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PSYCHO/002: ... und tief ist sein Schein ( 2) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Energisch betätigte Dr. Alexander Kalwin den Anlasser seines dunkelblauen Mercedes. Es war an der Zeit, in die Klinik zu fahren, und als Stationschef war es ihm ein prinzipielles Anliegen, pünktlich zu sein. Darauf, daß er viele seiner Privilegien nicht nutzte, war zum Teil der Respekt begründet, den er unter seinen Kollegen genoß. Davon abgesehen war es seine außergewöhliche Erscheinung, die es anderen offenbar leicht machte, seine Fachkompetenz anzuerkennen und seinen Anordnungen Folge zu leisten.

Er stellte den Wetterbericht lauter, während er in die ulmengesäumte Allee einbog, die in das weitläufige Klinikgelände mündete. Es sollte weiterhin sonnig bleiben, und einem zünftigen Tennismatch nach Feierabend stand somit nichts im Wege. Bei dem Gedanken an die neue Technische Assistentin, die sich ihm am Vortag in ungewohnt unbedarfter und dabei doch beinahe befremdlich nüchterner Weise vorgestellt hatte, spielte ein nachsichtiges Lächeln um seinen Mund. Er würde ihr Gelegenheit geben, ihm als Spielpartnerin auf dem Tennisplatz ein wenig Bewegung zu verschaffen. Ob ihre Abgeklärtheit nur gut vorgetragen oder tatsächlich echt war - bei diesem harmlosen Anlaß wollte er sie eines Besseren belehren. Denn die Frau, die in seiner Gegenwart nicht irgendwann nervös wurde, mußte erst noch geboren werden.

Doch immer wieder gab es Mitarbeiterinnen in seinem Stab, die er erst darüber in Kenntnis setzten mußte, daß sie kaum mehr als Wachs in seinen Händen waren, aus denen er sich nach Belieben Werkzeuge modellierte. Er selbst sah es für die Betreffenden ausschließlich als Gewinn an. Doch vor allem emanzipierten, selbstbewußten Frauen schien diese Einsicht zunächst hart anzukommen. Für sie kam seine freundliche Übermittlung der schlichten Tatsache, daß sie sich im Grunde nur zu gern von ihm führen und formen ließen, oftmals einer recht bitteren, aber letztendlich doch heilsamen und vor allem befreienden Selbsterkenntnis gleich. Und eine solche stand der neuen Mitarbeiterin wohl auch unmittelbar bevor.

Dr. Kalwin war groß, von sportlicher, athletischer Konstitution und sein vom regelmäßigen Tennisspiel stets sonnengebräuntes, kühngeschnittenes Gesicht mit den stahlgrauen Augen stand in eigenwilligem Kontrast zu dem streichholzkurzen, hellblonden Haar. Wenn er einen Raum betrat, stand er durch die selbstverständliche Autorität, die von ihm ausging, sofort im Mittelpunkt. Seine berufliche Kompetenz als Psychiater und Neurochirurg war aufgrund einer ganzen Reihe anerkannter Veröffentlichungen unbestritten.

Widersprach man ihm, was selten genug geschah, dann trat ein spöttisches Funkeln in seine Augen, mit denen er den Uneinsichtigen so eindringlich zu fixieren verstand, daß das Maß an konzentrierter Aufmerksamkeit den Betreffenden ins Stottern geraten ließ, wodurch die Frage der Überlegenheit in den meisten Fällen hinreichend geklärt war. Sich Dr. Kalwin ernsthaft zum Feind zu machen war allerdings nicht ratsam, da er außer über einen unerbittlichen und scharfen Verstand auch noch über weitreichende Verbindungen verfügte, die ihm seine persönliche Weltsicht in maßgeblichen Kreisen eingetragen hatte.

Das Menschenbild des Stationschefs war eigener Art. Ihn einen Faschisten zu nennen, hätte ihm zu Recht das für ihn typische und von vielen gefürchtete ironische Lächeln entlockt. Glich ein solcher Versuch doch allzu offensichtlich dem kleingeistigen Bestreben, mit diesem fraglos außergewöhnlichen Mann auf denkbar billige Art und Weise fertig zu werden. Und das war noch niemandem gelungen, der persönlich mit ihm zu tun bekam.

Nach seiner Ansicht war der Mensch, ebenso wie alles andere, was die sogenannte Natur im Laufe der Evolutionsgeschichte hervorgebracht hatte, eine geradezu unerträglich fehlerhaft und nachlässig entworfene Skizze. Doch nur dem Menschen allein kam die Möglichkeit und damit auch die Verantwortung zu, seine Aufgabe darin zu erkennen, die mangelüberfrachteten Konstruktionen der Natur nachzubessern und der Vollkommenheit entgegenzutreiben oder sie aber als Fehlplanungen letztgültig zu verwerfen.

Daß Mitleid für Dr. Kalwin ein unbrauchbares Konzept darstellte, versteht sich in diesem Zusammenhang beinahe von selbst. Und daß es ihm im Gegensatz zu vielen Berufskollegen keinerlei Schwierigkeiten bereitete, dies freimütig zuzugeben und schlüssig zu begründen, bestätigte nur einmal mehr seine Souveränität. Für ihn war Mitleid nichts anderes als in Anteilnahme gehüllte Feigheit. Sich in die Situation eines Opfers hineinzuversetzen verglich er mit dem ängstlichen Abwägen des notorischen Zauderers, der sich vor Augen führen muß, was ihm eventuell zustoßen könnte, wenn er sich auf die falsche Seite stellt. Dr. Kalwin war fest davon überzeugt, daß man den Mut zu unverzögerten, eindeutigen Entscheidungen brauchte, wollte man nicht zum ewigen Opportunisten degenerieren. Doch wer darauf bestand, sich die Zeit für Mitleid zu nehmen, mußte eben andere für sich entscheiden lassen.


*


Als er auf seinem Privatparkplatz vor dem Hauptgebäude den Motor abstellte, sah er, wie die Neue mit wehendem Mantel dem Personaleingang zustrebte. In ihren Bewegungen lag eine wachsame Leichtigkeit, durch die sie wahrscheinlich jünger wirkte, als sie tatsächlich war. Er schätzte sie auf Anfang dreißig. Mit der lässigen Geschmeidigkeit des Siegesgewohnten stieg er aus, schlug die Wagentür hinter sich zu und trat ihr in den Weg.

"Guten Morgen, Frau Jochimsen", brachte er seine sonore Stimme voll zur Geltung. "wären Sie so freundlich, mich heute nachmittag in meinem Büro aufzusuchen? Was unsere künftige Zusammenarbeit angeht, hätte ich mit Ihnen noch eine Kleinigkeit zu besprechen."

Mit einem offenbar vielgeübten Handgriff raffte Viola Jochimsen ihren geöffneten Mantel vorn zusammen, als wäre ihr plötzlich kühl geworden. Doch seltsamerweise wirkte sie durch diese Geste keineswegs verunsichert. Dr. Kalwin nahm den Duft eines teuren Parfums wahr, der sie umwehte, und stellte für sich fest, daß das Tragen von Parfum bei der Arbeit wenig zu ihrem keinesfalls Aufmerksamkeit heischenden Wesen paßte.

"Ja, selbstverständlich", beantwortete sie seine Frage. Kein erschrockener Augenaufschlag, keine trotzige Abwehr. Nur ein leichter Anflug von Besorgnis, der ganz kurz das klare, ein wenig abgespannte Gesicht überschattete.

Interessant, dachte er, und sagte mit einem angedeuteten Lächeln, das seine aristokratischen Züge erheblich an Zugänglichkeit gewinnen ließ: "Dann also bis später. Sagen Sie meiner Sekretärin, wir wären verabredet."

Mit einem flüchtigen Kopfnicken zu Viola Jochimsen wandte er sich einem seiner Kollegen zu, der offenbar darauf gewartet hatte, ihn ansprechen zu können. Alexander Kalwin investierte seine Aufmerksamkeit so überlegt und wohldosiert wie ein Börsenmakler sein Kapital.


*


Die Visite in Haus E war für ihn nicht mehr als ein notwendiges Übel. Der Sicherheitstrakt für psychopathische Schwerstkriminelle lag ein wenig abseits der übrigen Klinikgebäude hinter hohen Fichten verborgen. So blieben die vergitterten Fenster und die Wachleute am Eingang für die Blicke der gewöhnlichen Patienten unsichtbar.

Als er mit dem diensthabenden Pfleger das Zimmer von Merle und Preacher betrat, fiel sein Blick sofort auf das schwarze Pentagramm, in dessen Mitte immer noch das inzwischen gelbfleckige Polohemd lag.

"Was hat das zu bedeuten, Kaminsky?", wandte er sich an seinen Begleiter.

"Ich habe Sie verflucht, Dr. Kalwin", erklärte Merle, der den Anflug von Gereiztheit in der Stimme des Arztes begierig registriert hatte, anstelle des Gefragten. "Ich habe Sie verflucht. Und wenn Merle jemanden verflucht, ist es bald aus mit ihm. Sehr bald." Merle lachte meckernd und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, als brauchte er nur noch ein Weilchen so dazuliegen und abzuwarten, bis Dr. Kalwin tot umfiel.

"Soll ich ihm eine verpassen?" fragte der Pfleger beflissen, der für sein Talent bekannt war, besonders schmerzhafte Spritzen zu verabreichen.

"Sorgen Sie dafür, daß hier saubergemacht wird", entgegnete Dr. Kalwin entgegen dessen Erwartung knapp. "Ich frage mich, weshalb das nicht schon längst geschehen ist."

"Das Raumpflegepersonal ist abergläubisch", gab der Pfleger bereitwillig Auskunft. "Lauter türkische Hinterwäldlerinnen", fügte er in der Hoffnung hinzu, seinem Chef nach dem Munde zu reden. "Solche Schweinereien sind für die Teufelswerk, das fürchten sie mehr als Pest und Cholera."

"Was halten Sie davon, sich persönlich darum zu kümmerm, daß die Leute angemessen aufgeklärt werden?" fragte Dr. Kalwin in so jovialem Ton, daß Kaminsky unvermittelt erstarrte. "Sie könnten ihnen gleich an diesem Beispiel demonstrieren, was das für ein Humbug ist." Er haßte es, für einen hirnlosen, oberflächlichen Rassisten gehalten zu werden, nur weil er wie der Prototyp eines arischen Helden aussah und es nur wenige Menschen gab, die sich neben seiner charismatischen Erscheinung nicht minderwertig vorkamen. Welcher Rasse jemand angehörte, war für sein allerdings stark ausgeprägtes Wertempfinden vollkommen gleichgültig. Er hatte diesbezüglich seine eigenen Kriterien.

"Ich gehe davon aus, daß die Sache hier in einer halben Stunde erledigt ist", ließ er den Blick noch einmal durch den Raum gleiten, wobei er Merle bestenfalls als Möbelstück zu registrieren schien. Dann wurde Preacher, der wie immer mit gekreuzten Beinen auf seinem Bett saß und von niemandem erkennbare Notiz nahm, einer interesselosen Musterung unterzogen.

"Was empfiehlt denn unser Mönch anläßlich der Heldentaten seines Zimmergenossen?" bemerkte er schließlich, von der ganzen Szenerie offensichtlich gelangweilt, und wandte sich bereits zum Gehen, als Preacher ohne jeglichen Anflug von Feindseligkeit erwiderte:

"Wohl dem, Dr. Kalwin, der nicht nachlässig und schlaff darin wird, das Denken an den Tod zu pflegen."

Preachers volltönende, zugleich fesselnde und doch beruhigende Stimme ließ den Arzt wider Willen innehalten.

"Nur wer sich so übt", fuhr Preacher fort, "befreit sich vom Lebensdurst und wird fähig zur Erwachung: Ach, ich werde vielleicht nur noch solange leben, wie ich diesen einen Bissen kaue und zu mir nehme! Ach, ich werde vielleicht nur noch solange leben, wie ich nach dem Einatmen ausatme, nach dem Ausatmen einatme!"

Mit einem metallischen Klicken schnappte das Sicherheitsschloß der Tür ein, die Dr. Kalwin hinter sich zugezogen hatte.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 7. Januar 1997

14. Dezember 2006