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PSYCHO/016: ... und tief ist sein Schein (16) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


In der Klinik grassierte die Grippe. Auch auf Station E waren zwei Pfleger und mehrere Schwestern erkrankt. Daher mußte Preacher heute länger als üblich bei Viola im Labor bleiben, denn von den Pflegern war niemand abkömmlich, um ihn gleich wieder zurück zur Station zu begleiten.

Er sah sie ernst und nachdenklich an, und auf einmal glaubte Viola, in Tränen ausbrechen zu müssen, obgleich sie alles andere als traurig war. Vielmehr hatte sie das Gefühl, Preachers Blick würde in ihr eine Erinnerung an etwas wachrufen, das zu umfassend, zu gewaltig und zu schön war, um einen Namen zu tragen. Noch nie hatte ein Blick sie derart aus der Fassung gebracht.

Eigentlich hatte sie schon den ganzen Morgen an Preacher gedacht. Sie machte sich nichts mehr darüber vor, daß er ihr wichtig war. Sehr wichtig sogar. Und natürlich hatte sie sich auch schon gefragt, ob sie vielleicht in ihn verliebt war. Aber was sie für ihn empfand, ließ sich nicht mit dem vergleichen, was sie bisher für Verliebtheit gehalten hatte. Die Faszination, die Preacher auf sie ausübte, ließ sich mit der erotischen Ausstrahlung nicht in Verbindung bringen, die sie sonst manchmal bei Männern wahrnahm, die ihr gefielen. Ging von ihnen eine eher bodenständige, animalische Sinnlichkeit aus, glich Preachers Wesen eher dem eines Falters, der spielerisch über einem gähnenden Abgrund dahinsegelte.

"Ich habe gehört, daß Dr. Kalwin Ihnen Elektroschocks verabreicht hat", sagte Viola mit vor Empörung bebender Stimme. "Einige Ärzte und Pfleger haben mit mir zusammen bei der Klinikleitung Beschwerde gegen diese sogenannte Therapieform eingelegt. Auch ein Dr. Kalwin darf nicht tun und lassen, was er will." Der letzte Satz klang fast wie eine Kampfansage.

Preacher lächelte daraufhin eigenartig, und Viola dachte, daß er ihres Mitgefühls vielleicht viel weniger bedurfte, als sie glaubte. Weil er die üblichen Formen der Selbstbehauptung für sich nicht in Anspruch nahm, weckte er bei anderen leicht Überlegenheitsgefühle oder Beschützerinstinkte. Und er tat nichts, um das zu ändern. Solange ihm niemand zu nahe kam.

"Dr. Kalwin ist im Augenblick nicht wichtig." Er sprach den Namen trotz allem mit einer so selbstverständlichen Achtung aus, als wäre er mit ihm gerade in einen wohlwollenden Disput verstrickt. Keine Spur von Herablassung, keine Spur von persönlichem Groll. Dann ruhte sein Blick wie fragend auf ihrem Gesicht, als wollte er ihr dadurch zu verstehen geben, daß es Wichtigeres zwischen ihnen zu besprechen gab als die Empörung über eine Behandlungsmethode.

"Merle hat mir gesagt, daß der Schmerz Sie nicht erreicht, daß Sie ihn nicht annehmen. Ich würde es gern glauben, aber ich kann es nicht. Es klingt irgendwie zu einfach", tastete Viola sich vor, denn sie hatte Preacher noch nie eine so konkrete Frage gestellt.

"Einfache, ungeteilte Dinge entziehen sich dem Verstehen, weil das Wesen des Verstehens die Teilung, das Zerlegen, das miteinander Vergleichen ist", ging Preacher in seiner übllichen Art auf die Frage ein. "Tatsächlich gibt es Orte, wo der Schmerz nicht hinreicht, wo er gegenstandslos ist, kraftlos, bar jeder Wirkung. Aber an solchen Orten gibt es Dinge, die die meisten Menschen mehr fürchten als den Schmerz."

Viola wollte etwas sagen, aber je deutlicher sie spürte, wie wichtig es ihr war, um so enger schnürte sich ihre Kehle zu. Das EEG war beendet und die Schreiber schabten nicht mehr über das Papier. Im Labor war es still. Die Nachmittagssonne schien durch die großen Fenster und winzige Staubkörnchen tanzten funkelnd durch die Luft. Ihr Blick glitt über die breiten Lederriemen, mit denen Preacher an den Stuhl geschnallt war. Seine schönen Hände ruhten gelassen auf den Armlehnen, doch was bei anderer Leute Hände wie ein Zustand der Passivität und Leblosigkeit aussah, wirkte bei Preacher wie eine unablässige, zärtliche Berührung.

Auf einmal war er da, der Gedanke, so plötzlich, daß Viola vor ihm erschrak. Ich muß einfach nur die Gurte lösen und mit ihm durch das Gerätelager zum Personalausgang gehen, schoß es ihr durch den Kopf. Und als fürchtete sie, irgendwelche kleinlichen Bedenken könnten sogleich die Oberhand gewinnen, schlug sie Preacher hastig vor:

"Die Pfleger werden noch eine Weile auf sich warten lassen. Ich könnte Sie durch den Personalausgang nach draußen bringen und irgenwohin fahren, von wo aus Sie allein weiterkommen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß es Dr. Kalwin doch noch irgendwie gelingt, Ihnen etwas anzutun. "

Jetzt wurden Preachers Züge wieder durch jenes rückhaltlos freundliche Lächeln erhellt, das sie schon so oft bezaubert hatte und nun restlos von der Richtigkeit ihres Vorschlags überzeugte.

"Mich braucht niemand zu befreien. Ich bin es bereits", sagte er sanft, aber so eindringlich, daß Viola sich beinah für den Stolz schämte, der eben noch wegen ihres mutigen, spontanen Vorschlags in ihr aufgestiegen war. Und etwas an der ruhigen Sicherheit, mit der er das sagte, bestärkte Viola in der Vermutung, daß es sich tatsächlich so verhielt.

"Vielleicht ist es viel eher an mir, zu fragen, wo hier der Ausgang ist", versuchte Viola den ernsten Hintergrund ihrer Frage durch eine scherzhafte Formulierung zu verbergen. Aber Preacher ging auf ihren launigen Tonfall nicht ein und erwiderte:

"Es gibt überall Ausgänge, die Befreiung verheißen, aber sie führen nur tiefer in die Verstrickung, in das Elend, in das Leid. Suche daher nicht nach Ausgängen, sondern nach Sackgassen, nach Wegendungen. Nicht nach Wegen, sondern nach Ausweglosigkeiten. Wege sind bedeutungslos für den, der geht. Wege sind der Abfall, den der Gehende hinter sich zurückläßt. Sich mit ihnen zu befassen ist, als würde jemand die Ofenasche mit dem Holz verwechseln, das die Wärme gespendet hat. Es gibt keinen bessern Ort als die Ausweglosigkeit, um mit dem Gehen zu beginnen. Doch das wagt nur selten jemand, denn das Gehen führt schon nach wenigen Schritten weit über die als Wirklichkeit empfundene Enge hinaus." Das klang fast wie eine Warnung und Viola lief ein Schauer über den Rücken. Dennoch fragte sie:

"Können Sie mir zeigen, wie ich für mich eine solche Sackgasse finden kann?"

Preacher sah sie so besorgt an, daß ihr ganz unbehaglich wurde.

"Es gibt", sagte Preacher, "eine Verbindung, die durch nichts gelöst werden kann, die unauflösbar ist, trennungslos. Eine unabwendbare Ausweglosigkeit. Wer aber leichtfertig eine solche Verbindung eingeht und ihm kommen Bedenken, ihm kommen Zweifel, ihn befällt die Furcht, so daß er sich wieder lösen möchte, einen Ausweg sucht, dann wird er sich gefangen fühlen, gefesselt wie mit Draht, der um so tiefer in sein Fleisch schneidet, je mehr er fortstrebt, der ihm Schmerzen verursacht, furchtbare Qualen, entsetzliche Pein, und ihn doch niemals fortläßt, der doch niemals zerreißt, nicht einmal im Tod."

Viola schluckte beklommen. Sie fing an, zu ahnen, daß ihre Auffassung von Ernst bisher kaum mehr als kindische Wichtigtuerei gewesen war. Doch sie wußte auch, wenn sie jetzt zurückwich, würde sie ihr vielleicht für immer verschlossen sein, die Sackgasse, in der zwar alles Grauen, aber auch ein Wissen zu liegen schien, dessen Tiefe sich gar nicht ermessen ließ. Wich sie zurück, blieb sie in einer Welt gefangen, von der sie längst zuviel wußte, um sie nicht bis in den tiefsten Kern für verdorben zu halten.

Schließlich sagte sie nur: "Zeig mir bitte, wo ich diese Verbindung finden kann."

"Hier", sagte Preacher und hielt ihr seine Hand hin, so weit es die Lederriemen ihm gestatteten.

Viola nahm Preachers Hand. Und alles, was sie bis dahin eingeengt, bedrückt, verwirrt oder beschwert hatte, alle Gefühle, alle Vorstellungen, alle Gedanken, hörten für diesen Augenblick auf zu existieren, waren erloschen, waren abgetan.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 18. Juli 1997

2. Februar 2007