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PSYCHO/032: ... und tief ist sein Schein (32) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Das diffuse Licht eines grauverhangenen, regnerischen Tages fiel durch die großen Fenster des Labors und ließ den wohltemperierten, funktional ausgestatteten Raum beinahe heimelig erscheinen.

"Dr. Kalwin will die Klinikleitung überzeugen, daß das Forschungsprojekt, für das die EEGs benötigt werden, vorzeitig als abgeschlossen erklärt wird", sagte Viola mit offenkundiger Besorgnis zu Preacher, während sie die Elektroden behutsam entfernte. "Und er hat im Augenblick gute Aussichten, es zu schaffen. Das würde bedeuten, daß wir uns vielleicht schon bald nicht mehr treffen können."

Viola fühlte sich beinahe verletzt, als sie sah, daß Preacher bei ihrer Eröffnung vollkommen gelassen blieb und sie mit seinen so unvoreingenommen wirkenden braunen Augen lediglich forschend betrachtete. Ein wenig trotzig erwiderte sie seinen Blick. Offenbar bedeutete es ihm nicht viel, ob sie sich treffen konnten oder nicht.

Doch schon im nächsten Augenblick schämte sie sich beinah für ihre kindische Reaktion. Wieder einmal hatte sie das Gefühl, in die Augen eines Wesens zu blicken, das wohl einen jung anmutenden, wachen und freien Geist besaß, tatsächlich aber sehr, sehr alt war. Viel älter, als die Lebensspanne eines einzelnen Menschen betrug. Gegen Preachers Blick wirkte der harte, zielstrebige Ausdruck in Dr. Kalwins Augen, der schon so manchen eingeschüchtert hatte, fast wie kindliche Einfalt.

"Ich werde ganz gewiß nicht die Erlaubnis bekommen, dich zu besuchen. Schon gar nicht von Dr. Kalwin. Vielleicht werden wir sogar für immer voneinander getrennt." Viola wollte auf jeden Fall sicher gehen, daß Preacher begriff, welche Konsequenzen der Abschluß des Projektes hatte.

Preacher schüttelte zunächst nur mit ruhiger Bestimmtheit den Kopf. "Wem sollte das wohl gelingen", fragte er dann, "wenn wir damit nicht einverstanden sind."

"Zum Beispiel Wänden wie diesen", Viola schlug in einem Anflug von Verzweiflung mit der flachen Hand gegen die massive Steinwand des Labors, "und den dicken Eisentüren und dem ganzen System, das über diese Wände und Türen gebietet, die mich sehr wohl daran hindern können, dich zu sehen."

"Bist du sicher, daß es dir um das Sehen geht?" fragte Preacher. Als Viola ihn daraufhin nur erstaunt ansah, schlug er vor: "Wenn du für einen Moment die Augen schließt, können wir es vielleicht herausfinden." Viola wußte nicht recht, worauf er hinauswollte, doch sie hielt es für den kürzesten Weg, ihm einfach den Gefallen zu tun.

"Bin ich dir jetzt wirklich weniger nah, als wenn du mich sehen könntest?" hörte sie seine angenehme, warme Stimme, die sie wie ein dunkler Mantel zu umhüllen schien.

"Nein, du bist noch näher", erwiderte Viola wahrheitsgemäß. "Aber ich kann ja wenigstens deine Worte hören."

"Dann prüfe, ob es dir wirklich auf die Worte ankommt", entgegnete Preacher und bat sie, auch die Augen wieder zu schließen. Tatsächlich hörte Viola von ihm nicht mehr das geringeste Geräusch, nicht einmal mehr seinen Atem. Dennoch gab es für sie keinen Zweifel über seine Präsenz. Etwas Dunkles, Gestaltloses, das jedes furchtsame Anklammern sogleich löste, ging von ihm aus und erfüllte sie mit der unerschütterlichen Gewißheit, daß es keine Trennung zwischen ihnen geben mußte, wenn sie sie nicht selbst wachsen ließ, wenn sie nicht der Faszination der hundertfältigen Eindrücke, Empfindungen und Gedanken immer wieder den Raum gab, sich zwischen ihnen breitzumachen.

"Nähe, Viola", erklärte Preacher, nachdem er ihr etwas Zeit gelassen hatte, ihre Eindrücke zu überdenken, "hat nichts mit Wahrnehmung oder mit Wänden zu tun. Du kannst jemanden im Arm halten, und dennoch trennt euch ein Ozean." Viola nickte beklommen, denn obgleich sie wußte, wovon er sprach, ließ sie die Angst nicht los, für immer von ihm getrennt zu werden.

"Was auch immer du tun wirst, wenn wir keine Worte und Blicke mehr wechseln", sagte Preacher, "es ist deine Wahl. Ob du Türen oder Wände heraufbeschwörst oder unausgesetzt ihren Einfluß bestreitest."

Viola senkte ein wenig verlegen den Kopf, denn ihre Mutlosigkeit wollte nicht weichen. Daraufhin sagte Preacher sehr behutsam und doch nachdrücklich:

"Um meine Präsenz brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich werde für dich erreichbar sein - wenn auch auf andere Weise, als du es gewohnt bist. Aber ganz sicher nicht weniger nah."

In diesem Moment wurde die Tür des Labors mit solcher Vehemenz geöffnet, daß Viola erschreckt zusammenfuhr. Mit energischen Schritten betrat Dr. Kalwin den Raum. Viola war froh, daß sie dieses EEG weitgehend vorschriftsmäßig abgeschlossen hatte, falls er es zu sehen verlangte. Aber Dr. Kalwin hatte offenbar gar nicht damit gerechnet, sie hier anzutreffen und warf ihr einen gleichermaßen überraschten wie erfreuten Blick zu. "Guten Morgen", begrüßte er sie ausgesprochen freundlich, "Entschuldigung, daß ich so hereinplatze, ich suche nur nach ein paar Unterlagen -" Jetzt erst fiel sein Blick auf Preacher und sein Gesichtsausdruck änderte sich so abrupt und so grundlegend, daß Viola erstarrte. Kalter Haß spiegelte sich in Dr. Kalwins Zügen, Vernichtungswillen gepaart mit der Gewißheit, diesen auch in die Tat umsetzen zu können.

Das also ist Dr. Kalwin, dachte Viola und schauerte bei dem Gedanken zusammen, daß sie ihn noch vor wenigen Wochen durchaus sympathisch gefunden hatte. Wie demütigend wäre es für sie gewesen, hätte sie ihm damals ihr Problem anvertraut und erst dann erkennen müssen, welche Einstellung es war, die ihn so souverän, so ungewöhnlich widerspruchsfrei erscheinen ließ. Wenigstens diese Erniedrigung war ihr erspart geblieben, wenn auch das Wissen, bei jemandem wie ihm Halt gesucht zu haben, für sie persönlich beschämend genug war.

Preacher wich vor Dr. Kalwins vernichtendem Blick keinen Millimeter zurück, was ihn irgendwie realitätsfremd erscheinen ließ. Mit einem geradezu provozierend furchtlosen Gesichtsausdruck musterte er den Arzt, als hätte er vollkommen vergessen, daß er selbst hilflos an einen Behandlungsstuhl gefesselt war und Dr. Kalwin ihm jederzeit ein Medikament zur Ruhigstellung oder etwas noch Unangenehmeres verabreichen konnte.

Dr. Kalwin, den das Ausbleiben einer zumindest ansatzweise erkennbaren Rückzugsreaktion von Preacher irritierte, zog eine Mappe aus einem der Aktenschränke, wobei es ihm gelang, seinen Gesichtszügen wieder ihre sachliche Kühle zurückzugeben. "Sie werden von dieser unangenehmen Aufgabe bald entlastet sein", sagte er beinahe tröstend zu Viola, deren spröde, starre Haltung er offenbar auf Preachers Anwesenheit zurückführte, "ich habe mich bereits mit der Klinikleitung über die baldige Einstellung dieses hirnverbrannten Projekts verständigt." Er hatte sich schon zur Tür umgewandt, als er noch einmal stehenblieb und wie beiläufig zu Viola sagte:

"Ach so, ich hätte da noch eine Bitte. Wenn Sie hier fertig sind, lassen sie ihn- ", er wies mit dem Kopf in Preachers Richtung, "doch gleich rüber in mein Behandlungszimmer bringen. Er kommt mir in letzter Zeit so verstört vor. Da muß mal wieder was getan werden."

Viola verharrte immer noch regungslos, als Dr. Kalwin längst gegangen war. Sie hatte gewußt, daß eine Konfrontation zwischen ihm und Preacher unumgänglich war, doch so bald hatte sie nicht damit gerechnet. Nun sollte ausgerechnet sie dafür sorgen, daß Preacher der Willkür des nachtragenden Stationschefs ausgeliefert wurde. Weigerte sie sich, verriet sie damit, daß Preacher ihr nicht gleichgültig war. Tat sie es, beteiligte sie sich daran, den Menschen, der ihr am nächsten stand, einer unkalkulierbaren Gefahr auszusetzten. Denn sie konnte nur ahnen, wie weit Dr. Kalwin sich durch seine persönlichen Motive zu verantwortungslosen Handlungen hinreißen ließ. Niemand, außer vielleicht Preacher selbst, konnte einschätzen, wozu er letztlich fähig war.

Zum zweiten Mal, seit sie Preacher kannte, sagte Viola zu ihm: "Soll ich dich losbinden und wir versuchen gemeinsam, hier irgendwie rauszukommen? Im Moment erscheint mir alles besser als hierzubleiben und abzuwarten, was Dr. Kalwin mit dir vor hat."

Aber Preacher schüttelte kaum merklich den Kopf und sagte: "Ich selbst, Viola, habe diesen Ort gewählt, für den Angriff, für das Kämpfen, für den Streit. Ich bin hier, weil ich es so will." Er warf ihr einen Blick zu, dessen nüchterne Entschlossenheit Viola verriet, daß ihn nichts dazu bewegen konnte, die Flucht zu ergreifen. Ruhig und sachlich fuhr er fort: "Ein altes Sprichwort sagt: Mit dem Schwert kommt der Gegner, mit der Fähigkeit kommt die Aufgabe. Es ist in diesem Augenblick für mich nicht wichtig, daß er Dr. Kalwin heißt. Es ist für mich wichtig, daß er gekommen ist. Und ich werde ihn nicht warten lassen."

Viola sah Preacher angstvoll an. Sie ahnte, daß es hier um viel mehr ging als nur eine persönliche Fehde zwischen Arzt und Patient.

"Vergiß nicht - ", Preachers Stimme klang jetzt sehr sanft und leise, aber umso eindrücklicher. " - was auch geschieht, du wirst mir immer nah sein können, solange du dich nicht wieder dem Reiz der Umstände ergibst." Er hielt kurz inne und fuhr dann ebenso verhalten fort: "Nur wer den Mut hat, diesen Weg so weit zu gehen, daß er nicht mehr zurückfindet, wird ein Nichtmehrwiederkehrer genannt."

Daraufhin bedeutete er Viola mit eindeutiger Geste, die Pfleger hereinzurufen.

"Ihr sollt mich zu Dr. Kalwin ins Behandlungszimmer bringen", erklärte er ihnen vergnügt, als würde es sich für ihn um einen höchst willkommenen Spaziergang handeln. Als die Pfleger Viola daraufhin fragend ansahen, nickte sie ihnen widerwillig zu.


*


Unter dem Vorwand, eine Krankenakte zu Dr. Beck zu bringen, begab Viola sich einige Stunden später nach Station E. Gerade kam Kaminsky mit einem seiner Kollegen aus einem Krankenzimmer. Mit gewichtigen Schritten gingen sie vor ihr den Flur entlang.

"Als wenn wir hier nicht schon genug sabbernde Idioten hätten -", hörte sie Kaminskys Kollegen ungehalten fluchen.

"Sowas passiert schon mal", suchte Kaminsky ihn zu beschwichtigen. "Das ist, als wenn dein Fernseher anfängt zu Flimmern und du haust kräftig mit der Faust drauf. Meistens ist dann alles wieder in Ordnung. Aber manchmal gibt der Kasten auch völlig seinen Geist auf. Das ist dann eben Pech."

"Hast du seine leeren Augen gesehen?" wechselte Kaminskys Kollege unvermittelt das Thema. "Mir wurde ganz schwiemelig, als ich hineingesehen hab. Als würde man in ein dunkles Loch fallen. Irgendwie unheimlich."

"Na ja", zuckte Kaminsky die Achseln, "bei dem sind jetzt eben alle Programme gelöscht. Nur daß man bei ihm keine neue Festplatte mehr einsetzen kann." Kaminsky hatte sich offenbar entschlossen, die Angelegenheit von der humorigen Seite zu sehen. "Und davon ganz abgesehen, die meisten hier sind doch sowieso schon Schrott. Das weißt du, das weiß ich, und Dr. Kalwin weiß es auch."

Viola konnte nicht mehr weitergehen. Ihre Beine zitterten zu sehr. Mit letzter Kraft suchte sie Zuflucht in einem leerstehenden Waschraum. Ohne daß Preachers Name gefallen war, wußte sie, daß Dr. Kalwin ihm etwas Schreckliches angetan haben mußte. Und damit auch ihr.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 7. Februar 1998

2. April 2007