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PSYCHO/014: ... und tief ist sein Schein (14) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Als Preacher die abgenutzten Steinstufen des Kirchturms hinaufstieg, um von oben zu verfolgen, wie die Sonne am Horizont versank, ahnte er noch nicht, daß dies der letzte Sonnenuntergang sein würde, den er in Freiheit erlebte. Doch er hätte ohnehin bestritten, daß er bis zu diesem Tag frei gewesen war, nur weil keine verschlossenen Eisentüren ihn daran hinderten, von einem Raum in einen anderen zu gehen. Er hatte sich genug mit Gitterstäbe anderer Art auseinandergesetzt, und manche waren aus einem unüberwindlicheren Material gewesen als Eisen.

Nachdem er oben angelangt war, stellte er erleichtert fest, daß sich außer ihm niemand auf der Aussichtsplattform befand. Es war windstill und wesentlich kühler als unten auf der Straße. Er legte die Hände auf das Metallgeländer, das die Aussichtsplattform umgab. Sein Blick glitt über die Dächer, die in der Ferne zu einer hügeligen Landschaft aus schwarzer Dachpappe und rotbraunen Schindeln verschmolzen. Hinter den Schloten am Horizont, die erst im Schutz der Dunkelheit ihre rußige Tätigkeit aufnehmen würden, hing die Sonne wie eine schrumpelige Tomate.

Preacher schaute auf das Viertel hinunter, in dessen Straßen und Häusern er nun schon achtundzwanzig Jahre seines Lebens zugebracht hatte, doch der Anblick verursachte ihm nicht mehr jenes wehmutsvolle Ziehen in der Brust, das man üblicherweise mit dem Wort "Zuhause" verbindet. Er hatte den Wunsch nach einem Zuhause, nach Zuflucht und Geborgenheit in den Armen des Vertrauten, endgültig abgetan. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er unvermittelt an Swetlana denken mußte, die ihren Catcherinnen auf die bange Frage nach der Zukunft in martialischem Tonfall zu erwidern pflegte: Mit dem Schwert kommt der Gegner, mit der Fähigkeit kommt die Aufgabe! Wenn seine Freiheit das Schwert war, wer oder was würde der Gegner sein?

Als er hinter sich Schritte vernahm, wandte er den Kopf. Eben trat eine junge Frau auf die Aussichtsplattform hinaus. Sie war um die fünfundzwanzig Jahre alt und trug einen grauen Mantel, das aschblonde Haar wurde im Nacken von einer schmucklosen Spange zusammengehalten. In ihrem blassen, spitz zulaufenden Gesicht spiegelte sich ein angespannter Ausdruck. Trotzdem lächelte sie Preacher milde zu und neigte kurz wie zum Gruß den Kopf. Preacher musterte sie flüchtig und schaute dann wieder hinunter auf sein Viertel, dessen neonbeleuchtete Spielhallen, schäbige Kneipen, dunstige Bars und zahllose Bordelle nun bald zum Leben erwachen würden. Drei Prostituierte hatten sich bereits am Bordstein postiert, um sich die ersten Freier, die gleich nach Feierabend vorbeikommen würden, nicht entgehen zu lassen.

Die junge Frau, die langsam am Geländer entlang rund um den Kirchturm gegangen war und immer wieder andachtsvoll zum Glockenturm emporgeschaut hatte, blieb neben Preacher stehen und folgte seinem Blick.

"Ich wünschte, Gott würde dieses Viertel in Schutt und Asche legen", seufzte sie leise, als würde sie ein Selbstgespräch führen.

"Weshalb denn?" schaute Preacher sie so verständnislos an, als hätte sie vorgeschlagen, einen Kindergarten niederbrennen zu lassen.

"Weil dort die Menschen zur Sünde verleitet werden", stieß sie wie haßerfüllt hervor. "Weil Satan sie dort zur Unzucht verführt."

"Wenn Unzucht etwas Böses ist, müßte Zucht erstrebenswert sein", schüttelte Preacher langsam den Kopf, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden, das sich in missionarischem Eifer zu röten begann.

"Nur ein Mensch, der Selbstzucht übt, findet den Weg ins Reich Gottes", erstarrte sie beinahe in Ehrfurcht vor der eigenen Frömmigkeit.

"Wer Selbstzucht übt, fügt dem Leid, das jeden Menschen martert, noch Peitschenhiebe hinzu", entgegnete Preacher mit einer derartigen Gewißheit, daß sie ihn für einen Augenblick nur sprachlos anstarrte.

"Wenn keiner mehr Selbstzucht übt, macht jeder nur noch, was er will", versetzte sie schließlich verächtlich. "Und dann wäre im wahrsten Sinne des Wortes der Teufel los."

"Was würden Sie denn Verwerfliches tun wollen, wenn Sie einmal Ihrer Selbstzucht entsagten?" forschte Preacher ungläubig nach.

Die verhärmt wirkende junge Frau konnte sich seiner warmen, dunklen Stimme und seinem offenen Blick nicht entziehen. Ein eigenartiges Gefühl bemächtigte sich ihrer, das sie mit nie gekannter Macht zu dem Fremden mit den haselnußbraunen Augen hinzog.

"Es geht hier doch nicht um mich allein", versuchte sie von sich abzulenken, doch Preacher lächelte sein bezauberndes Lächeln und fragte mit der Harmlosigkeit eines Kindes:

"Wenn Ihr Herz ganz Ihrem Gott gehört, warum sollten Sie dann nicht einfach Ihrem Herzen folgen?"

Die intensiven Empfindungen, die diese Frage in ihr auslöste, drohten die junge Frau zunächst zu überwältigen. Denn sie berührten einen Punkt, dessen Existenz ihr bisher verborgen geblieben war. Und von diesem Punkt gingen Gedanken aus, die sie entsetzten: Weshalb eigentlich nicht? Was könnte sündig daran sein, wenn ich meinem Herzen erlaube, auch noch einen anderen außer Christus in sich aufzunehmen? Doch ihr Gewissen widersetzte sich diesen rebellischen Gedanken mit eiserner Härte. Mühsam gewann es wieder die Oberhand. Hart preßte sie die Lippen aufeinander, die Finger krampften sich um die Stäbe des Geländers. Doch dann griff sie einer plötzlichen Eingebung folgend in ihre Handtasche und zog daraus wie eine Waffe eine abgenutzte Bibel hervor, die sie Preacher mit zitternder Hand entgegenstreckte.

"Hier drin steht, was wir zu tun und was wir zu lassen haben. Alles andere führt auf den Weg der Sünde und der Verderbnis." Ihre Stimme bebte, denn je mehr sie sich gegen die unerklärliche Anziehungskraft dieses ernsten jungen Mannes mit dem langen, welligen braunen Haar sträubte, umso stärker fühlte sie sich zu ihm hingezogen.

"Wir könnten bei mir einen Tee trinken und uns dort in Ruhe weiter unterhalten", schlug Preacher vor, um ihr Zeit zu lassen, die Fassung wiederzugewinnen. Doch in ihren Ohren klangen seine einfachen Worte wie eine heimlich-süße Verheißung ungekannter Freuden. Mit der Gewißheit, daß ihr Glaube in der Nähe dieses Mannes schmelzen würde wie Schnee in der Sonne, stieg Panik in ihr auf.

"Schaun Sie, ich wohne gleich dort hinten, wo die rote Neonreklame vom "Lover's Paradise" aufleuchtet", deutete Preacher in die Dämmerung. "Es ist gar nicht weit."

Mit aufgerissenen Augen starrte die Frau auf den grellroten Schriftzug des zwielichtigen Etablissements, neben dem die Silhouette einer riesigen, barbusigen Neon-Dame flimmerte wie das Stadttor von Babylon. Ruckartig wandte sie Preacher ihren Blick zu. Ein irres Leuchten hatte die Mattigkeit ihrer beinahe farblos blauen Augen verdrängt. "Satan", stieß sie heiser hervor. "Jetzt erkenne ich dich." Ein wenig geduckt wich sie vor Preacher zurück. "Du bist der Leibhaftige, der Versucher, der gekommen ist, meine Seele zu verderben!" Ihre Stimme wurde immer lauter und fing an, sich zu überschlagen, je mehr sie sich in ihre Überzeugung hineinsteigerte. Die Bibel entglitt ihren Händen, mit denen sie sich ins Haar fuhr und wild daran riß.

"Hör auf damit", sagte Preacher. Seine Stimme hatte jetzt einen ernüchternden, ungeheuer zwingenden Klang, so daß sie tatsächlich einen Augenblick die Arme sinken ließ und verstummte. Doch dann besann sie sich wieder auf die ehernen Grundsätze ihres Glaubens und mit einem gellenden Aufschrei, der wie "Niemals, niemals" klang, stürzte sie sich seitwärts über das Geländer in die Tiefe.


*


Als die Polizeibeamten auf die Aussichtsplattform hinaustraten, stand Preacher immer noch an derselben Stelle. Ein paar Schritte weiter lag die Bibel am Boden, die einer der Beamten vorsichtig aufhob und die Fundstelle markierte. Im Lichtschein der Taschenlampen seiner Kollegen glitt sein Blick flüchtig über die beim Herunterfallen aufgeschlagene Seite. "Ich bin nicht gekommen, euch den Frieden zu bringen ...", las er, ohne es wirklich zu registrierten, denn der Hauptwachtmeister hatte den jungen Mann, der am Geländer lehnte, mit barscher Stimme gefragt:

"Haben Sie gesehen, ob jemand die junge Frau hinuntergestoßen hat?"

"Ja", hörte er ihn antworten. "Ich habe alles gesehen."

"Wer ist es gewesen?" Das geschäftige Gemurmel der anderen Polizisten verstummte für einen Augenblick.

"Gott", erwiderte der junge Mann ernst.


*


Zwei Monate später wurde Karsten Lerche alias Preacher wegen Totschlags bei verminderter Zurechnungsfähigkeit in eine geschlossene, psychiatrische Abteilung eingewiesen. Er wußte, sein Gegner war im Begriff, Gestalt anzunehmen.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 22. Juni 1997

26. Januar 2007