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INTERVIEW/256: Folgen regional - Schadensbeschleunigung ...    Meereschemiker Prof. Dr. Detlef Schulz-Bull im Gespräch (SB)


Graphische Darstellung der Ostsee mit allen geographischen Bezeichnungen.- Karte: by Ulamm CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Ein Binnenmeer im Einzugsbereich der Abgase und Schadstoffe, die von 80 Millionen Europäern immer noch in die Umwelt abgesondert werden.
Karte: by Ulamm CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Die Ostsee ist laut Prof. Dr. Detlef Schulz-Bull das zentrale Meer in Europa. Über 80 Millionen Menschen leben in ihrem Einzugsbereich und alles, was sie an Schadstoffen, Nährstoffen und Emissionen ungefiltert in die Umwelt entlassen, landet dann in dem größten europäischen Binnenmeer. Der stellvertretende Leiter des Leibnitz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) stimmte zu Beginn der vom IOW gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung und dem BUND veranstalteten Konferenz "Klimaschutz konkret" am 30. Juni 2017 [1] die Konferenzteilnehmer auf die charakteristischen Umweltforschungsaufgaben ein, die sich in dieser Region stellen.

Die Reaktionen des Ökosystems auf anthropogene Änderungen machen somit schon lange den Forschungsschwerpunkt des IOW aus, den die vier Sektionen mit den Disziplinen Physikalische Ozeanographie, Meereschemie, Biologische Meereskunde und Marine Geologie interdisziplinär erarbeiten, um dann mit Modellierern auch Szenarien für die Zukunft zu entwickeln.


Die Karte zeigt die Ostsee im Fokus und andere Forschungsstandorte des IOW in der Nordsee, im Atlantik, Brasilien, Angola, Namibia, Südafrika, Indonesien, Vietnam und China. - Foto: © 2017 by Schattenblick

Fokus Ostsee
"Wir haben auch Untersuchungsgebiete in Küstenmeeren weltweit, in denen wir die Erkenntnisse aus der Ostsee in anderen Ökosystemen überprüfen können", Prof. Detlef Schulz-Bull
Foto: © 2017 by Schattenblick

Umweltprobleme sind kein Novum für den Standort Warnemünde. Bislang waren vor allem Sauerstoffminimumzonen - tiefe Wasserschichten, in denen durch bakterielle Zersetzungsprozesse so wenig O2 gelöst ist, daß dort kein höheres Leben existieren kann - ein typisches Ostseeproblem. Ihre Lebensfeindlichkeit wird durch ebenfalls bakteriell erzeugten giftigen Schwefelwasserstoff verstärkt, weshalb diese Zonen auch "Todeszonen" genannt werden. In den letzten Jahren, so schreibt das IOW in seinem Jahresbericht 2016, habe die Ostsee "stark durchgeatmet". Die tiefen Ostseebecken wurden mit schwerem, sauerstoffreichen Oberflächenwasser der Nordsee von Weihnachten 2014 bis zum Herbst 2016 gut belüftet. Erstaunlich zu den Jahrzehnten zuvor war jedoch, daß dieser eingetragene Sauerstoff schnell wieder verschwand. Ob physikalische Mischungsprozesse oder eine größere Sauerstoffzehrung durch den Abbau organischen Materials, geänderte Meßverfahren oder eine Kombination von allem die Ursache ist, wird dieser Tage von den Forschern am IOW diskutiert. Neben fehlendem Sauerstoff, Schadstoffeinträgen von Glyphosat u.a. sowie dem Entgasen von Methan, das am Meeresboden durch ozeaninterne Trägheitswellen freigesetzt (aber auch mikrobiell wieder abgebaut) wird, beschäftigen die Forscher des IOW zunehmend auch die Folgen des Klimawandels, der - entgegen mancher Twittermeldungen - mit einer immer noch nachweislich ansteigenden Konzentration an CO2 einhergeht und das Ozeanwasser versauert. Der Leiter der Sektion Meereschemie, Prof. Dr. Detlef Schulz-Bull, erläuterte im Rahmen der Konferenz den momentanen Stand der wissenschaftlichen Diskussion im Interview und zog dabei auch neue, bislang noch nicht erforschte Verschärfungen und Neuauflagen älterer Fragestellungen durch den Klimawandel in Betracht.


Der Leiter der Sektion Meereschemie in seinem Büro - Foto: © 2017 by Schattenblick

Für Prof. Dr. Detlef Schulz-Bull ist die Ostsee trotz aller Probleme immer noch ein attraktives Erholungsgebiet:
"In Warnemünde ist es immer fünf Grad wärmer, als der Wetterbericht sagt."
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Wenn man an Belastungen der Ostsee denkt, dann denkt man an Gülleeinleitungen aus der Landwirtschaft, Schadstoffe aus städtischen Abwässern, Sonnenmilch der Touristen, Munitionsreste, Müll, Mikroplastik, Hormone und chemische Wirkstoffe aus Medikamenten und vieles mehr, was nicht in die Ostsee gehört. Weniger denkt man an Veränderungen aufgrund des Klimawandels. Womit rechnet denn die Wissenschaft für die Ostsee, wenn das Klima wärmer wird?

Prof. Dr. Detlef Schulz-Bull (DSB): Die Nährstoffbelastung der Ostsee durch Schadstoffeinträge, die von Schiffen, Touristen oder Kläranlagen stammen, sind tatsächlich immer noch die größten Probleme. Das liegt daran, daß die Ostsee, anders als die Nordsee, eine sehr lange bis zu 20jährige Wasseraufenthaltszeit hat und die Schadstoffe sehr lange in der Ostsee verbleiben und daher große Effekte haben.

Was den Klimawandel anbetrifft, ist er in der Ostsee schon deutlich zu erkennen. Wir können bereits jetzt eine Temperaturerhöhung der Ostsee beobachten, die in der Modellierung für die Zukunft deutlich über dem mittleren globalen Temperaturanstieg liegt. Das wird verschiedene Kreisläufe der Ostsee verändern. So werden wir wärmere Sommer bekommen, dafür mehr Regen in den Wintermonaten. Davon wird auch die Biogeochemie und die Umwelt der Ostsee betroffen sein. Beispielsweise ist zu vermuten, das wir durch einen erhöhten Eintrag von Land über den Wasserkreislauf auch eine weitere Erhöhung der Nährstoffeinträge bekommen.

SB: Gibt es Einschätzungen darüber, was eine Temperaturerhöhung der Ostsee für die weitere chemische Entwicklung dieser Fremdstoffeinträge oder auch der Schadstoffe bedeutet, über die Sie forschen?

DSB: Das ist sehr schwer vorherzusagen. Es gibt auch noch keine Modellierung dieser einzelnen Kreisläufe. Denn das alles hängt stark mit dem Wasseraustausch zwischen Ostsee und Nordsee zusammen. Das ist aber weniger ein Klima- als ein Wetterphänomen. Wie man sich vielleicht denken kann, können bestimmte Wetterbedingungen, etwa östliche Winde, die Ostsee leeren und dann mit westlichen Winden wieder auffüllen. Das bringt sauerstoffreiches Wasser aus der Nordsee und dem Nordatlantik in die Ostsee hinein und bei dieser Gelegenheit werden gleichzeitig Schadstoffe aus der Ostsee entfernt. Aber diese Entwicklung im Hinblick auf die zunehmenden Klimaveränderungen vorherzusagen, ist bislang nicht möglich.

SB: Diese wetterbedingten Salzwassereinbrüche aus der Nordsee haben in den letzten Jahren offenbar stark zugenommen. Läßt sich das denn erklären, ohne Bezug auf die globale Erwärmung zu nehmen?

DSB: Der Wechsel von Ost- zu Westwinden ist ein Wetterphänomen, das auf eine bestimmte Wetterlage zurückgeht, die sich zudem häufiger in den Wintermonaten als in den Sommermonaten einstellt. Es ist nicht vorhersehbar, wann es passiert. Und es ist auch nicht vorhersagbar, ob es unter veränderten Klimabedingungen häufiger vorkommen wird. Es gibt nur die Statistik über die Vergangenheit. Und wir versuchen gerade auch im Institut mit unseren Modellierern den Ursachen für dieses Phänomen etwas näher auf die Spur zu kommen. Doch wie Sie wissen, sind Wettervorhersagen nicht sehr genau und keiner kann etwas über das Wetter in den nächsten hundert Jahren sagen.

Wenn wir uns in der marinen Geologie Proxydaten aus der Vergangenheit ansehen, also Sedimente analysieren, dann finden wir rückblickend auch eine mittelalterliche Warmzeit, die gut dokumentiert ist. Und in dieser Zeit hat es den Analysen der Paläoumweltforscher zufolge auch vermehrt vergleichbare Anoxien, also sauerstoffarme Zonen in der Ostsee gegeben. Das heißt, die Frischwasserzufuhr muß also irgendwie mit der Temperatur zusammenhängen, obwohl es sich um ein Wasseraustauschphänomen handelt und nicht um ein Temperaturphänomen. Daneben kann Anoxie aber auch andere Gründe haben, die zu berücksichtigen sind. Ein Grund könnte die erhöhte mikrobiologische Produktivitätsrate mit mehr Sauerstoffverbrauch sein, die durch größere Nährstoffeinträge gefördert wurde. Wenn man eine Phase mit vermehrt auftretenden anoxischen Zonen in der Vergangenheit findet, ist das immer ein Resultat aus diesen verschiedenen Faktoren.

SB: Verstehe ich Sie richtig, daß man den Austausch mit der Nordsee nicht grundsätzlich als eine Art Vitalisierungsspritze für die Ostsee betrachten muß?

DSB: Die Nordsee ist immer sauerstoffreich. Gerade im Winter führt sie kaltes, sauerstoffreiches Wasser. Natürlich wird das Ostseewasser nicht komplett ausgetauscht. Es handelt sich um einige hundert Kubikkilometer - eine unvorstellbar große Menge, die aber im Verhältnis zum Gesamtvolumen der Ostsee letztlich nicht so gravierend ist. Der Meeresspiegel der zentralen Ostsee wird dabei zunächst um einen halben Meter abgesenkt, um dann wieder aufgefüllt zu werden. Die Ostsee erhält also einen halben Meter sauerstoffreiches Frischwasser. Das ist gut für die tiefe Ostsee. Aber das sauerstoffarme Wasser aus der Tiefe wird dadurch ebenfalls nach oben gedrückt. Es gibt also auch Regionen, auf die sich der Einstrom negativ auswirkt.

SB: Was ist denn Ihre persönliche Prognose? Wird es durch die veränderten Klima- und Wetterbedingungen in Zukunft zu einem stärkeren Austausch zwischen Nord- und Ostsee kommen, beispielsweise wenn der Meeresspiegel im Zuge der globalen Erwärmung steigt?

DSB: Genau wissen wir das nicht und die Modellierer können es auch nicht vorhersagen. Aber das hat damit zu tun, daß durch die zunehmende Erwärmung insgesamt mit einem veränderten Wasserkreislauf gerechnet werden muß. Auch das, was an Land passiert, die Niederschläge an Land, die Einträge in die Ostsee, die eine sehr große Rolle spielen, sind alles Faktoren, die sich ändern werden. Dazu werden wir den Vorhersagen gemäß saisonal mit großer Wahrscheinlichkeit wärmere trockenere Sommer bekommen und dafür wärmere, nasse Winter. Das wird einige Systeme aus ihrer gewohnten Bahn schieben.

SB: Sie erwarten also eher größere, strömungsbedingte Umwälzungen oder Verlagerungen von Schadstoffen. Eine chemische Reaktions- oder Verhaltensänderung erwarten Sie nicht? Man sagt doch allgemein, daß alle chemische Reaktionen durch Wärme beschleunigt werden. Könnte die Temperaturerhöhung in der Ostsee, von der Sie sprachen, den langsamen "natürlichen" Abbau von gefürchteten z.B. langlebigen Schadstoffen beschleunigen?

DSB: Das stimmt natürlich. Die mikrobiologischen Reaktionen zum Abbau von organischen Stoffen laufen bei höheren Temperaturen schneller ab. Es ist aber in der Ostsee so, daß diese Stoffe überwiegend im Sediment vorkommen, also in den tieferen Wasserschichten abgebaut und entfernt werden, wenn sie überhaupt abbaubar sind. Die meisten dieser Stoffe werden in Sedimenten eingelagert und dort auch noch über Jahrhunderte liegen bleiben. Diese belasten die Ostsee durch Resuspension immer wieder neu. Natürlich sind auch solche Prozesse temperaturabhängig, aber große Unterschiede im chemischen Verhalten merkt man erst, wenn man die Temperatur um 10 oder 20 Grad erhöht. Also kleinere Schwankungen von ein bis zwei Grad spielen noch keine so große Rolle.

SB: Heißt das, von diesen im Sediment eingelagerten Schadstoffen und Altlasten oder den daraus eventuell freigesetzten Abbauprodukten sind keine weiteren Probleme durch den Klimawandel zu erwarten?

DSB: Doch, natürlich stellen sich durch den Temperaturanstieg Probleme auf Kosten der Organismengemeinschaft ein. Es gibt verschiedene Arten, die bei den inzwischen wärmeren Temperaturen die Ostsee besiedeln können, die ihnen bislang zu kalt war. Darüber hinaus muß man mit einen Einfluß auf die Austauschprozesse zwischen Land und Meer rechnen. Wir werden weniger Eisbedeckung im Winter haben. Jetzt schon kann man feststellen, daß die winterliche Eisbedeckung der Ostsee ein wesentlich geringeres Ausmaß annimmt und sehr viel seltener vorkommt. Auch das wird letztendlich das Ökosystem der Ostsee an vielen verschiedenen Stellen beeinflussen.

SB: Eine der chemischen Veränderungen, die der Klimawandel mit sich bringt, ist ein saureres Meer. Wirkt sich der niedrigere pH-Wert auch auf die Lösungseigenschaften der organischen Stoffe oder der - wie Sie gerade sagten - ins Sediment verbrachten Schadstoffe aus?

DSB: Der pH-Wert spielt bei sehr vielen chemischen Reaktionen der Stoffkreisläufe des Meeres tatsächlich eine große Rolle, hauptsächlich bei den Spurenmetallen. Bildung und Abbau sind häufig vom pH-Wert abbhängig. Und darauf könnte ein saurerer pH durchaus Einfluß nehmen. Nun muß man aber dazu sagen, daß der Ozean und die Ostsee nie wirklich versauern werden. Der pH-Wert wird immer über 7, also immer im alkalischen Bereich bleiben. Dennoch wird auch ein etwas niedrigerer pH-Wert einen Einfluß auf die Reaktionsgeschwindigkeiten und die Kinetik dieser Stoffumsätze haben.

SB: Was heißt es für die marine Umwelt und das marine Leben eigentlich, wenn solche extrem langsam abbaubaren Stoffe darin enthalten sind und durch den saureren pH vielleicht noch schlechter abgebaut werden?

DSB: Man unterscheidet diese Schadstoffe eigentlich in zwei Gruppen. Die POPs, persistent organic pollutants, das sind die, die persistent und wenig oder gar nicht abbaubar sind. Die sind meistens fettlöslich und reichern sich daher in Nahrungsketten an. Sie gelangen also über das Plankton, Fische und Wale zu den Fischfressern und in uns Menschen hinein. Das heißt, durch den Eintrag solcher Stoffe ins Meer belasten wir uns letztlich selbst, wenn wir Fisch und Meeresfrüchte essen. Der Verzehr von Dorschleber ist immer noch untersagt, weil die Belastung an PCBs darin zu hoch ist. Das heißt, diese Stoffe, die sich in der Nahrung anreichern, haben auch auf uns Menschen einen langfristigen Effekt. Durch die Stockholm-Konvention sind zwar inzwischen die Einleitungen und Emissionen von den POPs zum größten Teil gestoppt worden, doch die Altlasten verbleiben noch lange im Sediment.

Dann gibt es eine zweite große Gruppe von Schadstoffen, das sind die mehr polaren, die besser wasserlöslich und daher auch teilweise besser abbaubar sind. Diese Stoffe reichern sich nicht so stark in der Nahrungskette an, weil sie nicht so lipophil, also fettliebend, sind. Dafür lösen sie sich aber in höheren Konzentrationen in der Wasserphase und haben Schädigungen zur Folge, die das Erbgut von Organismen betreffen, aber auch endokrine oder hormonelle Wirkung oder Allergie auslösende Eigenschaften. Das heißt, polare Schadstoffe haben einen ganz anderen Wirkungsmechanismus, sind aber ebenfalls für Meeresorganismen und auch für uns Menschen sehr schädlich.

SB: Gibt es analog zur Ozonschicht in der Stratosphäre, die durch FCKWs abgebaut werden kann, auch in den Ozeanen funktionelle Bereiche oder besonders sensible Zonen der Meereschemie, die durch chemische Fremdeinträge besonders gefährdet sind oder in ihrer Funktion gestört werden?

DSB: Dazu muß man genau unterscheiden, welchen Stoff man gerade betrachtet. Also die persistenten Stoffe werden letztendlich in den Sedimenten eingelagert. Die kommen über das Land, Erosionen oder über die Atmosphäre ins Meer, werden an Partikel gebunden und über mehrere Prozesse dann im Sediment eingespeist. Ein vieldiskutiertes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist das, was mit dem Plastik passiert. Das kontaminiert genaugenommen die Sedimente, da es nicht ewig in der Wassersäule bleibt, sondern absinkt. Schließlich gibt es auch noch das Phänomen, daß diese Stoffe zu den kälteren Regionen der Erde bewegt werden. Sie gelangen also in Gegenden, die sehr weit von den eigentlichen Emissionsquellen entfernt sind, wie die Arktis und Antarktis, die dann im Endeffekt belastet werden, obwohl der Schadstoff dort gar nicht genutzt wurde. Diesen Ferntransport von Schadstoffen nennt man auch weitreichenden Transport oder "long ranged transport".

SB: Ist das noch ein anderer Weg als die Nahrungskette?

DSB: Ja, über die Meeresströmungen und über die Atmosphäre. Die Stoffe werden teilweise immer wieder aus dem Meer losgelöst. Sie gelangen durch die Verdunstung von warmem Wasser in die Atmosphäre und werden von Luftströmungen oder Winden weitergetragen. In kälteren Zonen regnen sie wieder ab. Also, die langlebigen, schwer abzubauenden Stoffe nehmen diese beiden Transportwege zu den Sedimenten und zu den kälteren und weiter entfernten Regionen. Bei allen anderen abbaubaren Schadstoffen hat man dagegen das zusätzliche Problem, daß die Abbauprodukte oder deren mögliche Wirkungen auf Organismen oftmals gar nicht bekannt sind.

SB: Könnte dieser Ferntransport von Schadstoffen durch Verdunstung und Einträge in die Luftschichten ebenfalls mit der Klimaerwärmung zunehmen?

DSB: Ja natürlich, das ist ein temperaturabhängiger Prozeß. Je wärmer das Wasser wird, um so mehr Stoffe wandern auch aus dem Meer in die Atmosphäre.

SB: Könnten damit relevante Mengen verfrachtet werden?

DSB: Also zunächst mal werden die Stoffe - angefangen vom Eintrag in den Flüssen, über die größeren Wasserwege, Ostsee, Nordsee bis in den Atlantik - immer stärker verdünnt, bis ihre Konzentrationen fast unterhalb der Nachweisgrenze liegen. Durch die Verdampfung in die Atmosphäre konzentrieren sie sich dann aber wieder in den kälteren Regionen. Also in der Arktis und in der Antarktis, gerade wenn es dort vielleicht regnet, werden diese Stoffe wieder eingetragen. Doch dieser Prozess ist noch im Gange. Es wird noch Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauern, doch dann wird es garantiert irgendwo wieder Gegenden geben, in denen die Konzentrationen an diesen Stoffen so hoch sind, das sie negative Folgen haben.

SB: Auf der Webseite des IOW wird auch erwähnt, daß Ihr Institut untersucht, inwiefern die organischen Fremdeinträge Komplexe mit Spurenmineralien eingehen. Muß man das so verstehen, daß dadurch für die Wasserwelt möglicherweise wichtige Nährstoffe in eine Art Falle geraten und verloren gehen?

DSB: Das ist so, daß diese Komplexe manche Spurenelemente, meistens handelt es sich um Metalle, oft weniger "bioverfügbar" machen. Das bedeutet, die Stoffe können dann nicht mehr so schnell wie gewohnt von Organismen aufgenommen werden.

SB: Heißt das konkret, daß Fische oder andere Meerestiere nicht mehr ausreichend mit Nahrung versorgt werden und hungern müssen?

DSB: Naja, teilweise handelt es sich um essentielle Spurenelemente, beispielsweise um Eisen. Das wird von Plankton zum Aufbau von Chlorophyll benötigt, um Photosynthese machen zu können. Wenn dieses Eisen organisch durch Komplexe gebunden ist, steht es nicht zur Verfügung. Verschiedene Schadstoffe wie Kupfer, Blei oder auch Quecksilber, können dann aber auch Reaktionen mit organischen Stoffen eingehen, die dann teilweise zu einer Verstärkung der toxischen Effekte führen, weil sie durch die organische Hülle darum besser zum Beispiel von Fischen aufgenommen werden können. Andere werden aber wieder im System so fest gebunden, daß damit das genaue Gegenteil bewirkt wird. Das ist von Stoff zu Stoff sehr verschieden, aber auch sehr schwer nachzuweisen.

SB: Nährstoffe wären davon also nicht speziell betroffen, sondern im Einzelfall nur indirekt, indem weniger Plankton gebildet werden kann.

DSB: Genau.

SB: Wie der Publikationsliste Ihrer Arbeitsgruppe zu entnehmen ist, hat sie sich auch mit dem Nachweis des Pflanzenschutz- und Sikkationsmittels Glyphosat in der Ostsee und ihren Zuflüssen befaßt. Wie ist das zu verstehen, suchen Sie nach Glyphosat in der Ostsee, obwohl zumindest der Hersteller damit wirbt, daß sich Herbizide mit diesem Inhaltsstoff nach kurzer Zeit in der Natur abbauen und überhaupt nicht mehr schädlich sein sollen?

DSB: Glyphosat ist tatsächlich ein gutes Beispiel für diese abbaubaren Schadstoffe, die umgesetzt oder metabolisiert werden. Das heißt, man weiß oftmals gar nicht oder nur sehr wenig darüber, wie oder wohin sie sich entwickeln, weil sie sich chemisch verändern. Man sollte daher eigentlich nicht nur den Stoff selbst, sondern auch seine potentiellen Abbauprodukte im Auge behalten. Bei Glyphosat handelt es sich um AMPA, also um die Aminomethyl-Phosphonsäure [2], in die es zum größten Teil umgewandelt wird.

So ist Glyphosat zwar nach einer bestimmten Zeit nicht mehr nachweisbar, dafür steigen aber die Konzentrationen an AMPA, denn das ist der eigentlich persistente Stoff. Ein Abbau führt oft nicht zu harmlosen Endprodukten wie Wasser und CO2, sondern verbleibt in einer Zwischenstufe, die stabiler, aber möglicherweise auch toxischer ist. Über diese Zwischenstufen und deren Wirkungen weiß man wenig. Das ist eines der Themen, die in den nächsten Jahren stärker verfolgt werden sollen.

SB: Suchen Sie beziehungsweise Ihre Arbeitsgruppe im wesentlichen nach dem Hauptabbauprodukt AMPA oder messen Sie auch noch Konzentrationen von Glyphosat in der Ostsee, das ja dann bereits eine lange Strecke über den Eintrag in Flüsse usw. hinter sich hat und eigentlich längst umwandelt sein müßte?

DSB: Also es gibt eigentlich zwei thematische Komplexe in der Glyphosatforschung. Zum einen wird es sehr stark an sogenannte Bodenphasen gebunden. Das sind Minerale oder Metalle, die bereits im Boden vorhanden waren. Das ist die Reaktion des Glyphosats mit dem Boden und der eigentliche Grund, warum der Hersteller damit werben kann, daß Glyphosat nicht mobil ist und nicht in die Wasserphase gelangen kann.

Das ist aber nicht ganz richtig, weil das Glyphosat in einer Zusammensetzung wie etwa das "Roundup" angewendet wird, das außer dem eigentlichen Wirkstoff auch noch bestimmte Tenside enthält. Das sind sogenannte Benetzungsmittel, die auch mit dem Glyphosat reagieren und es dadurch fettlöslicher machen. Der erwünschte Effekt besteht darin, daß es zum Beispiel durch die Wachsschicht der Pflanzenblätter schneller eindringen kann. Es verändert aber auch das Umweltverhalten des Glyphosatmoleküls ganz generell. Das heißt, nicht nur in der Anwendung, sondern auch das Verhalten im Wasser und in der Umwelt überhaupt verändert sich. Aus diesem Grund finden wir in der Umwelt und im Wasser - so nehmen wir zumindest an - auch höhere Mengen an Glyphosat. Und so konnten wir es auch in der Ostsee bis in die Küstenmeere hinein nachweisen, was dann auch in einer Publikation veröffentlicht wurde.

Danach, gewissermaßen in der nächsten Phase, wird das Glyphosat erst in AMPA umgewandelt. Ob das Benetzungsmittel Tallowamin schädlicher ist oder die schädliche Wirkung allein ausmacht, ob die schädliche Wirkung allein auf das Glyphosat oder auch nur auf AMPA zurückgeht, ist ebenfalls bisher nicht erforscht. Es handelt sich hier um sogenannte synergistische Effekte [3]. Man weiß einfach nicht, welcher dieser Stoffe ist jetzt für die endokrinen Störungen oder die hormonelle Wirkung verantwortlich oder welcher davon macht das Mittel krebserregend. Dazu müßte man sich auch das Abbauprodukt genauer unter die Lupe nehmen. Das ist aber in der Zulassung selbst nicht vorgesehen. Meiner Ansicht nach ist das der eigentliche Grund für den Konflikt. Einerseits verwendet man nicht den Reinstoff, sondern Glyphosat in einer Mischung mit bestimmten Vernetzungsmitteln und andererseits wird das Abbauprodukt nicht ausreichend beachtet.

SB: Halten Sie denn die toxische Wirkung von Glyphosat für erwiesen? Es gibt ja zahlreiche Stimmen, die das immer noch bestreiten?

DSB: Ich gehe davon aus, daß es in der Mischung, in der Glyphosat auf den Markt kommt, toxisch für die Meeresumwelt ist.

SB: Kann man aus den gemessenen Konzentrationen Rückschlüsse darauf ziehen, in welchen Mengen Glyphosat schon in der Ostsee vorhanden ist?

DSB: Bisher haben wir dazu erst wenige Untersuchungen durchgeführt. Die bisherigen Messungen bewegen sich in einem Bereich von Nanogramm pro Liter (ng/l). Teilweise findet man über 100 ng/l, was einer Konzentration entspricht, in der auch andere Schadstoffe in der Ostsee vorkommen. Sie ist also vergleichbar mit der von anderen Pestiziden, Herbiziden und ähnlichen Schadstoffen, die in die Ostsee eingetragen werden. Es liegt jedoch noch einiges an Untersuchungsarbeit vor uns. So sind noch verschiedene Flußsysteme und Ästuarien [Flußmündungen, Anm. d. SB-Red.] zu beproben. Denn der Einsatz von Glyphosat beschränkt sich nicht nur auf das Einzugsgebiet der Ostsee.

SB: Wenn so viele verschiedene fremde Wirkstoffe in ähnlich großen Mengen vorkommen wie die Schadstoffe, von denen Sie gerade sprachen, sind dann nicht auch noch weitere unbekannte oder überraschende Wechselwirkungen oder auch synergistische [3] Effekte mit Glyphosat zu erwarten?

DSB: Ja natürlich, synergistische Effekte sind ein großes schwarzes Loch. Wir haben tausende von Verbindungen in der Umwelt und wir wissen nahezu gar nichts über die synergistischen Effekte. Und es nützt auch nichts, einzelne Stoffe herauszunehmen und zu untersuchen. Denn wir wissen aus Laboruntersuchungen, daß durchaus kleinste Mengen von beispielsweise zwei Stoffen, die einzeln vollkommen harmlos sind, gemeinsam große unvorhersagbar toxische Effekte haben können. Das einzige, was hilft, ist, sämtliche Einträge von verdächtigen Stoffen in die marine Umwelt oder in den Wasserkreislauf möglichst niedrig zu halten und am besten ganz zu vermeiden.

SB: Werden solche synergistischen Problemstellungen in der Umweltchemie überhaupt untersucht? Oder gibt sich die Wissenschaft angesichts der großen Menge verschiedener Stoffe gleich geschlagen?

DSB: Das sind Fragestellungen, für die eigentlich die Toxikologie, also eine ganz andere Fachrichtung, zuständig ist. Ansonsten gibt es nur die Möglichkeit, sogenannte Biotests oder Bioessays zu machen. Dafür nutzt man eine biologische Komponente, an der man sehen kann, ob sie in einer Wasserprobe unter den gegebenen Umweltbedingungen geschädigt wird oder nicht. Die an einer Wasserprobe beobachtete Wirkung aber auf einen bestimmten Stoff zurückzuführen, ist im Grunde nicht möglich.


Ein weibliches Tier mit unbefruchteten Eiern - Foto: 2009 by Dieter Ebert, Basel, Switzerland als CC BY-SA 4.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Ein bei Wissenschaftlern beliebter "Bioindikator" für die Wasserqualität ist der für toxische Umweltbedingungen empfindliche Wasserfloh.
Foto: 2009 by Dieter Ebert, Basel, Switzerland als CC BY-SA 4.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons



Vertrocknete Wasserflöhe im Sediment - Foto: 2006 by Dieter Ebert, Basel, Switzerland als CC BY-SA 4.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Das Absterben der biologischen Komponente kann viele Gründe haben und ist schwer auf nur einen Stoff zurückzuführen.
Eine Wasserflohfamilie hat hier das Austrocknen ihres Tümpels nicht überlebt.
Foto: 2006 by Dieter Ebert, Basel, Switzerland als CC BY-SA 4.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

SB: Sie kennen die Schadstoffe der Ostsee sehr genau und wissen über das toxische Potential Bescheid - gehen Sie dort eigentlich noch schwimmen?

DSB: Ja, ich habe immer bei meinen Vorträgen eine Folie zum Schluß. Darauf zeige ich die Konzentrationen all dieser Stoffe, der Metalle und der organischen Schadstoffe, jeweils im Trinkwasser und in der Ostsee. Und im Ostseewasser ist die Konzentration dieser Stoffe viel niedriger als in unserem Trinkwasser. Also wer Wasser aus dem Hahn trinkt, der kann auch noch in der Ostsee schwimmen gehen ...

SB: Uups, ob man auch den gleichen Schluß umgekehrt ziehen würde? - Herr Professor Schulz-Bull, haben Sie vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Ein Abendbild der Ostsee, wie man sie kennt. - Foto: © 2014 by Schattenblick

Was geschieht mit der Ostseeregion im Klimawandel?
Foto: © 2014 by Schattenblick


Anmerkungen:


[1] Ein Bericht zur Veranstaltung finden Sie unter dem kategorischen Titel "Folgen regional" im Infopool des Schattenblick unter:
Umwelt → Bericht
BERICHT/126: Folgen regional - Trockenheit und Schwemme ... (SB)

[2] mehr dazu siehe:
https://www.nabu.de/imperia/md/content/nabude/gentechnik/hintergrund/faqglyphosat.pdf
und
https://www.umweltbundesamt.de/themen/chemikalien/pflanzenschutzmittel/glyphosat

[3] Synergistischer Effekt ist die Wechselwirkung zwischen mehreren Stoffen, die einzeln nicht oder nur wenig toxisch sind, sich aber gegenseitig in ihrer Wirkung unterstützen und verstärken.


4. Juli 2017


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