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PSYCHO/028: ... und tief ist sein Schein (28) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Viola hatte mit fahrigen Bewegungen die Elektroden an Merles Kopf befestigt und wollte das Gerät gerade anstellen, als er sie mit seinen jettschwarzen Augen seltsam durchdringend musterte, um unvermittelt zu fragen:

"Was hoffen Sie eigentlich, durch dieses Parfum zu verbergen? Es paßt doch gar nicht zu Ihnen."

"Ich wüßte nicht, was Sie mein Parfum angeht", versetzte Viola schroffer, als sie beabsichtigt hatte. Nicht weil Merle ihr leid tat, sondern weil sie sich vor ihm keine Blöße geben wollte.

"Wenn etwas so offensichtlich versteckt wird, will es gefunden werden", ließ Merle nicht locker, der sich nun sicher war, auf einer interessanten Spur zu sein. Kaum etwas interessierte ihn so sehr wie die geheimen Schwächen anderer Menschen.

"Wenn ich eine Kalenderweisheit von Ihnen hören will, sage ich Bescheid", gab Viola mit wachsendem Unwillen zurück, denn gerade heute fühlte sie sich einem derartigen Disput nicht gewachsen. Am Morgen hatte es das unterdessen wieder übliche Malheur gegeben, und davon abgesehen fühlte sie sich nach dem letzten Treffen mit Dr. Kalwin wie ein steuerloses Schiff auf einem unendlichen Meer der Sinnlosigkeit.

Gerade als sie bereit gewesen war, sich ihm anzuvertrauen, hatte Dr. Kalwin sein wahres Gesicht gezeigt. Dabei war es ihre eigene Schuld gewesen, ihn so falsch einzuschätzen, denn sie hatte aus ihm etwas gemacht, was er nicht war. Aus irgend einem Grund hatte sie sich an die Vorstellung geklammert, bei ihm den festen Halt zu finden, der ihr nun umso endgültiger abhanden gekommen war.

"Verhalten Sie sich jetzt bitte still, damit ich das Gerät anschalten kann", sagte Viola mit matter Stimme zu Merle, in der ihre ganze Resignation mitschwang.

"Ich bin tief gerührt, daß Sie offensichtlich glauben, es gäbe Dinge, derer Sie sich vor mir schämen müßten", tastete Merle sich ungeachtet ihrer Abwehr weiter vor. "Ausgerechnet vor mir", er lachte verhalten und ein wenig zynisch.

Viola ließ den Arm, den sie nach dem Einschaltknopf des Gerätes ausgestreckt hatte, wieder sinken. Meine Privatangelegenheiten gehen ihn nichts an, dachte sie, aber irgendwo hat er recht. Auf seine Weise funktioniert er ebensowenig wie ich. Die Gesellschaft lehnt ihn ab, wie sie auch mich ablehnen würde, wenn sie über mich Bescheid wüßte. Dennoch wollte ich mich lieber dem hochnoblen Dr. Kalwin anvertrauen und nicht einem ebenfalls Ausgestoßenen wie Merle.

Vielleicht sollte Dr. Kalwin mir so eine Art Absolution erteilen als Hohepriester der Volksgesundheit, mutmaßte Viola. Und aus einem letzten Impuls des Aufbegehrens gegen jene, die sie so kaltlächelnd aus ihrer Mitte ausschlossen, sah Viola Merle direkt in die Augen und sagte: "Gut, wenn Sie unbedingt etwas hören wollen, was für Sie sicherlich weder von tieferem Interesse noch von Nutzen sein dürfte: Ich leide unter einer sporadischen nächtlichen Stuhlinkontinenz und der darauf beruhenden - wie mir meine Mutter ständig versichert - grundlosen Einbildung, unangenehm zu riechen. Daher fühle ich mich einfach sicherer, wenn ich ein Parfum aufgelegt habe. Ist Ihr Wissensdurst nun befriedigt?"

"Jetzt wird klar, weshalb Dr. Kalwin bei Ihnen nicht landen konnte", sagte Merle, und obgleich kein Mitleid in seiner Stimme mitschwang, spürte Viola doch so etwas wie ein tiefes Verstehen. "Er ist einer von den Typen, die davon überzeugt sind, daß sie Lavendelseife scheißen, wenn sie überhaupt mal aufs Klo gehen. Dem können Sie mit sowas nicht kommen." Merle sah sie einen Augenblick schweigend an, um dann mit einem fast vergnügten Grinsen zu sagen: "Aber mal ehrlich, auch wenn ich weiß, wie es ist, von Scheißhausgeruch verfolgt zu werden - die ganze Angelegenheit ist doch ziemlich widerlich."

Viola verspürte ganz kurz den Impuls, ihm ins Gesicht zu schlagen, doch dann zog sie es vor, sich noch tiefer in die Resignation fallen zu lassen. Sie war eben eine Aussätzige, die die Wahrheit ihres erbärmlichen Lebens vor den Augen der Menschen verbergen mußte. Selbst für jemanden wie Merle schien es selbstverständlich, auf sie herabzusehen. Mit einem kraftlosen Schulterzucken, als haben sie von ihm nichts anderes erwartet, wandte sie sich dem Gerät zu, um es endlich einzuschalten. Was Merle aus ihrer Eröffnung machen würde, war ihr vollkommen gleichgültig. Ebenso gleichgültig wie der Verlauf ihrer Zukunft, die wie eine endlose Aneinanderreihung gleichförmig freudloser, öder Tage vor ihr lag.

Sie hatte die trüben Gedanken noch nicht zuende gebracht, als Merle, der wie stets auf dem Behandlungsstuhl festgeschnallt worden war, mit der abrupten Schnelligkeit eines Skorpions vorsprang und ihr mit beiden Händen an die Kehle fuhr. Viola hatte nicht einmal mehr Zeit zu schreien. Wie Greifzangen drückten Merles Hände ihr die Kehle zu. In seinen Augen, die sie dicht vor ihrem Gesicht sah, glomm jedoch kein Haß, sondern es lag kalte Berechnung darin, wie er aufmerksam verfolgte, daß die Panik immer mehr von ihr Besitz ergriff.

Mit meinem Tod will er Dr. Kalwin treffen, dachte Viola unwillkürlich im ersten Augenblick. Doch nach ein paar Sekunden erfüllte nur noch ein einziger Gedanke ihr Bewußtsein: Ich will leben! Ich will leben! Verzweifelt wehrte sie sich gegen ihren Widersacher, aber sie war schon zu ermattet, um noch ernstlich etwas ausrichten zu können. Und Merle schien trotz seiner hageren Statur die oft unterschätzte zähe Kraft des Psychopathen zu besitzen.

Als rote Schleier vor ihren Augen zu tanzen begannen, ließ Merle sie ebenso plötzlich los, wie er sie gepackt hatte, setzte sich in aller Ruhe wieder auf den Behandlungsstuhl und praktizierte seine Arme mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers wieder in die engen Lederriemen, die ihn eigentlich an den Stuhl fesseln sollten.

"Wissen Sie jetzt wieder, was Sie wollen?" fragte er ohne jede Spur von Zynismus, als wäre ihm völlig klar, was in ihr vor sich ging. "Mit mir hat jemand dasselbe auch mal gemacht, als ich glaubte, nicht mehr leben zu wollen. Und ich fand es wirklich sehr erfrischend."

Viola konnte zunächst keinen Ton herausbringen, sonst hätte sie womöglich im ersten Schrecken nach den Pflegern gerufen. Doch in dem Maße, wie sie ihre Sprache wiedergewann, wurde ihr klar, daß sich für sie tatsächlich etwas Entscheidendes verändert hatte. Durch seine erschreckende Tat hatte Merle sie nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß sie keineswegs bereit war, sich selbst aufzugeben. Und seltsamerweise erinnerte sie sich nun auch wieder, daß ihr Kampf nicht darin bestand, in der Welt verzweifelt nach Halt zu suchen, sondern diesem zügellosen Reflex das Zaumzeug anzulegen.

Unendlich wohltuend breitete sich in ihr die gestaltlose Dunkelheit aus, vor der zu fliehen sie so leidvoll und vergeblich versucht hatte. Mit lange vermißter Souveränität und Ruhe befestigte Viola wieder die Elektroden an Merles Kopf und sagte dann zu ihm: "Ich glaube nicht, daß ich allzu bald wieder Verlangen nach einer derartigen Erfrischung haben werde, aber Sie haben mir offenbar einen Gefallen getan."

"Es ist nicht immer verkehrt, sich Merle anzuvertrauen", erwiderte der hagere, dunkelhäutige Mann und verzog die Mundwinkel zu einem besonders heimtückischen Grinsen.

Ohne weiteren Zwischenfall konnte Viola das EEG aufzeichnen. Keiner von ihnen sprach mehr über das, was vorgefallen war. Viola wußte, daß Merle nichts von dem verlauten lassen würde, was sie ihm anvertraut hatte. Und sie würde niemanden davon unterrichten, daß er ein Entfesslungskünstler war, für den die anstaltsüblichen Lederriemen keinerlei Behinderung darstellten.

Als die Pfleger schließlich kamen und Merle mit wichtigtuerischen Gebärden von den Lederfesseln befreiten, um ihm Handschellen anzulegen, begegnete sie noch einmal kurz seinem Blick. Ein spöttisches Funkeln lag darin, aber vor allem nachdenkliche Verwunderung, so als wäre er erstaunt über seine eigene Tat.


*


Noch am selben Tag - Viola hatte glücklicherweise ein Tuch in der Handtasche, mit dem sie die Rötungen an ihrem Hals verdecken konnte - suchte sie Dr. Beck (Dr. Kalwin sollte erst in zwei Wochen an seinen Arbeitsplatz zurückkehren) in seinem Sprechzimmer auf und setzte ihm auseinander, daß sie körperlich und psychisch in bester Verfassung wäre und somit auch die EEGs des Patienten Karsten Lerche wieder übernehmen könnte.

"Es freut mich, daß Sie mit sich selbst wieder ins Reine gekommen sind, Frau Jochimsen", gab Dr. Beck sich aufgeräumt. "Jedem von uns geht es manchmal so, daß er die Visage eines Patienten nicht mehr sehen kann. Und unser Preacher kann einem mit seinen verschnörkelten Redensarten gehörig auf die Nerven fallen. Aber trösten Sie sich, auf dieser Station ist noch niemand totgequatscht worden. Beizeiten lernen Sie schon noch, die Ohren auf Durchzug zu stellen."

Viola ließ mit einem undefinierbaren Lächeln die Lebensweisheiten von Dr. Beck über sich ergehen. Sie war viel zu erfüllt von der Freude, zu sich selbst zurückgefunden zu haben, um sich ernstlich darüber aufzuregen. So sehr sie es zuvor vermieden hatte, Preacher zu begegnen, so sehr freute sie sich jetzt darauf, ihn wiederzusehen. Es war wie die Heimkehr aus einer anderen Welt, die der Ausdruck Höllenlabyrinth nur sehr unzulänglich beschrieb. Wie hatte sie nur so schnell alles vergessen und die Präsenz der Dunkelheit für eine tödliche Bedrohung halten können? Darüber mußte sie sich unbedingt Klarheit verschaffen. Nur eines war ihr bereits jetzt vollkommen bewußt: Ihr Wunsch, normal zu sein, war viel größer gewesen, als sie sich eingestanden hatte. Und ein zweites Mal würde sie nicht den Fehler machen, diese Gefahr zu unterschätzen.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 5. Januar 1998

20. März 2007