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PSYCHO/024: ... und tief ist sein Schein (24) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Die Morgensonne erhellte das kleine, urig ausgestattete Zimmer, in dem Viola und Simone die Nacht verbracht hatten. Verstohlen überprüfte Viola ihr Nachtzeug und konnte beruhigt feststellen, daß es für sie nichts zu verbergen gab. Mit einem erleichterten Seufzer kuschelte sie sich unter die Decke und ließ die Augen im Raum spazierengehen. An den Wänden hingen mehrere Reproduktionen von Jagdszenen, die das blutige Handwerk als fröhliche Lustbarkeit darstellten. Auch eine echte Trophäe fehlte nicht, ein Hirschkopf mit einem Geweih von beachtlicher Größe. Die schwarzen Glasaugen des Hirsches schienen sie von einem dunklen Wissen erfüllt anzublicken. So als wüßte er genau, was man ihm angetan hatte. Durch einen schwungvollen Satz aus dem Bett wischte Viola alle unfrohen Gedanken beiseite, öffnete das Fenster und atmete genüßlich die würzige Waldluft ein.


*


Anderthalb Stunden später, nach einem ausgiebigen Frühstück, bei dem viel gescherzt und gelacht worden war, streiften die vier Frauen querfeldein durch das lichte Unterholz, denn Karola wollte sie zu einer alten Köhlerhütte führen, die sie noch aus ihrer Kinderzeit kannte.

"Damals sah es dort aus wie im Märchen", schwärmte Karola den anderen vor, die sich frohgemut durch das stellenweise fast knietiefe Laub arbeiteten. "Und ich träumte natürlich, eine wunderschöne Prinzessin zu sein, die von ihrer bösen Stiefmutter an die Köhlersleute im tiefen Wald verkauft worden war."

"Und eines Tages kam ein blonder Prinz angeritten und verknallte sich trotz deines rußverschmierten Gesichts unsterblich in dein leibreizendes Wesen", spann Bettina den Faden weiter.

"Der sah bestimmt so ähnlich aus wie Dr. Kalwin", stichelte Simone augenzwinkernd.

"Ach der", winkte Karola ab. "Mit der Gesichtsrose, die jetzt angeblich sein kühnes Antlitz verunstalten soll, taugt er für diese Rolle nicht mehr."

"Vielleicht wurde ihm die von einer Zauberin angehext", mutmaßte Bettina unbekümmert. "Für Arroganz."

Viola hatte bisher nicht gewußt, weshalb Dr. Kalwin eigentlich krankgeschrieben war und als Grund Überarbeitung vermutet, aber nie das Verlangen verspürt, weiter darüber nachzudenken. Schon bei ihrer letzten Unterredung wegen der EEGs war ihr Interesse auf andere Dinge gerichtet gewesen. Als sie jetzt zufällig den Grund für seine Abwesenheit in der Klinik erfuhr, keimte seltsamerweise in ihr der Wunsch auf, genaueres zu erfahren. Sie beschloß, sich gleich nach dem Wochenende nach ihm zu erkundigen. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, sich für das Stofftier zu revanchieren, das er bei seinem ersten und einzigen Besuch mitgebracht hatte. Bei dem Gedanken, ihm einen großen, hellblauen Plüschaffen zu schenken, wie man ihn auf dem Jahrmarkt gewinnen kann, lächelte Viola spitzbübisch vor sich hin. Tatsächlich fiel ihr in diesem Moment auf, daß Dr. Kalwin etwas Klares, Verläßliches und Geradliniges ausstrahlte, das ihr vorher nie aufgefallen war. Offenbar erschien ihr, seit sie sich als geheilt betrachtete, die Welt in einem völlig neuen Licht.


*


"Verdammt", entfuhr es Simone, die ein Stück abseits gegangen war, unvermittelt, und sie blieb abrupt stehen. "Das ist ja widerlich."

Als die anderen angelaufen kamen, konnten sie sehen, was die bestimmt nicht zimperliche Simone erschreckt hatte: Vor ihnen im Moos lag der abgerissene, blutige Kopf eines Kaninchens. Die Luft-und die Speiseröhre hingen wie zerrissene Kabel aus dem verklebten braunen Fell. In den aufgerissenen schwarzen Augen schien sich das Grauen der letzten Lebensminuten des Tieres zu spiegeln. Wahrscheinlich war der Fuchs oder die Wildkatze, die für seinen Tod verantwortlich war, bei der Mahlzeit gestört worden.

Viola fielen die Glasaugen des präparierten Hirschkopfs in der Jagdhütte wieder ein, und es kam ihr auf einmal so vor, als bestünde ein dunkler, unheilvoller Zusammenhang zwischen den beiden toten Tieren. Irgend etwas war da, war in ihrer Nähe, und wollte die Unbeschwertheit, die sie nach so langer Zeit wiederentdeckt hatte, zunichte machen.

"Kommt doch weiter, oder wollt ihr dem armen Vieh einen Gedenkstein errichten?" riß sie sich selbst und die anderen von dem seltsam grotesken Anblick los. Was immer es war, das ihr die wiedergewonnene Lebensfreude nehmen wollte - sie war entschlossen, sich zu wehren. Nie zuvor hatte sie sich so stark und sicher gefühlt. Tatsächlich gelang es ihr auch bald, den Vorfall zu vergessen und sie gab sich, gleich den anderen dreien, wieder ungetrübten Sinnes der Schönheit des Herbstwaldes hin.


*


Als Merle aufwachte, hatte er das unzweifelhafte Gefühl, sehr weit fort gewesen zu sein. Nur vage konnte er sich an das Gespräch mit Preacher erinnern, so als wären inzwischen Monate vergangen und nicht nur eine Nacht. Er hatte ein ähnlich verschobenes Zeitempfinden bei einem ganz anderen Anlaß schon einmal erlebt, und an diesem Morgen konnte er zum ersten Mal zulassen, daß die Erinnerung daran in seinem Bewußtsein aufstieg. Vielleicht hatte Preacher dieses dunkle Kapitel seiner Jugendzeit in seiner Erinnerung noch einmal aufgeschlagen.

Dämonenschmidt, wie damals der verwachsene Hausmeister des Erziehungsheims wegen seiner Häßlichkeit von den Zöglingen genannt wurde, hatte Merle dazu gebracht, seine ganze Energie und sein ganzes Streben darauf zu richten, ein anderer zu werden. Merle hatte die Aufgabe mit dem ihm eigenen Fanatismus so glanzvoll gelöst, daß ihm tatsächlich gelungen zu sein schien, was kein Psychologe und kein Erzieher je für möglich gehalten hatte: Aus dem aggressiven, manchmal bis zum Sadismus bösartigen, völlig unzugänglichen Außenseiter war ein beinah freundlicher, kontaktfähiger und lernwilliger Junge geworden.

Doch bevor Merle - der sich wieder Volker nannte und mit dem Hausmeister nichts mehr zu tun haben wollte - sein Werk an sich selbst unumkehrbar zuendebringen konnte, griff sein Lehrmeister gewaltsam ein, zerrte den Jungen in sein Haus und ließ ihn, an einen Stuhl gefesselt, die Dämpfe einer Flüssigkeit einatmen, die auf sein Bewußtsein von verheerender Wirkung war. An einem einzigen Nachmittag wurde die mühevoll neuerschaffene Identität wieder zerschlagen. Erst sehr viel später begriff Merle, daß das von vornherein Dämonenschmidts Absicht gewesen war.

Damals war er im Haus seines Lehrers langsam wieder zu sich gekommen. Nachdem sein vernebelter Blick sich etwas geklärt hatte, fuhr ihm ein eisiger Schreck in die Glieder. Ihm gegenüber saß mit spöttischem, gelangweiltem Gesichtsausdruck - er selbst, oder vielmehr jene bösartige Variante seines Ich, die er durch unglaubliche Anstrengungen hinter sich zurückgelassen zu haben glaubte.

"Hallo, mein sittsamer Bruder", grinste sein falsches Ich ihn teuflisch an und bließ ihm provozierend den widerwärtigen Rauch seiner Zigarette ins Gesicht.

"Was willst du von mir?" fragte Volker mit einem Anflug von Panik in der Stimme. "Es gibt dich doch gar nicht mehr." Der Husten, den der Zigarettenrauch bei ihm auslöste, strafte seine Worte Lügen.

"So kann man sich irren", wurde er hämisch belehrt. "Ich war immer in deiner Nähe, aber du warst zu sehr damit beschäftigt, ein braver Junge zu werden, um mich zu bemerken. Gratuliere, in ein paar Monaten wäre es dir sicherlich gelungen, mich zu verdrängen. Aber das war schließlich nicht der Sinn der Übung, oder?" stellte sein boshaftes Ebenbild mit kalter Stimme fest und fuhr dann ungerührt fort: "Was ich von dir will, möchtest du wissen? Nun, das ist sicherlich nicht schwer zu erraten. Einer von uns beiden ist hier offensichtlich überflüssig. Und rate mal, wer."

In den Augen seines zweiten Ich, das seine eigenen Züge trug und ihm doch so wenig ähnlich war, glomm ein grausames Leuchten auf. War er, Volker, das wahre Ich, tatsächlich einmal so gewesen, so haßerfüllt und mitleidlos?

"Du hast also Gefallen daran gefunden, den Musterknaben zu mimen, den arglosen Bubi, den miesen kleinen Saubermann", drang sein Gegenüber unerbittlich auf ihn ein.

"Wenn du es unbedingt so nennen willst, ja", gab er trotzig zurück, obwohl die Angst ihn immer stärker würgte. "Immer noch besser, als wie eine schwarze Giftspinne in irgendeinem finsteren Versteck auf wehrlose Opfer zu lauern."

"Es wäre mir tatsächlich lieber, ein solches Insekt zu sein, als eine so jämmerliche Kreatur wie du", zischte sein finsteres Ebenbild bedrohlich verhalten. "Und weil dein Anblick mir unerträglich ist, gibt es für uns beide noch etwas zu erledigen."

Eine böse Vorahnung ließ Volker an seinen Fesseln zerren, aber sie gaben nicht nach. Der andere war langsam aufgestanden und beugte sich in einer Geste anzüglicher Vertraulichkeit zu ihm herab. "Du gefällst mir zwar nicht", flüsterte er und legte ihm den Arm fest um die Schultern. "Aber immerhin sind wir sehr nah miteinander verwandt. Daher gestattest du wohl, wenn ich dir einen Bruderkuß gebe." Volker wollte schreien, doch der andere preßte seine kalten Lippen auf seinen Mund. Unaufhaltsam ergriff eine eisige Starre von Volker Besitz, der sich vergeblich in der Umklammerung des anderen aufbäumte. Er spürte noch seinen Widerstand erlahmen, dann löschte ein Geräusch wie zerreißender Stoff sein Bewußtsein aus.

"Du hast eine wirklich starke Persönlichkeit hervorgebracht", vernahm Merle die Stimme von Dämonenschmidt, als er wieder zu sich kam. Er fühlte sich so, als hätte er mehrere Jahre im Koma gelegen. Alles um ihn herum erschien fremd, obwohl er wußte, daß es ihm einmal vertraut gewesen war. Die Küche des Hausmeisters, in der er sich befand, der verwachsene Mann selbst mit seiner typischen Art zu sprechen und sogar der eigene Körper, an dem sein Blick langsam hinunterwanderte. Er trug ein Fußballtrikot und blau-weiße Sportschuhe. Irgendwie kam er sich darin lächerlich vor.

"Es war gar nicht so leicht, dich an dein altes Ich zu erinnern. Aber ich hatte es dir ja versprochen." Im Tonfall des Hausmeisters schwang genüßliche Ironie mit. "Ich bin daher zuversichtlich, daß wir erfolgreich gewesen sind und du nicht mehr Gefahr läufst, innerlich zu verknöchern. Meinst du nicht auch?"

Merle hatte tatsächlich das Gefühl, als hätte er ein Gerüst verloren, mit dessen Hilfe er sich vorher ganz selbstverständlich bewegt hatte. Den braven Volker gab es nicht mehr, soviel war gewiß. Nur vermochte Merle nicht mit Sicherheit zu sagen, ob er deshalb ein Gewinner oder ein Verlierer war.

"Na, wie wär's damit, gleich noch mal von vorn anzufangen, nur um nicht aus der Übung zu kommen?", sagte Dämonenschmidt und lachte meckernd über seinen eigenen Scherz.

Merle lachte auch darüber - aber erst an jenem Morgen in seiner Zelle auf Station E, mehr als zwanzig Jahre danach.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 20. November 1997

2. März 2007