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PSYCHO/006: ... und tief ist sein Schein ( 6) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Die Wohnung des Hausmeisters befand sich in einem aus dunkelrotem Backstein gemauerten Seitentrakt neben der Turnhalle des Erziehungsheims. Obgleich dieser Teil des Gebäudes an jeder Seite über zwei Fenster verfügte, die mit weißen Gardinen verhängt waren, wirkte die Wohnung von außen düster und wenig anheimelnd. Die Heimzöglinge wären ohnehin nicht auf den Gedanken gekommen, dem stets finster und abweisend dreinblickenden buckligen Hausmeister einen Besuch abzustatten. Bis auf Volker Götting, der jetzt vor seiner Tür stand.

Volker war zufällig dabeigewesen, als einer der Neuankömmlinge, ein pickelgesichtiger, rothaariger Junge, sich lautstark über das Aussehen des Hausmeisters lustig gemacht hatte. "Der sieht ja aus wie ein Zombie", hatte er den anderen zugerufen, die daraufhin aus irgendeinem Grund betreten wegschauten. "Hey, Narbengesicht, warum bist du um diese Zeit nicht in deiner Gruft?"

Der Hausmeister hatte nur einmal ganz kurz zu dem Jungen hinübergesehen. Dabei wurde auch Volker von seinem Blick gestreift. Noch im selben Augenblick, als ihre Augen sich trafen, hatte Volker gewußt, daß er zum erstenmal in seinem Leben jemandem gegenüberstand, vor dem er nichts verbergen konnte. Und ein seltsamer Schauer war über seinen mageren Körper gelaufen.

Als der Neue, der den Hausmeister verspottet hatte, noch am selben Nachmittag durch eine Ungeschicklichkeit mit dem kleinen Finger in das schwere, gußeiserne Eingangstor geriet, so daß ihm im Krankenhaus das zerquetschte Fingerglied abgenommen werden mußte, beschloß Volker, den Hausmeister aufzusuchen. Dabei war es ihm keineswegs gleichgültig, daß gemunkelt wurde, der bucklige Schmidt wäre ein Hexer und mit dem Teufel im Bunde. In Gegenteil, der Teufel hatte Volker schon immer interessiert.

"Hermann Schmidt, Hausmeister" stand auf dem fleckigen Messingschild über der Klingel, die Volker soeben betätigt hatte. Der schrille Laut ließ ihn zusammenfahren. Irgendwie hatte er etwas anderes erwartet als dieses profane, nervtötende Geräusch.

"Wer ist da?" ließ sich gleich darauf eine barsche Männerstimme vernehmen. Erst jetzt wurde Volker klar, daß er gar nicht wußte, welchen Grund er für sein Kommen anführen konnte. Schon wollte er unverrichteter Dinge davonrennen, als die Tür geöffnet wurde und das auf der linken Seite von Brandnarben entstellte Gesicht des Hausmeisters im Türspalt erschien.

"Ach du bist es, Merle", klang die Stimme des Buckligen auf einmal beinahe freundlich. Doch weil er ihn Merle genannt hatte, glaubte Volker schon, er würde ihn mit jemandem verwechseln. "Ich bin Volker Götting", sagte er daher und spürte im selben Moment, wie hohl und fremd ihm sein eigener Name auf einmal vorkam. Fast hatte er das Gefühl zu lügen.

"Ach so ist das." Der Hausmeister kniff die Augen zusammen und musterte ihn nun wieder sehr abweisend. "Dann sieh zu, daß du von hier verschwindest. Ich hab für Kinder nichts übrig und außerdem zu tun." Ohne ein weiteres Wort wurde die Tür mit Nachdruck geschlossen und Volker stand ratlos und auch ein wenig verärgert davor.

Doch schon bald glitt ein gerissenes Lächeln über sein hageres Jungengesicht. Noch einmal drückte er auf den Klingelknopf, und als er gleich darauf wieder gefragt wurde, wer da wäre, erwiderte er mit fester Stimme: "Ich bin es, Merle."


*


Für Viola war es ein ganz normaler Schultag, an dem sie wie gewöhnlich um sieben Uhr früh vom sanften Piepton ihres Weckers geweckt wurde. Sie war fünfzehn Jahre alt und ging in die neunte Klasse des Gymnasiums. Besonders im Sommer fiel ihr das Aufstehen nicht schwer, denn sie hatte eigentlich immer eine Menge vor.

Doch als sie diesmal aufstand, stellte sie erschrocken fest, daß sie sich während der Nacht beschmutzt hatte. Ohne lange zu überlegen, zog sie das Bettlaken ab und lief ins Badezimmer, um sich und das Laken zu säubern. Nachdem das geschehen war, kamen ihr auch schon die ersten Erklärungen für diesen überaus unangenehmen Vorfall in den Sinn. In ihrer Klasse war ein Mädchen an Magen-Darm-Grippe erkrankt, und am Vortag hatte sie im Freibad eine Bockwurst gegessen, die vielleicht nicht mehr ganz einwandfrei gewesen war. So etwas sollte vorkommen. Viola wunderte sich nur ein wenig, daß sie sich eigentlich kein bißchen krank fühlte.

"Ich glaube, ich bin dicht an einer Grippe vorbeigeschlittert", erzählte sie ihrer Mutter, bevor sie das Haus verließ. "Ich hatte irgendwie Verdauungsstörungen letzte Nacht."

"Willst du nicht lieber zu Hause bleiben?" fragte Frau Jochimsen ein wenig besorgt, denn sie kannte die Neigung ihrer Tochter, Krankheiten zu bagatellisieren, weil sie auf keinen Fall das Bett hüten wollte.

"Ach wo, ich fühle mich überhaupt nicht krank. Bestimmt ist inzwischen alles wieder in Ordnung", entgegnete Viola erwartungsgemäß. Sie war eine begeisterte Sportlerin und freute sich schon auf das Volleyball-Turnier, das am Nachmittag in der Schule stattfinden sollte.

"Also gut, aber wenn du dich schlecht fühlst, kommst du gleich nach Hause", zwang die Mutter sich zu einem unbeschwerten Ton, obgleich ihr sofort die letzten Meldungen über salmonellenverseuchtes Speiseeis eingefallen waren. Seit dem Tod ihres Mannes hing sie noch mehr an ihrer einzigen Tochter, doch sie wollte ihr nicht durch Überängstlichkeit das Leben schwer machen.

Tatsächlich schien Viola nicht krank zu werden. Noch am selben Abend vertilgte sie zur stillen Erleichterung ihrer Mutter mit bestem Appetit ein halbes Hähnchen und eine Riesenportion Pommes frites.

Doch einige Tage später, als Viola den morgendlichen Vorfall bereits so gut wie vergessen hatte, wiederholte er sich. Aber erst beim dritten Mal sprach sie mit ihrer Mutter darüber.

"Ich werde heute Nachmittag beim Arzt einen Termin für dich vereinbaren", strich die Mutter ihr beruhigend übers Haar, denn sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie unangenehm und beängstigend es sein mußte, im Schlaf unkontrolliert Stuhl zu verlieren. "Er wird dir etwas verschreiben, und dann wird die Sachen bestimmt schnell ausgestanden sein."

Doch der zu Rate gezogene Arzt konnte weder eine Darminfektion noch eine Gewebeschwäche im Schließmuskelbereich und auch keine Nervenschädigung feststellen. Nachdem er alles andere ausgeschlossen hatte, teilte er Violas Mutter mit, daß ihre Tochter unter einer bei Jugendlichen recht seltenen Form offenbar psychisch bedingter Stuhlinkontinenz litt und empfahl ihr, es mit einer Psychotherapie zu versuchen.

Für Viola begann eine schlimme Zeit. Auch ihre Mutter konnte nicht verhindern, daß sie in voller Härte erfahren mußte, was es heißt, unabsichtlich an ein gesellschaftliches Tabu zu rühren. Außer mit ihr und ihrem jeweiligen Psychotherapeuten konnte sie mit niemandem über ihr Problem sprechen. Und keinem der Therapeuten, die sie nacheinander aufsuchte, wollte es auch nur ansatzweise gelingen zu verhindern, daß Viola morgens aufwachte und feststellen mußte, daß es doch wieder geschehen war. Für eine psychisch verursachte Störung gab es bei ihr einfach keinen konkreten Anhaltspunkt.

Mehr und mehr zog Viola sich aus ihrem ehemaligen Freundeskreis zurück. Obwohl es absurd war, fürchtete sie ständig, einen unangenehmen Geruch zu verbreiten oder plötzlich auch bei Tag Stuhl zu verlieren. Selbst ihre Spezialvorlagen halfen ihr nicht, ihr früheres Zutrauen zu ihrem Körper zu erhalten. Sie verlor über dem Gedanken an die Peinlichkeit eines eventuellen Vorfalls beim Sport ganz und gar die Freude an derartigen geselligen Betätigungen, streifte lieber allein durch Wald und Feld und dachte über Dinge nach, die selbst wesentlich ältere Frauen zu erwägen kaum ertrugen.

Der liebevollen Unterstützung und der offensiven Art, mit der sich Violas Mutter über die Tabuisierung und soziale Isolation inkontinenter Menschen Klarheit verschaffte, verdankte Viola es, nicht völlig ihre ehemals so sprühende Lebensfreude zu verlieren. So schlug ihr die Mutter vor, sie solle einfach behaupten, sie könne ihre alleinstehende Mutter nachts nicht sich selbst überlassen, da sie aufgrund eines Herzleidens auf jemanden angewiesen war, der ihr bei einem Anfall ihre Tropfen gab. Mit dieser Begründung gelang es Viola, ihr Fehlen bei Klassenfahrten oder später ihre Ablehnung, bei Freunden zu übernachten, einigermaßen plausibel zu machen. So blieb sie wenigstens von unangenehmen Fragen verschont.

Aber sie blieb nicht verschont davon, viel Unerfreuliches über das allgemein vorherrschende Verständnis von Körperlichkeit, von Freundschaft und vor allem von sogenannten Liebesbeziehungen zu erfahren. Immer wieder mußte sie feststellen, daß sie in einer Gesellschaft verlogener Seifenanbeter lebte, die nichts weniger ertrugen, als an ihren eigenen Darm erinnert zu werden.

Daß Viola aufgrund ihrer Erkrankung auch einige schmerzliche Erfahrungen erspart blieben, tröstete sie als junges Mädchen wenig. Erst später, als die glücksverklärt geschlossenen Ehen ihrer wenigen Freundinnen und Arbeitskolleginnen langsam an der unästhetischen Alltagswirklichkeit zerbrachen und oft nur noch die ökonomische Versorgung sowie ein rudimentärer Triebabtausch als gemeinsame Basis übrig blieb, schwand allmählich ihr Gefühl, benachteiligt zu sein. Und zu dem Zeitpunkt, als sie die Stelle auf Dr. Kalwins Station antrat, hatte sie für sich selbst bereits vollkommen geklärt, was sie unter Liebe verstand.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 25. Februar 1997

29. Dezember 2006