifelhafter Moral, zum Beispiel die Bibel. Was interessieren uns denn heute noch diese endlosen Stammbäume, diese stumpfsinnigen Beschreibungen von Opferriten, diese ewigen Märsche durch Wüsten und vor allem dieser groteske Sadismus von Geschichten wie der völkervernichtenden Sintflut und der Beinahe-Opferung Isaaks durch seinen eigenen Vater? Oder denken Sie nur an den armen Hiob, der von seinem geliebten Gott sinnlos gequält wird. Welch ein Glück, dass diese Geschichte, wie der Rest der Bibel, nur erfunden ist.

Nicht erfunden sind leider die Hexenverfolgungen und Ketzerjagden der katholischen Kirche des Mittelalters. Man denke auch an die Unterstützung faschistischer Regime, zum Beispiel diejenigen von Franco und Mussolini, durch die katholische Kirche. Oder an die 900 Neu- und Umbauten christlicher Kirchen, welche die Nazis großzügigerweise von 1933 bis 1945 ihren christlichen Kollaborateuren sponserten. Oder an die unzähligen Zwangsarbeiter, die in christlichen Einrichtungen während dieser Zeit eingesetzt wurden. Nicht zu vergessen die in christlichen Heimen missbrauchten Kinder der Nachkriegszeit. Diese "Verirrungen" sind auch aufgrund der christlichen Religion erfolgt und nicht trotz dieser Religion. Das ist es, was jeder freiheitsliebende Demokrat am Ende verstehen muss, wenn er den Fundamentalismus bekämpfen will: Ohne "heiliges" Wort keine Wortgläubigkeit!

Auch unter Atheisten ist der Glaube weit verbreitet, religiöse Gewalt habe nichts mit Religion zu tun. Zum Beispiel steht in der Bibel: "So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben." (4. Mose 31,17-18). Nun haben Kreuzritter genau solche Gräueltaten im Namen Gottes verübt, aber das soll nichts mit ihrem biblischen Weltbild zu tun gehabt haben? Oder nehmen wir ein aktuelleres Thema: Die christlichen Vorurteile gegenüber Homosexuellen: "Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben" (3. Mose 20,13). Welchen rationalen Grund soll es schließlich geben, mündigen Bürgern ihr Sexualverhalten vorzuschreiben? So etwas machen nur Religiöse, weil sie meinen, dass es ihnen ihr Gott befiehlt. Natürlich funktioniert diese Argumentation auch wunderbar, wenn man sich seine eigenen sexuellen Neigungen nicht eingestehen will und im Sinne einer Übersprungshandlung andere Menschen verdammt, die damit kein Problem haben.

Der Koran ist keineswegs besser, so heißt es in Sure 4, Vers 15-16: "Und wenn einige eurer Frauen eine Hurerei begehen, dann ruft vier von euch als Zeugen gegen sie auf; bezeugen sie es, dann schließt sie in die Häuser ein, bis der Tod sie ereilt oder Allah ihnen einen Ausweg gibt." Diese Vorschrift findet sich im Scharia-"Recht" wieder, das inzwischen auch "freiwillig" (zumindest für Männer) in England (!) praktiziert wird. Oder nehmen wir Sure 4, Vers 34: "Die Männer stehen den Frauen in Verantwortung vor, weil Allah die einen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Vermögen hingeben. Darum sind tugendhafte Frauen die Gehorsamen und diejenigen, die (ihrer Gatten) Geheimnisse mit Allahs Hilfe wahren. Und jene, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet: ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch dann gehorchen, so sucht gegen sie keine Ausrede. Wahrlich, Allah ist Erhaben und Groß." Der Koran erteilt hier einen deutlichen Befehl zur Unterdrückung der Frau und wenn nicht er der Grund für die patriarchale Struktur islamischer Gesellschaften ist, dient er doch zumindest als göttliche Legitimation.

Natürlich sind auch Atheisten zu allerlei Schandtaten fähig. Aber ungläubige Tyrannen haben zumindest weltliche, wenn auch egoistische und rücksichtlose, Motivationen, diese Schandtaten zu begehen. Und somit gibt es für sie Grenzen. Ein Beispiel: Ein atheistischer Tyrann könnte seine politischen Gegner foltern, um an Informationen zu gelangen, etwa über den Aufenthaltsort anderer politischer Gegner. Dabei wird er sie möglichst nicht töten und nicht zu sehr verletzen, schließlich will er ja etwas von ihnen. Aber wenn die Inquisition jemanden folterte, dann gab es keine Grenzen. Sie wollte schließlich die Seelen ihrer Opfer retten, war also davon überzeugt, etwas Gutes zu tun, was der Schöpfer des Universums von ihnen forderte. Und man konnte ihnen ja nicht das Gegenteil beweisen... Die Folterer der Inquisition haben sich dann auch sehr kreativ an ihren Kunden ausgelassen. Da gab es alles, von Daumenschrauben über glühende Metallstäbe in Augen bis hin zu Streckbänken und einer Anatomie bei lebendigem Leibe. Alles zum Wohle der Seele. Ein Atheist glaubt nicht an Seelen, will also auch keine davon "retten". Mensch sei Dank. Zudem kann man einen atheistischen Tyrannen für alle sichtbar töten und der ganze Zauber angeblicher Unfehlbarkeit und Unbesiegbarkeit fliegt auf. Die Tötung Gottes hingegen ist schwieriger und zieht sich nun schon viel zu lange hin.

In der Tat sind die schlimmsten Grausamkeiten noch heute religiös motiviert. Man denke nur an Genitalverstümmelungen, an die allermeisten Selbstmordattentate oder an Endzeitbewegungen, die sich nicht nur auf das Ende der Welt freuen, sondern oft noch aktiv nachhelfen. Und Serienmörder wie Charles Manson, der sich für Jesus Christus hielt, gehören für gewöhnlich auch nicht zu den Reihen kritischer Rationalisten.

Religionen sind Menschenwerk und somit ist auch die religiöse Moral Menschenwerk. Sie ist nicht absolut, sondern willkürlich, alleine schon, weil es so viele Götter gibt. Sie ist kein besseres Fundament für unsere Ethik als die aufgeklärte Moralphilosophie, sondern eines, das auf grausame Vorstellungen aus der Bronzezeit zurückgeht. Ein allguter Gott würde keine Bücher wie Bibel und Koran schreiben. Es folgt also, dass die Basis religiöser Moral viel problematischer ist als die Basis einer wie auch immer gearteten atheistischen Moral. Für uns gibt es nur Menschen. Kein Gott fordert uns zu heiligen Kriegen auf oder gibt uns das Recht, wegen Häresie hohe Belohungen auf den Kopf von Schriftstellern wie Salman Rushdie auszusetzen. Kein allgutes Wesen fordert uns auf, Homosexuelle aufzuhängen oder vergewaltigte Frauen wegen Ehebruch zu steinigen, wie das im Iran praktiziert wird. Für Atheisten gibt es immer Grenzen. Aber mit Gott...

Mit Gott ist alles erlaubt.


Andreas Müller ist bei den Brights aktiv und Redakteur des Humanistischen Pressedienstes.


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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 2/08, S. 39-42, 37. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Postfach 1745, 58017 Hagen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2008