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INTERVIEW/271: Insektenschwund - saubere Wissenschaft und konsequenter Naturschutz ...     Dr. Martin Sorg im Gespräch (SB)


Ein Insektenschwund in Schutzgebieten um mehr als 75 Prozent im Laufe der letzten knapp drei Jahrzehnte - sollte sich dieser hauptsächlich in Nordrhein-Westfalen sowie an einigen Standorten in Brandenburg und Rheinland-Pfalz registrierte Rückgang in anderen Ländern oder gar auf anderen Kontinenten bestätigen, stände die Menschheit möglicherweise an einer evolutionären Schnittstelle. Das sechste Massensterben der Erdgeschichte, von dem in der Wissenschaft zur Zeit häufiger die Rede ist, wäre zum Greifen nahe. Vielleicht war es die düstere Ahnung solch einer epochalen Negativentwicklung, die in zahlreichen EU-Ländern, den USA, Brasilien, Australien und wer weiß, wo sonst noch überall in der Welt, zur Beachtung der Untersuchungsergebnisse geführt hat.

Das ist pure Spekulation, dazu äußere ich mich nicht, würde der Krefelder Biologe Dr. Martin Sorg vermutlich zu dieser mit keinen wissenschaftlichen Daten unterstützten Mutmaßung sagen. Er ist Co-Autor jener im Oktober vergangenen Jahres im Journal PLOS One publizierten Studie [1] - pardon: jener "Untersuchungsergebnisse" -, die Wissenschaftler zweier Universitäten sowie der Entomologische Verein Krefeld zusammengestellt und ausgewertet haben. Sorg und andere Mitglieder dieses Vereins hatten nach immer der gleichen Methode - angefangen von der verwendeten Malaise-Falle bis zum Wiegen der Biomasse der in Alkohol verendeten Insekten - die Abundanz (Populationsdichte) der Tiere registriert und die Ergebnisse ausgewertet.


Beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Dr. Martin Sorg
Foto: © 2018 by Schattenblick

Bereits 2013 hatte der Entomologische Verein Krefeld mit der "Ermittlung der Biomassen flugaktiver Insekten im Naturschutzgebiet Orbroicher Bruch mit Malaise Fallen in den Jahren 1989 und 2013" auf sich aufmerksam gemacht. [2]

Seitdem wurden weitere Messungen durchgeführt, die das Bild erweitert und bestätigt haben: Ausgerechnet in Schutzgebieten wird heutzutage verglichen mit Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre nur noch rund ein Viertel der Fluginsekten gefangen. Wie muß es da erst außerhalb der Schutzgebiete um den Insektenbestand stehen? Oder besteht da vielleicht kein Unterschied? Erfüllen Schutzgebiete nicht die Funktion, Insekten einen Schutzraum vor potentiellen Gefahren zu bieten? Wie wir berichteten (s. u.), stellte Sorg die Untersuchungsmethode und die aktuellen Resultate am 17. Februar 2018 auf der Tagung "Rückgang der Insekten: Kenntnisstand, Forschungen, Aktivitäten", die der Landesverband NRW der Naturschutzorganisation NABU an und mit dem Institut für Landschaftsökologie (ILÖK) in Münster organisiert hatte, vor.

Dort waren auch die Neonicotinoide angesprochen worden, jene Pflanzenschutzmittel, die im dringenden Verdacht stehen, Bienen weitreichend zu schädigen. Inzwischen hat die EFSA, die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, eine Einschätzung aus dem Jahr 2013 bestätigt und weitere Erkenntnisse dazugewonnen, denen zufolge neonicotinoid-haltige Pestizide "ein Risiko für Wild- und Honigbienen" darstellen. Auf der Grundlage der Auswertung von Untersuchungen aus den letzten fünf Jahren wurden die Risikobewertungen für drei von der Europäischen Union mit einem partiellen Verbot belegte Neonicotinoide - Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam - aktualisiert. [3]

Im Zusammenhang mit dem Ergebnis eines 75prozentigen Insektenschwunds waren in der Öffentlichkeit einige Mißverständnisse aufgekommen, bzw. Mißdeutungen verbreitet worden, möglicherweise aufgrund mangelnder Kenntnis des verwendeten statistischen Verfahrens und/oder aufgrund berufsständischer Lobbyinteressen. Darauf haben die Autoren im November 2017 in Form eines in drei Sprachen (englisch, niederländisch und deutsch) gehaltenen Kommentars zu dem Artikel in PLOS One geantwortet und darin die Auswertungsmethode dieses komplexen Datensatzes näher erläutert [4].

Am Rande der NABU-Tagung stellte sich Martin Sorg dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.

Schattenblick (SB): Sie sind Co-Autor einer im Oktober 2017 veröffentlichten Studie über die Abnahme der Insektenbiomasse in Schutzgebieten über einen Zeitraum von 27 Jahren. Waren Sie von Anfang an an der Studie beteiligt?

Dr. Martin Sorg (MS): Es ist nicht "eine" Studie, es sind ganz viele einzelne Untersuchungen. Das heißt, es sind eigentlich räumlich und zeitlich differenzierte Einzeluntersuchungsprojekte, bei denen aber eine Methodik, die von uns schon 1984/85 standardisiert wurde, angewendet wurde. Das unterscheidet das Verfahren von anderen. Es handelt sich somit um eine Analyse über viele einzelne Studien hinweg, in der auch sehr, sehr viele Wiederholungsuntersuchungen sind - punktgenau am gleichen Standort, wiederholt in anderen Jahren.

SB: Hatten Sie und Ihre Kollegen ursprünglich den Verdacht, daß die Insektenbiomasse abnimmt, oder was war der Beginn bzw. Auslöser der Untersuchungen?

MS: Wir haben die Einzeluntersuchungen immer durchgeführt, um die Alphadiversität, also die Gesamtdiversität bestimmter Insektengruppen, für einen Punkt innerhalb eines Schutzgebietes zu untersuchen. Das, was wir eigentlich untersuchen, sind Artenspektren. Die Biomassen sind ein gemessener Begleitwert seit 1987.

Wir werten diese Artenspektren schon seit 30 Jahren immer wieder von allen Standorten aus und sind im Moment auch dabei, diese für einen Teil dieser Wiederholungsstandorte zu vergleichen, und wollen die Ergebnisse auch publizieren. Wir reden da im Grunde über laufende Arbeiten: Vergleiche der Artenspektren, der Artenzahlen, der Inhalte, der Lebensraumansprüche der Arten, die da vielleicht verschwunden sind, und auch der Abundanzen in Relation zum Fallentyp.

SB: Wenn man von der Insektenbiomasse ausgeht, könnte es dann sein, daß diese - theoretisch gesprochen - von einer einzigen oder einer sehr dominanten Art bestimmt wird?

MS: Nein, das kann nicht sein, denn wir kennen ja die Inhalte dieser Gefäße und wissen, wie hochgradig artendivers die Inhalte der Insektenfallen sind. Ein Entomologe braucht nur einmal in so eine ausgeschüttete Flasche zu schauen, um auf den ersten Blick zu sehen, daß das Ergebnis aus vielen Hunderten, im Regelfall bei diesem Fallentyp pro Jahr weit über tausend Arten aufgebaut ist.

SB: Ihr Bericht in PLOS ONE hat weltweit in den Medien einen starken Widerhall erfahren. Sehen Sie Ihre Ergebnisse von der Presse angemessen wiedergegeben?

MS: Dazu kann ich einfach nichts sagen, das sind zu viele Berichte. Darüber haben wir keinen echten Überblick.

SB: Die Ergebnisse sind brisant - hatten sie nicht mit so einer Reaktion gerechnet?

MS: An dieser Publikation waren im Grunde zwei Universitäten und, bezogen auf die Auswertungsschritte und das Manuskript, der Entomologische Verein Krefeld beteiligt. Von denen hat keiner mit so einer Resonanz gerechnet.

SB: Sie hatten vor kurzem Besuch von der nordrhein-westfälischen Umweltministerin, die auch heute hätte kommen sollen, aber krankheitsbedingt abgesagt hat. Haben Sie den Eindruck, daß die Landesregierung von NRW auf Ihre Untersuchungsergebnisse reagiert?

MS: Das kommentiere ich nicht.

SB: Was halten Sie für die plausibelste Erklärung für den Insektenschwund?

MS: Wenn ich keine Sachdaten habe für bestimmte, mehrere Faktoren, dann habe ich keine Sachdaten. Auf nicht-vorhandene Sachdaten kann ich noch nicht einmal eine Hypothese aufbauen, schon gar keine Theorie. Wenn ich keine Sachdaten habe, kann ich nicht korrelieren. Wenn ich nicht korrelieren kann, weil ich keine Sachdaten habe, habe ich noch nicht mal eine Hypothese. Und deshalb läuft das unter der Rubrik "unbekannt".

Völlig unabhängig davon gibt es natürlich Regularien für das Schutzgebietsnetz, die wir - völlig unabhängig von unseren Daten -, für nicht wirksam genug halten.

SB: Was heißt das?

MS: Also daß auf einer Ackerfläche innerhalb eines Schutzgebietes dasselbe passiert in der Art der Nutzung, inklusive der Verwendung von Pestiziden, wie außerhalb. Das ist ja substantieller Bestandteil des Schutzgebietes und müßte dann auch als substantieller Bestandteil des Schutzgebietes mit beplant werden. Daten müßten verfügbar sein, und Stoffe oder irgendwas, was da passiert, dürfen nicht die direkt benachbarten Schutzgebietslebensräume beeinträchtigen.

SB: Es handelt sich demnach um gar keine Schutzgebiete.

MS: Im juristischen Sinne ist das Schutzgebietsfläche. Die Frage ist, ob das von der Logik her sinnvoll ist, einen Teil von Schutzgebieten so konventionell zu behandeln, daß man dort eigentlich nicht die Ziele dieses Biotoptyps verfolgt. Unter bestimmten Bedingungen kann eine Ackerzoonose eine extrem wertvolle Lebensgemeinschaft sein. Das muß man auch in der Schutzgebietsplanung und dem -management berücksichtigen. Die Regularien und Pläne müssen geändert werden. In meinem Vortrag habe ich die Empfehlungen erläutert. Es gibt einen direkten Handlungsbedarf in den Kernzonen des Artenschutzes der Schutzgebiete. Der hat für uns die Priorität eins. Das hat jetzt gar nichts mit unseren Ergebnissen zu tun, sondern wir erkennen dort ein Planungsproblem.

SB: Das ist auch der Grund dafür, daß Sie sagen: Ich habe keine Datensätze zur Verfügung und kann über die Ursachen des Insektenschwunds nicht spekulieren?

MS: Ja. Der Entomologische Verein Krefeld ist eine der Wissenschaft gewidmete Institution. Wir haben eine Satzung. In Paragraph 2 dieser Satzung steht "wissenschaftliche Forschung". Das bedeutet, daß man sich auch an den Ehrenkodex wissenschaftlicher Forschung hält. Würde ich als Verein argumentieren, und ich mache jetzt, obwohl ich keine Daten habe, eine Hypothese ohne Sachdatengrundlage, würde ich gegen die Satzung der Institution verstoßen.

Wir sind aber auch ein Verein, der Naturschutzziele vertritt im Sinne von Kartierung von wertvollen Flächen und so weiter. Aber wir sind nicht der NABU. Wir haben eine sehr strenge wissenschaftlich orientierte Ausrichtung in der Satzung, und die Mitglieder und der Vorstand sehen das sehr eng. Wir finden es auch gut, das so eng zu sehen, weil wir denken, daß sehr viel mehr Wissenschaft im Naturschutz stattfinden müßte. Und da bringen uns völlig wilde Spekulationen überhaupt nicht weiter, weil das auch jeglicher Kritik Tür und Tor öffnet.

SB: Darauf hob die Frage nach der Wiedergabe Ihrer Untersuchungen in der Presse ab.

MS: Daß bestimmte Dinge in der Presse stattfinden, ist klar. In der Publikation steht explizit: Der Insektenrückgang ist dringend zu erforschen. Das ist mehr oder weniger der letzte Satz, mit dem der Bericht endet. Man muß sehr viel mehr tun, um die Gesamtdiversität und nicht immer nur die Diversität von ein paar Tagfaltern zu erforschen. Ich halte es für wesentlich, daß sich mehr Entomologen mit den artenreichen Insektengruppen beschäftigen. Das haben wir im Moment nicht und das ist ein ganz großes Defizit. Man braucht Gefährdungsbewertungen für alle heimischen Arten und nicht nur für ein Drittel von ihnen.

Man benötigt auch automatisch arbeitende Fallenmethoden, wo man den menschlichen Einfluß herausnimmt. Ein Teil des "impact factors" der Publikation geht auf den Ausschluß der menschlichen Einflüsse auf das Ergebnis zurück. Die Leute schauen sich die Fallen an und realisieren, daß diese eine ganze Vegetationsperiode in den Schutzgebieten gestanden haben. Dadurch erhält man einen Jahresverlauf der Insektenmengen. Wenn es dagegen nur für eine Woche wäre, könnte man sagen: "Mein Gott, in jener Woche damals hat schlechtes Wetter geherrscht." Wir haben jedoch einen ganzen Jahresverlauf. Wenn man den dann für jede Woche von allen Fallen aufarbeitet, erhält man eine Argumentationsgrundlage, an der niemand vorbeikommt.

SB: Wie schätzen Sie den Klimaeinfluß ein, der heute morgen in einem Vortrag als möglicher Verursacher des Insektenschwunds genannt wurde?

MS: Wir haben die Klimadaten von 27 Jahren - die Tagesklimadaten von über 100 Meßstationen - mit dem gesamten Datensatz der Insektenmengen verglichen und nahezu keinen Einfluß gefunden. Wenn mich vorher jemand gefragt hätte, hätte ich wenigsten einen gewissen Einfluß vermutet. Aber da war nichts.

SB: Vielen Dank, Herr Sorg, für das Gespräch.


Feldversuch am Mechtenberg im Vorfeld der RUHR.2010. Als 'Farbachse' im Rahmen des Projekts 'Zwei Berge - eine Kulturlandschaft' angelegter Blühstreifen mit Kornblumendominanz (Centaurea cyanus) im Getreidefeld - Foto: Conmoto, CC-BY-SA-3.0-DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en]

"Blühstreifen sind sehr einheitliche, relativ monotone Gebilde. Wenn man Biodiversitätsschutz bei Insekten im Auge hat, erfüllen sie nicht die kompletten Lebensraumansprüche der einzelnen Arten, die überwiegend verschiedene Teillebensräume in räumlicher Nähe brauchen. Außerdem paßt es nicht zu den Flächen, in denen wir die eigentlichen Biodiversitätsverluste erleiden. Die stark gefährdeten Arten sind nicht in der Agrarlandschaft in Blühstreifen, sondern die sind in speziell streng geschützten Lebensraumtypen der Naturschutzgebiete. Da muß der Fokus liegen, wenn man dort nicht mit dem falschen Etikett arbeiten möchte. (...) Im übrigen geben Untersuchungen zu Blühstreifen wegen der Farben Lockeffekte wieder, nicht aber die Qualität eines Habitats."
(Dr. Martin Sorg, 17. Februar 2018, Pressekonferenz auf der NABU-Tagung zum Insektenrückgang in Münster)
Foto: Conmoto, CC-BY-SA-3.0-DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en]


Fußnoten:

[1] http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0185809

[2] http://80.153.81.79/~publ/mitt-evk-2013-1.pdf

[3] https://www.efsa.europa.eu/de/press/news/180228

[4] http://journals.plos.org/plosone/article/comment?id=10.1371/annotation/50f95392-7b52-4d84-b08c-f94c65745bdd


Bisher im Schattenblick zur NABU-Tagung über den Insektenrückgang unter UMWELT → REPORT → BERICHT und UMWELT → REPORT → INTERVIEW erschienen:

BERICHT/133: Insektenschwund - Politik zu träge ... (1) (SB)
BERICHT/134: Insektenschwund - Politik zu träge ... (2) (SB)
BERICHT/135: Insektenschwund - Politik zu träge ... (3) (SB)

INTERVIEW/268: Insektenschwund - Aufgabenvielfalt unterschätzt ...     Prof. Dr. Christoph Scherber im Gespräch (SB)
INTERVIEW/269: Insektenschwund - schon länger in der Peilung ...     Marie Thöne im Gespräch (SB)
INTERVIEW/270: Insektenschwund - Interessengegensätze ...     Prof. Dr. Werner Kratz im Gespräch (SB)


2. März 2018


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