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PSYCHO/007: ... und tief ist sein Schein ( 7) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Es war ein lauer Spätsommerabend und das kleine Eiscafé war gut besucht. Viola war kurz nach Feierabend in der Halle beinahe mit Dr. Kalwin zusammengeprallt, als sie etwas zu eilig aus dem Fahrstuhl gestiegen war. Er hatte die Gelegenheit genutzt, sie an ihre noch ausstehende Verabredung zu erinnern, und sie dabei so durchdringend angesehen wie ein Lehrer, der verhindern will, daß der Schüler seine Hausaufgaben nicht macht. Viola hatte die Flucht nach vorn angetreten und ihn mit harmlosem Lächeln gefragt, ob er nicht auch gerade Feierabend und daher Zeit hätte, jetzt mit ihr Eisessen zu gehen.

Eigentlich hatte Viola darauf gesetzt, daß er darauf bestehen würde, selbst den Termin ihrer Verabredung festzulegen und war daher nicht wenig erstaunt, als er nach kurzem Zögern zusagte. Nun saßen sie an einem der kleinen Tische im baumbestandenen Vorgarten des kleinen Cafés, das seinen Gästen den Eindruck vermittelte, zu Hause im eigenen Garten zu sitzen.

Viola hatte sehr wohl die Blicke bemerkt, die Dr. Kalwin gefolgt waren, als er mit ihr an den anderen Gästen vorbei zu einem freien Tisch gegangen war. Obgleich er sein Jackett im Auto gelassen hatte und nur ein dunkelbraunes Polohemd trug, hatte er etwas ungemein Distinguiertes, Gebieterisches an sich, das andere auf ihn aufmerksam werden ließ. Er selbst war offenbar so sehr daran gewöhnt, Aufmerksamkeit zu erregen, daß er es gar nicht mehr wahrzunehmen schien.

"Welche Sorte mögen Sie denn?" fragte Viola, nachdem sie sich gesetzt hatten und sie nachdenklich mit dem Finger über die Eiskarte gefahren war. Er lächelte ein wenig amüsiert.

"Ich würde einen Kaffee vorziehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht."

"Ach, schade", entgegnete sie ehrlich enttäuscht. "Ich wußte nicht, daß Sie kein Eis mögen. Da hätten wir ja gar nicht herzukommen brauchen."

"Da Sie nicht mit mir Tennis spielen wollten, soll mir das Eis ein willkommener Vorwand sein, Sie etwas näher kennenzulernen. Denn Sie wissen ja, ich bin der Ansicht, daß man besser zusammenarbeitet, wenn man öfter die Gelegenheit für ein kleines Gespräch wahrnimmt, das sich nicht ausschließlich um Patienten und Verwaltungsfragen dreht."

Oje, dachte Viola und bestellte sich einen der größten Eisbecher, die auf der Karte standen, um etwas zu haben, womit sie sich beschäftigen konnte. Ihr war klar, daß es ihm darauf ankam, sie in das Heer seiner Untergebenen einzureihen, die ausschließlich darauf bedacht waren, sich seine Anerkennung zu erdienen. Doch ehrlich anerkennen würde sie ihn nicht können, und um so zu tun als ob, fehlten ihr sowohl die Motivation als auch das Talent.

Nachdem die Kellnerin den Kaffee und das Eis serviert hatte, widmete Viola sich zunächst hingebungsvoll der Aufgabe, den wirklich beeindruckenden Berg aus Heidelbeer- und Bananeneis abzubauen.

"Sie scheinen sich da in eine ziemlich kalte Leidenschaft verrannt zu haben", lächelte Dr. Kalwin amüsiert, nachdem er sie eingehend gemustert hatte. Wahrscheinlich war er daran gewöhnt, daß die Frauen, mit denen er Essen ging, über seiner Anwesenheit die köstlichsten Speisen stehenließen. Daß es bei ihr anders war, weckte sein Interesse, was beileibe nicht ihrer Absicht entsprach. Das Eis wie in Trance beiseite zu schieben und ihm mit großaufgeschlagen Augen voller Bewunderung dabei zuzusehen, wie er lässig im Stuhl zurückgelehnt den Rauch seiner Zigarette in die blaue Dämmerung bließ, wäre vielleicht eine Taktik gewesen, jedem weiteren Konflikt aus dem Wege zu gehen. Doch diese Rolle würde sie dann Tag für Tag durchhalten müssen. Und das kam für sie nicht in Frage.

"Kommen Sie öfter hierher?" fragte er unvermittelt und griff mit seiner nervigen, wohlgeformten Hand nach der Kaffeetasse. Ein Eisbecher wie der ihre hätte bei ihm tatsächlich seltsam deplaziert gewirkt, so sehr erfüllte er das Klischee des durch und durch maskulinen Siegertyps. Viola mußte lächeln bei der Überlegung, ob es wohl erhellend wäre, Menschen nach ihrem Verhältnis zu Eisbechern zu beurteilen. Er bezog ihr Lächeln auf sich und sagte, ganz offensichtlich ohne es zu meinen: "Sie haben völlig recht, es geht mich überhaupt nichts an."

"Ich wüßte nicht, weshalb ich geheimhalten soll, wo ich den größten Teil meiner Freizeit verbringe", erwiderte Viola leichthin scherzend, um bloß nicht jene verhängnisvolle Spannung bestehen zu lassen, die ihr Gegenüber herzustellen bemüht war.

"Fürchten Sie nicht um Ihre Taille?" fragte er, offenkundig nur um des Vorwands willen, seinen Blick ungeniert über ihren Körper gleiten zu lassen. Langsam stieg der Zorn in Viola auf, doch sie wußte, daß sie kalt und überlegt vorgehen mußte, wollte sie nicht vor ihm und der gesellschaftlichen Gewalt, die hinter ihm stand, letztendlich doch klein beigeben müssen. Jetzt winkte Dr. Kalwin auch noch die Blumenverkäuferin heran, die in zwei geflochtenen Kiepen bunte Dahliensträuße feilbot. Er kaufte einen Strauß und legte die Blumen mit einem so gönnerhaft-provozierenden Lächeln vor sie hin, daß Viola sich schon fragte, ob er ihren Zorn bemerkt und sich vorgenommen hatte, sie noch weiter aus der Reserve zu locken.

"Auf gute Zusammenarbeit", sagte er in einem der Situation gänzlich unangemessen vertraulichen Tonfall, und Viola wußte, daß sie sich nun schnell etwas einfallen lassen mußte, sonst blieb ihr in der Konsequenz nur, entweder ihre Selbstachtung oder ihren neuen Job zum Teufel gehen zu lassen.

Doch sie hatte nicht umsonst am eigenen Leib ausführlich die besondere Wirkung sozialer Tabus studieren können. Sie wußte, daß nichts einer romantischen Stimmung so abträglich war wie das ungeschönt kreatürliche, aller Verklärung entblößte menschliche Gesicht. Unauffällig fing sie an, ein wenig Luft zu schlucken, hob dann scheinbar verlegen die Hand vor den Mund und rülpste so vernehmlich, daß das Pärchen am Nachbartisch sich empört umwandte.

"Oh", stammelte sie, "das passiert mir manchmal, wenn ich zu hastig esse."

"Vielleicht sollten Sie sich das nächste mal mit einer halben Portion begnügen", tat Dr. Kalwin unbeeindruckt, doch Viola spürte, daß er sich unwillkürlich ein wenig zurückzog. Also schnell wieder Luft geschluckt und die peinliche Szene noch einmal wiederholt. Diesmal gelang ihr ein besonders widerwärtiges Geräusch.

"Entschuldigung", sagte sie mit hilflosem Schulterzucken und registrierte erleichtert, daß das anzügliche Flimmern in seinen Augen einer Mischung aus milder Abscheu und Enttäuschung gewichen war.

"Ich würde jetzt lieber aufbrechen", schlug Viola zu seiner offensichtlichen Erleichterung vor. "Ich glaube, ich brauche ein wenig Bewegung."

Dr. Kalwin machte keine Miene, sie nach Hause zu begleiten. Er verabschiedete sich von ihr förmlich, jedoch ohne persönlichen Groll. Und er würde sie morgen sicherlich nicht mit einem beziehungsreichen Lächeln begrüßen, sondern sachlich und kühl, wie es ihr am liebsten war. Mit beschwingten Schritten ging Viola in dem Bewußtsein davon, einen Sieg errungen zu haben.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 10. März 1997

2. Januar 2007