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PSYCHO/003: ... und tief ist sein Schein ( 3) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Die Gartenlaube, in der Merle, als er noch Volker Götting hieß, mit seinen Eltern und vier Geschwistern lebte, stand auf einem verwahrlosten Grundstück in unmittelbarer Nähe des städtischen Klärwerks. Wegen des penetranten Geruchs hatte noch nie jemand Interesse für das Grundstück angemeldet, und die mittellose Familie Götting wurde von der Gemeinde stillschweigend als Nutznießer geduldet. Sie hatte einmal zu einem Schausteller-Clan gehört, nach einem Streit mit dem Oberhaupt jedoch beschlossen, das Wanderleben aufzugeben und sich am Rande der Kleinstadt niederzulassen. Seitdem arbeitete Vater Götting am Fließband in den nahen Gummiwerken, und seitdem soff er mit seiner Frau um die Wette.

Solange Volker noch nicht in die Schule mußte, hatte er nur die handgreiflichen Streitereien seiner Eltern, ihre für ihn meist mit Hunger und feuchtkalten Zimmern verbundene Abwesenheit und die Gewißheit zu ertragen, daß seine Existenz für niemanden mehr als ein lästiges Übel war. Doch als die Schule begann, wurde sein in jeder Hinsicht freudloses, entbehrungsreiches Dasein endgültig zur Qual.

"Der stinkt, als wenn er die Hosen voll hat", beklagten sich seine Mitschüler gleich am ersten Schultag bei der peinlich berührten Lehrerin, die sich schnell damit abfand, daß niemand bereit war, neben dem braunhäutigen, schweigsamen Jungen zu sitzen. Offenbar hatten die Kleidungsstücke, die Volkers Mutter an der Wäscheleine vor dem Haus zu trocknen pflegte und manchmal die ganze Woche über dort hängen ließ, den Geruch des Klärschlamms angenommen, den der Wind von den Spülfeldern herübertrug. Da Volker obendrein auch noch kleiner und schmächtiger als seine Mitschüler war, mußte er fortan erfahren, was Erstkläßler bereits an Bosheit und Niedertracht aufzubieten vermochten. Zigeunerfurz nannten sie ihn wegen seiner dunklen Haut und seiner schwarzen Augen oder auch Klobürste wegen seines struppigen, verschnittenen Haars. Fast jeden Tag kam er weinend nach Hause, aber selbst wenn seine Mutter einigermaßen nüchtern war, kümmerten ihre Kinder sie nicht.

Im Sommer mußte Volker gleich nach der Schule die Schuhe ausziehen, um sie zu schonen, denn seine beiden jüngeren Geschwister sollten sie auch noch tragen können. Für den Rest des Tages hieß es also barfuß laufen. Daher hatte sich auf seinen Fußsohlen bald eine so dicke Hornhaut gebildet, daß er sogar über spitze Glasscherben laufen konnte, ohne sich zu verletzen. Dieses natürlich Phänomen brachte ihn schließlich auf eine Idee, die gemeinsam mit dem Haß auf seine erbarmungslosen Mitschüler langsam wie ein Geschwür in ihm heranwuchs. Wenn Hornhaut unter meinen Füßen entsteht, nachdem das Barfußlaufen anfänglich geschmerzt hat, so überlegte er sich, warum sollte nicht auch meine Seele eine Hornhaut bilden, wenn ein Schmerz nur groß genug ist und lange genug dauert? Immer häufiger tauchte diese Überlegung fortan in den Gedanken des Jungen auf.

Weil weder Volker noch seine Geschwister Spielzeug besaßen, behalfen sie sich mit dem, was sie in ihrer Umgebung fanden und was ihnen interessant erschien. Leere Dosen und Flaschen gehörten ebenso dazu wie alte Autoreifen oder die zahlreichen Ratten, für die der Klärschlamm geradezu das Paradies darstellte. Jedes Kind der Familie Götting war bestens in der Kunst bewandert, eine Ratte zu fangen. Doch Volker tat sich dabei besonders hervor. Er war mit den flinken Nagern so vertraut, daß er sie beinahe mit bloßen Händen fangen konnte, wenn er sich an der richtigen Stelle verbarg. Doch noch nie hatte Volker einer Ratte Schaden zugefügt oder sie gar umgebracht, im Gegenteil, er verwöhnte und hätschelte sie, ließ sie aus seiner Hand fressen oder trug sie auf der Schulter mit sich herum, sobald sie sich an ihn gewöhnt hatten. Wenn Volker Götting etwas an seiner trostlosen Umgebung liebte, dann waren es die Ratten. Vor allem einer, die aus einem ihm unbekannten Grund nur noch einen kurzen Stummelschwanz besaß, gehörte sein einsames, kindliches Herz.

Als Volker damit anfing, immer mehr Ratten zu fangen und liebevoll zu zähmen, war er sich selbst noch nicht im klaren darüber, weshalb er es eigentlich tat. Doch da mußte der Entschluß bereits vorhanden gewesen sein, dessen grausame Logik ein halbes Jahr später endgültig und unabweisbar in sein Bewußtsein Einlaß fand. Bis dahin besaß Volker mehr als 30 zahme, überaus zutrauliche und verständige Ratten.

Als Volker Götting elf Jahre alt war, steckten ihn vier seiner Mitschüler mit dem Kopf in ein Toilettenbecken. Am nächsten Tag erschien er nicht zum Unterricht. Er war damit beschäftigt, seinen Plan in die Tat umzusetzen.


*


"Frau Jochimsen ist da, Dr. Kalwin. Sie sagt, Sie wollten mit ihr sprechen", kündigte die Sekretärin über ihre Gegensprechanlage Viola Jochimsens Erscheinen an.

"Ach ja, richtig", erweckte Dr. Kalwins Stimme, die selbst durch den kleinen Lautsprecher ihren gebieterischen Klang nicht ganz einbüßte, den Anschein, als hätte er diesen unwichtigen Termin längst vergessen. "Schicken Sie sie bitte herein."

"Dr. Kalwin läßt bitten", gab die Sekretärin, eine elegant gekleidete, distinguierte Dame in gemessenem Tonfall an Viola weiter, obwohl diese es selbst vernommen hatte. Ein gnädiges Nicken in Richtung der Tür seines Arbeitszimmers, und sie wandte sich wieder ihren Aktenordnern zu.

Dr. Kalwin saß an seinem wuchtigen, mit Papieren und Bücherstapeln übersäten Schreibtisch und telefonierte. Mit einer beiläufigen, aber freundlichen Geste bedeutete er Viola, in dem wuchtigen Sessel Platz zu nehmen, der seitlich versetzt vor dem Schreibtisch stand. Wer sich in dem lederbezogenen Möbelstück niederließ, kam sich sogleich schmächtiger und kleiner vor, als er tatsächlich war - ein von seinem Besitzer durchaus beabsichtigter Effekt.

Der Stationschef telefonierte noch einige Minuten, offenbar handelte es sich um ein neurologisches Problem. So hatte Viola Gelegenheit, die funktionale, aber gediegene Einrichtung und das markante Profil ihres Gegenübers zu betrachten, der beim Sprechen aus dem Fenster sah, wo eine prächtige Ulme das Eindringen der Nachmittagssonne verhinderte. Nachdem er aufgelegt hatte, betrachtete er Viola angelegentlich, als hinge er in Gedanken noch dem soeben beendeten Gespräch nach und müßte sich erst wieder darauf besinnen, wer sie eigentlich war. Ohne eine Spur von Nervosität oder Verunsicherung hielt Viola seinem Blick stand. Sie bemühte sich auch nicht, die eingetretene Stille durch eine hastige Erklärung ihres Kommens oder eine eilig begonnene Konversation zu überbrücken. Für eine Weile war nur das Ticken der antiken Standuhr zu hören, deren Pendel gemächlich hin und her schwang.

Dr. Kalwin war sich der Wirkung seiner Persönlichkeit und nicht zuletzt auch seiner Position voll bewußt und bediente sich ihrer mit großem Erfolg. Doch seine diesbezügliche Befähigung rief in den ruhigen braunen Augen dieser Frau nur einen seltsamen Ausdruck von Müdigkeit hervor, den er sich nicht zu deuten wußte. Entweder war sie unglaublich einfältig und nicht in der Lage zu begreifen, daß es für ihr Arbeitsverhältnis unerläßlich war, sich seiner Person unterzuordnen, oder sie spielte das Spiel von Dominanz und Unterwerfung auf einer Ebene, die ihm völlig fremd war. Er zog bei seinen Mutmaßungen jedoch nicht in Erwägung, daß Viola Jochimsen weder einfältig war noch sozialen Muskelspielen irgendeine tiefere Bedeutung abringen konnte. Ihre Interessen wie auch ihre Probleme waren ganz anderer Art.

"Ich hatte Sie hergebeten", hub Dr. Kalwin endlich mit ernster Miene an, "um mit Ihnen kurz über die Zusammenarbeit zu sprechen, die in meinem Mitarbeiterstab üblich ist." Er fixierte sie mit überzeugend emotionslosem Blick. "Ich sage Ihnen daher gleich ganz offen, daß mein Führungsstil von vielen als autoritär bezeichnet wird. Tatsächlich halte ich auch nichts davon, wenn meine Anweisungen in Frage gestellt oder diskutiert werden, bevor man sie befolgt."

"Ich habe mit nichts anderem gerechnet, als ich mich um die Stelle bewarb", erwiderte Viola wahrheitsgemäß, was seltsamerweise seinen Unmut wachzurufen schien. Vielleicht wäre ihm eine Widerrede lieber gewesen, dann hätte er endlich ein Ziel für sein mehr oder minder subtiles, psychophysisches Waffenarsenal ausgemacht.

"Gut, ich sehe, wir verstehen uns", wechselte er unvermittelt seine Strategie und lächelte so milde-gönnerhaft, als hätte sie ihm beglückt einen lebenslangen Treueeid geschworen. "Wie Sie vielleicht schon gehört haben, entspricht es auf dieser Station den Gepflogenheiten, daß ich mit meinen Mitarbeitern des öfteren zwanglos zu einem kleinen Tennismatch oder einem zünftigen Ausritt zusammentreffe, was die Kommunikation während der Arbeit enorm verbessert." Er machte eine kurze Pause, wie um sie in den vollen Genuß seiner Worte kommen zu lassen. "Was hielten Sie davon, bereits heute abend ein wenig für unsere Zusammenarbeit zu tun und mich auf den Tennisplatz zu begleiten?"

Für den Bruchteil einer Sekunde erbleichte Viola Jochimsen wie ein Mensch, der bei etwas Verbotenem ertappt worden ist. Doch dann hatte sie sich wieder in der Gewalt und erwiderte mit entwaffnendem Lächeln, doch ohne eine Spur von Bedauern: "Es tut mir leid, aber ich treibe grundsätzlich keinen Sport."

Dr. Kalwin hätte sie gern nach dem Grund gefragt, aber zuviel persönliches Interesse an seinen Mitarbeitern zu signalisieren, war in seinen Augen ein unverzeihlicher Fehler.

"Gut, wie Sie meinen", entgegnete er statt dessen knapp. "Dann erwarte ich von Ihnen in nächster Zeit einen entsprechenden Gegenvorschlag, denn wenn Sie sich ausschließen wollen, dürfte es auf dieser Station bald recht schwierig für Sie werden", schloß er mit einem ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr. Wäre Viola Jochimsen jetzt gegangen, hätte ihn diese unergiebige Begegnung zunächst nicht weiter beschäftigt. Doch dann sagte sie etwas, wodurch das Bild, das er sich bereits von ihr gemacht hatte, unvermittelt wieder in Scherben fiel.

"Ich könnte Sie heute abend zum Eisessen einladen, bei mir in der Nähe gibt es eine Eisdiele, die zu kennen sich lohnt." Ihre spontane Freude über den Einfall nahm dem Vorschlag jede Zweideutigkeit. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie wirklich gerne Eis aß.

"Das ist ein Wort", sagte er, obgleich er sich eigentlich vorgenommen hatte, Tennis zu spielen. "Warten Sie nachher in der Eingangshalle auf mich, es kann sein, daß ich mich ein paar Minuten verspäte."

Und noch etwas Ungewöhnliches geschah: Sein ursprüngliches Vorhaben, diese Frau auf archaischer Ebene über ihre Unterwerfungsbereitschaft unter seine maskuline Dominanz zu belehren, kam ihm für einen kurzen Augenblick idiotisch vor.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 9. Januar 1997

14. Dezember 2006