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PSYCHO/010: ... und tief ist sein Schein (10) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Dr. Kalwin war fast eine Woche in Urlaub, als Viola den Brief erhielt. Nachdem sie ihn gelesen hatte, war ihr klar, daß der psychologische Sieg, den sie in der Eisdiele über ihn errungen zu haben glaubte, sich in sein Gegenteil verkehrt hatte. Nun war sie für ihn zu einer Herausforderung geworden, der er kaum widerstehen konnte.

In ihrer Ratlosigkeit weihte Viola ihre Mutter ein, deren praktischer Verstand ihr schon häufiger aus der Klemme geholfen hatte. Sigrid Jochimsen hörte aufmerksam zu, als ihre Tochter ihr vorlas:


*


Liebe Frau Jochimsen,

selbst ich komme manchmal nicht umhin, eines jener sogenannten "Frauenmagazine" durchzublättern, die neben den Produkten der Textil- und Kosmetikindustrie auch noch billigste psychologische Plattheiten anpreisen - sei es, um mich einmal mehr meiner Überlegenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht zu versichern, wie Sie sicherlich annehmen werden, oder aber aus beruflichem Interesse an der vielzitierten weiblichen Psyche. Im letzten Exemplar dieser Art, das mir gewiß rein zufällig in die Hände fiel, sprang mir nun ein Artikel ins Auge, der aus irgendeinem unerfindlichen Grunde mein Interesse auf sich zog. Der Titel dieses, wie mir zunächst erschien, unerträglich flachgeistigen journalistischen Machwerks lautete: "Wenn mein Chef zu vertraulich wird." Damit Sie gleich vollständig im Bilde sind, zitierte ich hier Ratschlag Nr. 5 (für hartnäckigere Fälle):

»Sollte Ihr Chef an seinem Verhalten Ihnen gegenüber immer noch nichts ändern, hilft wahrscheinlich nur noch eine "kalte Dusche": Tun Sie etwas, wovon Sie annehmen, daß er es bei einer Frau als peinlich oder gar abstoßend empfindet. Entscheiden Sie ganz nach Gefühl, wie weit Sie dabei gehen möchten. Schließlich wollen Sie nicht, daß Ihr Verhalten sich negativ auf Ihre Karriere auswirkt!

Als wirksam erwiesen haben sich Gesten, die als unweiblich gelten: Kratzen Sie sich am Kopf, so daß Ihre Haare unkleidsam hochstehen. Stützen Sie sich so auf, daß ihr Gesicht dabei unansehnlich verzogen wird. Betreten Sie sein Zimmer breitbeinig und mit leicht abgespreizten Ellenbogen, wobei Sie den Kopf leicht vorstrecken. Lachen Sie übertrieben laut und mit betont tiefer Stimme. Trinken Sie Ihr Bier "auf ex" und rülpsen Sie hinterher behaglich, während Sie sich mit dem Ärmel über den Mund wischen etc. Mit etwas Glück wird Ihr Chef, nachdem Sie diese Maßnahmen einige Male angewendet haben, wieder auf Distanz gehen und Sie haben das Problem gelöst, ohne ihn direkt zurückweisen zu müssen, was bekanntlich jeder Mann übel nimmt.«

Soweit das Zitat. Wie Sie sich denken können, liebe Frau Jochimsen, hat mein Vertrauen in meine Fähigkeiten als Psychiater empfindlich gelitten, als mir schlagartig klar wurde, daß Sie Ratschlag Nr. 5 mit leidlichem Erfolg auf mich angewandt haben. Sie sind die erste, die mir hinsichtlich meiner Person vor Augen geführt hat, was ich bisher als persönlichen Grundsatz für mich beanspruchte: Der Mensch ist einfacher, als er glaubt. Würde ich einen Hut tragen, dann wäre dies der angemessene Zeitpunkt, ihn vor Ihnen zu ziehen.

Nun, nachdem ich durch ein Tennismatch mit meiner überarbeiteten Oberschwester mein angekränkeltes Selbstbewußtsein wieder einigermaßen aufgerichtet habe, würde ich mich sehr darüber freuen, noch einmal mit Ihnen Eisessen gehen zu dürfen. Wie wäre es beispielsweise mit Sonntag abend?

Ich erwarte Sie gegen 18 Uhr in Ihrem Lieblingscafé am selben Tisch. Bis dahin werde ich die Zeit nutzen, mir noch einige einschlägige "Fachzeitschriften" zu Gemüte zu führen, damit Sie mich nicht unvorbereitet finden. Ich hoffe allerdings, Ihnen keinen Anlaß mehr für weitere "Maßnahmen" zu bieten.

Ihr eingeschüchterter Alexander Kalwin


*


"Den wirst du so leicht nicht mehr los", seufzte Violas Mutter. "Bist du denn überhaupt ganz sicher, daß du ihn loswerden willst?"

"Wenn du ihn in seiner ganzen Selbstherrlichkeit einmal gesehen hättest, würdest du das gar nicht erst fragen", erwiderte Viola ein wenig gekränkt. "Für ihn ist nur die Herausforderung interessant. Als Mensch bin ich ihm völlig schnuppe. Allein der Gedanke, mich ihm eines Tages anvertrauen zu müssen, verursacht mir Übelkeit. Du hättest seinen angewiderten Blick sehen müssen, als ich im Café so herrlich gerülpst habe."

"Ist schon gut, Kleines", strich Sigrid Jochimsen ihrer Tochter zärtlich übers Haar. "Ich habe nur manchmal Angst, daß du zu hohe Anforderungen an deine Mitmenschen stellst."

"Komisch", zuckte Viola lachend die Achseln, "Dr. Kalwin ermahnt mich ständig, mich nicht zu sehr mit den Patienten von Station E einzulassen, die in seinen Augen der reine Abschaum sind. Er findet, daß ich in Bezug auf meine Mitmenschen zu niedrige Ansprüche stelle."

"Dann laß uns also einmal überlegen", lenkte ihre Mutter ein, "wie wir deinem Dr. Kalwin das Jagdfieber gründlich austreiben können, ohne daß er uns dabei auf die Schliche kommt. Ich glaube, ich habe sogar schon eine Idee.


*


Dr. Kalwin öffnete die Augen und schaute sich mißtrauisch um. Sein Instinkt riet ihm davon ab, sich zu bewegen, bevor er nicht wußte, wo er sich befand. Ein seltsamer Druck lastete auf seiner Brust. Aus den Augenwinkeln konnte er zu seiner Linken eine mannshohe Öffnung erkennen, durch die grelles Sonnenlicht flutete. Offenbar befand er sich in einer Höhle. Aber wie war er hierher gekommen?

Langsam hob er den Kopf und erstarrte, als er sah, woher der Druck auf seiner Brust rührte. Etwa in Höhe seines Herzens saß eine kindskopfgroße, behaarte schwarze Spinne, deren tückische Insektenaugen ihn unverhohlen boshaft anfunkelten. Dr. Kalwin erinnerte sich, daß er sein Messer immer in Reichweite neben sich liegen hatte, wenn er im Freien schlief, und begann vorsichtig danach zu tasten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er es endlich gefunden hatte.

Die Spinne regte sich nicht, aber sie schien ständig schwerer zu werden. In der Rechten das Messer, hob Dr. Kalwin abermals langsam den Kopf und blickte unverwandt in die schwarzen Augen hinein. "Ich werde die töten, Dr. Kalwin", zischelte die Spinne mit der flachen Stimme Merles aus ihrer chitinharten Mundöffnung hervor, "ich werde dich töten."

Dr. Kalwin riß das Messer hoch und wollte das widerwärtige Insekt gerade durchbohren, als mit einem leisen, platzenden Laut der Druck von seiner Brust wich. Schweißüberströmt wachte er in seinem Bett auf. Draußen war es bereits hell, die Sonne schien durch die geöffnete Balkontür. In seiner noch erhobenen Rechten hielt er die große Papierschere, die er am Abend zuvor auf seinem Nachtschrank liegengelassen hatte. Bei dem Gedanken, was er gerade im Begriff gewesen war zu tun, wurde ihm eiskalt. Er konnte wirklich von sich behaupten, daß er urlaubsreif war.

Mit dem Gefühl einer unvertrauten Verletzbarkeit erhob er sich und ging ersteinmal unter die Dusche. Nach einem ausgiebigen Frühstück auf der Terrasse und der obgligatorischen Morgenzigarette kam er schließlich zu dem Schluß, daß seine Arbeit in seinem Leben zuviel Raum einnahm. Die ständige Konfrontation mit den krankhaften Phantasien seiner Patienten verlangte nach einem gesunden Gegengewicht. Er brauchte eine Familie. Er brauchte eine Frau. Aber nichts stieß ihn so ab wie die zahlreichen Verehrerinnen aus seinem weitläufigen Bekanntenkreis, die sich ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit förmlich an den Hals warfen. Gerade aus wohlhabenden Kreisen waren sich selbst die Mütter nicht zu schade, ihm mehr oder weniger plump zu verstehen zu geben, daß er als Schwiegersohn in ihrer Familie überaus willkommen war.

Dr. Kalwin verschob jede weitere Überlegung zu diesem unerfreulichen Thema auf einen späteren Zeitpunkt. Im Grunde liebte er seine Unabhängigkeit, auch wenn sie mit der Gefahr der Haltlosigkeit einherging. Er schlenderte hinüber in sein Arbeitszimmer und zog sich einen alten, ledergebundenen Band von Voltaire aus dem Bücherregal. Für so etwas hat man nur als Junggeselle Zeit, war sein letzter Gedanke, bevor er sich ganz vom Esprit des französischen Querdenkers vereinnahmen ließ.


*


Es war Sonntag abend und bei Viola Jochimsen klingelte es erwartungsgemäß an der Tür. Viola hatte nach eingehender Beratung gemeinsam mit ihrer Mutter einen kurzen Brief entworfen, der noch am Freitag Dr. Kalwin zugestellt worden war. Sein Inhalt lautete:


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Werter Dr. Kalwin,

da mir wegen einer gerade abgeklungenen Erkältung nicht der Sinn nach Eiscreme steht, möchte ich Ihnen vorschlagen, sich am Sonntag abend um 18 Uhr bei mir auf eine Pizza und ein Glas italienischen Landwein einzufinden. Ich verspreche, mit dem Arsen sparsam zu sein.

Aller Ruhm den Tapferen, Viola Jochimsen


*


Nachdem die Türglocke noch einmal energisch geschellt hatte, nickte Viola ihrer Mutter zu, die sich daraufhin in die Küche zurückzog. Mit einem betont gelassenen Gesichtsausdruck ging Viola zur Tür, öffnete und bat Dr. Kalwin, einzutreten.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 27. April 1997

12. Januar 2007