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INTERVIEW/231: Vielfaltig nachhaltig - kleidsam umweltgerecht ...    Prof. Walter Leal Filho im Gespräch (SB)


Innovation in der Nachhaltigkeitsforschung - ein Beitrag zur Umsetzung der UNO Nachhaltigkeitsziele

Life Science Forschungskolloquium 2016 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) am 13. Juni 2016

Prof. Walter Leal Filho darüber, wie nachhaltiges Handeln ein Gewinn für alle Seiten werden könnte, auch für die Wirtschaft ...


Etwas mehr als zwei Jahrzehnte nach dem UN-Umweltgipfel in Rio 1992, der als umweltpolitischer Meilenstein für das Ziel galt, sich verantwortungsvoll um den Erhalt unseres Planeten für jetzige und zukünftige Generationen zu kümmern, sind die Aussichten schlecht bestellt, noch rechtzeitig die notwendigen, radikalen Schritte für eine globale Transformation zu vollziehen. Viele weitere Meilensteine wurden durch Konferenzen gesetzt, die brennenden Probleme - angefangen bei der Erderwärmung um zu erwartende 3 bis 4 Grad, dem Klimawandel, der Ressourcenknappheit, einer besorgniserregenden Welternährungslage, bis zu Armut, Artensterben und die zunehmende Schadstoffbelastung in der Atmosphäre - wurden in Nachhaltigkeitszielen festgehalten, aber wenig daran geändert. Dabei könnten gerade diese, so die Ansicht von 22 kritischen Wissenschaftlern in einer in Nature 2012 veröffentlichten Studie [1], noch in diesem Jahrhundert zu einem unwiderruflichen Kollaps, einem plötzlichen Kippen des globalen Ökosystemsnetzes führen, sobald nur 50 bis 90 Prozent der kleineren Ökosysteme in ihrer ursprünglichen Form zerstört sind.

Die Forscher warnten damals vor Konzepten, die keine wirklich konkreten Änderungen an jenen menschlichen Denkweisen und Vorstellungen mit sich brachten, die unseren Planeten systematisch in die ökologische Katastrophe steuern, die man auch unter einem durch das Streben nach Gewinn getriebenen "Business as usual" zusammen fassen könnte. Die Frage, wo business as usual anfängt und wie weit die Menschheit sich selbst und ihr Tun in Frage stellen sollte, blieb bis heute unbeantwortet. Die damals geäußerte Warnung gilt aber immer noch, denn an vielen Orten der Erde stehen in naher Zukunft bereits unweigerlich existentielle Katastrophen bevor. Problemlösungsansätze, die sich globale Fragen auf die Fahnen schreiben, sind seither geradezu in Mode, denn sie versprechen Wohltätigkeit bei gleichzeitigem wirtschaftlichen Erfolg, eine Win-Win-Situation für das eigene Image und die berufliche Karriere. Ein konkretes Umdenken oder Hinterfragen dieser immer gleichen Konzepte hat bisher nicht stattgefunden.

Dem Pragmatismus und Wirtschaftsdenken verpflichtet ist auch Prof. Dr. (mult.) Dr. h.c. (mult.) Walter Leal, der Leiter des Forschungs- und Tranferzentrums Application of Life Sciences der Hochschule für Angewandte Wissenschaft, unter dessen Schirmherrschaft das diesjährige Forschungskolloquium "Innovation in der Nachhaltigkeitsforschung - ein Beitrag zur Umsetzung der UNO Nachhaltigkeitsziele" stand. Er fördert die Entwicklung von Konzepten, Ideen und Projekten, vor allem aber ganz "kleine, pragmatische Lösungen für kleine Unternehmen", die sich nebenbei auch um die Bewältigung von UN-Nachhaltigkeitszielen drehen, ganz im Zeichen von "Green Growth" mit dem größtmöglichsten Gewinn für alle. Seine Arbeit liegt momentan vor allem in der Koordination und Vernetzung innovativer Ideen.

Mit 'Nachhaltigkeit' bot die Veranstaltung auch hierfür den besten Vorwand, junge innovative Forschungskonzepte zusammenzubringen und möglicherweise ein ganz neues Forschungsprojekt zu starten. Damit ist Win-Win für das HAW wie für die Beteiligten garantiert, deren Projekte durch die Expertise des Koordinators fachlich wie abrechnungstechnisch umgesetzt werden könnten mit den höchsten Ansprüchen auf Qualität und einem "problem-solving-approach", wie Prof. Leal in seinem Einführungsvortrag in Aussicht stellte. Im Laufe der Veranstaltung ergab sich aber auch Zeit für kritische Fragen und diplomatische Antworten ...


Prof. Dr. Walter Leal Filho erläutert im Vortrag das nachhaltige Arbeiten seines Instituts - Foto: © 2016 by Schattenblick

Nachhaltiger Forschungstransfer wirft neue Fragen auf: "Das FZT-ALS stellt sicher, daß alle Projekte fachlich wie abrechnungstechnisch umgesetzt werden können, mit den höchsten Ansprüchen auf Qualität und einem 'problem-solving-approach' [Lösungsansatz]."
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Professor Leal, der Begriff Nachhaltigkeit geht zwar ursprünglich auf die Forstwirtschaft zurück, wird aber heute geradezu inflationär gebraucht. Geht damit eventuell auch die definitorische Schärfe des Begriffs verloren?

Prof. Walter Leal Filho (WL): Leider ja. Durch die vielfältige Nutzung des Begriffs, vor allem in der Politik, hat man die eigentliche Bedeutung aus den Augen verloren. Nachhaltig bedeutet eigentlich zweierlei, daß man die Ressourcen, die wir heute haben, so vernünftig benutzt, daß sie langfristig verfügbar sind. Man benutzt aber "nachhaltig" nur bezüglich der Langfristigkeit und vergißt, daß es auch vor allem um den sinnvollen Einsatz von Ressourcen geht.

SB: Das ehrgeizige Motto des heutigen Symposiums einmal wörtlich genommen: Halten Sie die von der UN beschlossene "2030 Agenda for Sustainable Development", mit ihren 17 Zielen und 169 Unterpunkten nach den Erfahrungen mit den Milleniumszielen für ein in nurmehr 14 Jahren realisierbares Programm?

WL: Das ist, ganz klar, eine schwierige Aufgabe. Allein die Tatsache, daß man sich über Ziele geeinigt hat, ist aber schon ein Meilenstein. Nun geht es darum, genug Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit sie auch erreicht werden können. Denn den Fehler, nicht die erforderlichen Finanzressourcen zur Verfügung zu stellen, mit dem das Erreichen der früheren Ziele, den sogenannten Millenium Development Goals, zum Scheitern verurteilt war, dürfen wir nicht wiederholen.

SB: Gibt es unter den 17 Zielen Stiefkinder, die so weit am Ende der Agenda stehen, daß sie vermutlich nie erreicht werden können?

WL: Es gibt viele Ziele, die schwer zur erreichen sind. Ziel Nummer zwei, glaube ich, das Bekämpfen des Hungers, ist eine sehr schwere Aufgabe, weil dies auch von anderen Faktoren wie den Klimawandel und dem Governance bestimmt wird, das heißt wie die Regierungen die ihnen anvertrauten Menschen behandeln. Und Hungernöte entstehen eben, abgesehen von den klimatischen Bedingungen, auch deswegen, weil die Ressourcen, die zu den betroffenen Menschen oder Akteuren fließen sollen, oftmals nur wenige Leute erreichen. Das heißt, diese Probleme und vor allem das Verteilen von Ressourcen müssen zuerst gelöst werden, sonst bleiben Hungersnöte leider ein Problem.

SB: Das Bekämpfen des Klimawandels und seiner Folgen steht erst an 13. Stelle, ist aber, wie Sie andeuten, essentiell Ausgangsbedingung für das Erreichen von Ziel zwei. Gibt es angesichts der in den Nachhaltigkeitszielen beschriebenen brennenden Probleme der Welt Ihrer Ansicht nach noch weitere Schlüsselprobleme, deren jeweilige Lösung unabdingbar vor allem anderen ist, das heißt, ohne deren Bewältigung auch andere Probleme gar nicht zu lösen sein werden?

WL: Mit Sicherheit. Ich denke aber nicht, daß die Reihefolge, in der diese Ziele gelistet wurden, bereits eine Art von Präferenz darstellt. Alle UN-Nachhaltigkeitsziele haben die gleiche Priorität. Aber bleiben wir noch einmal bei der Verbindung zwischen Ziel 13 und zwei. Wie bereits erwähnt, gehen Hungerprobleme oft auf eine aus klimatischen Gründen weniger ertragreiche Landwirtschaft zurück. In manchen Regionen herrscht lange Trockenheit. Es gibt weniger Regen. Solange wir das Thema Klima nicht behandeln, kann auch keine Lösung für die Hungersnot gefunden werden. Ähnlich sieht das bei anderen Problemen aus.

Nehmen wir die Energieversorgung. Damit Schulen, Unternehmen und Kleinindustrie betrieben werden können, brauchen die Leute Zugang zu Energie. In den meisten sogenannten Entwicklungsländern steht Sonnenenergie frei zur Verfügung. Wenn wir nun das Ziel Nummer acht setzen, das heißt die Förderung von kontinuierlichem, inklusivem und nachhaltigem Wirtschaftswachstum, produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle und gleichzeitig eine stärkere Nutzung erneuerbarer Energien fordern, aber für das nötige Investment in die natürlichen Ressourcen keine Mittel zur Verfügung gestellt werden, dann läßt sich das nie erreichen.

SB: Den hier heute vorgestellten Lösungsansätzen oder Projekten zur Nachhaltigkeit war fast allen gemeinsam, daß man immer von einem ökonomischen Anreiz als unabdingbare Voraussetzung ausgeht, nur um den Nachhaltigkeitsbegriff überhaupt zu thematisieren. Kennen Sie auch andere Motivationen?

WL: Okay, abgesehen vom economical enhancement, also einer wirtschaftlichen Verbesserung, mit der man sehr leicht bei den Menschen Interesse wecken kann, gibt es sicherlich auch anderes, was die Menschen anspricht und mit dem man eine Veränderung in ihrem Verhalten bewirken kann. Wenn sich etwas positiv auf die Gesundheit auswirkt, dann hören die Leute ebenfalls gut zu. Geld ist ein wichtiger Faktor, ganz klar, aber Gesundheit ist auch ein wichtiges Motiv. Natürlich kann man Menschen auch mit anderen Werten animieren, ihr Verhalten zu ändern, indem es etwa nicht mehr zum guten Benehmen gehört, wenn man nach Thailand in den Urlaub fliegt. Man kann sich sehr gut in Deutschland erholen. Und das sind Veränderungen, die jeder aufgreifen kann.

Was wir dafür brauchen, ist eine 'kritische Masse' an Menschen, die so denken, und das fehlt uns noch. Leider ist der Nachhaltigkeitsgedanke noch immer vielen fremd. Das Thema Konsum, wie es Prof. Dr. Schmuck dargestellt hat, ist nach wie vor ein großes Thema. Wir wollen immer mehr konsumieren, ohne Rücksicht auf unsere Umwelt.

SB: Wenn Sie von Gesundheit als Wert sprechen, der sich durch nachhaltiges Wirtschaften steigern läßt, betrachten Sie den Menschen dann nicht selbst als eine verwertbare Ressource, mit der eben "nachhaltig" umgegangen werden sollte?

WL: Ganz genau. Es geht nicht nur darum, daß man Geld spart oder Geld verdient, sondern im Sinne einer Aufrechterhaltung von gesundheitlichen Ressourcen auch um das eigene gesundheitliche Wohlbefinden. Ein ebenso wichtiger Wert sind bessere Lebensbedingungen. Wenn man einen Wald stehen läßt, statt ihn abzuholzen, dann schafft man gleichzeitig auch einen Zugang für frische, saubere Luft. Gerade vor kurzem gab es hier in Deutschland eine Diskussion über eine grüne Wiese in Lüneburg, die von Seiten der Stadt als Baugelände freigegeben werden soll. Der Interessenkonflikt besteht darin, daß natürlich mehr Einwohner in Zukunft auch mehr Steuergelder für die Stadtkasse bedeuten, doch die Wiese hat eine wichtige ökologische Funktion, die unter anderem die zukünftige Frischluftzufuhr betrifft. Das heißt, die Bebauung der Wiese wäre zwar kaufmännisch sinnvoll, ökologisch aber nicht. Und Frischluft kann in Zukunft ebenso wertvoll für die Einwohner werden wie gefüllte Kassen oder potentielle Investitionsmittel.

SB: Das erinnert an das Faktor-Vier-Konzept, das heißt, doppelten Wohlstand durch halbierten Naturverbrauch zu erreichen. Steckt nicht im "nachhaltigen" Effizienzkonzept, mit einem Minimum an Ressourceneinsatz ein Maximum an Wohlstandsoutput oder Lebensqualität zu erreichen nicht eigentlich ein ganz normales unternehmerisches Handeln?

WL: Der Motor zum Handeln, ganz gleich, worum es geht, ist leider meistens ökonomischer Natur. Wir sollten aber inzwischen in Deutschland gelernt haben, daß das alleine nicht ausreicht. Nehmen wir zum Beispiel Finnland, das meines Erachtens nachhaltigste Land der Welt. Warum? Weil die Finnen eine sehr starke Bindung zu ihrer Umwelt haben. Sie würden es nicht zulassen, daß durch den Bau von Industrie oder durch das Abholzen von Wäldern ihre Lebensqualität leidet. Deswegen gehen sie mit ihren Umweltressourcen sehr vorsichtig um. Sie haben erkannt, daß der Schlüssel für unser Lebenswohl unsere Natur ist.

SB: Sind angesichts der Tatsache, daß es in einigen Regionen bereits jetzt nicht nur fünf, sondern bereits drei Minuten vor zwölf ist, was den Klimawandel anbelangt, und der Aussicht des 5. Sachstandsberichts des Weltklimarates (IPCC) das 2 Grad Ziel nur noch durch extreme und drastische CO2-Einsparungen zu erreichen, solche Maßnahmen wie das Verschonen eines kleinen Waldes oder bestimmte Effizienz-Strategien in der Energiegewinnung nicht bloß Augenwischerei?

WL: Das gilt nicht nur in einigen Regionen. In der industrialisierten Welt, und darin schließe ich auch schon Länder wie Indien und China mit ein, die bereits eine ganze Menge Emissionen freisetzen, ist überall fünf Minuten vor zwölf. Wenn wie in China jede zweite Woche ein neues Kraftwerk eröffnet werden muß, um das meines Erachtens durchaus nachollziehbare Entwicklungsmodell mit Industrialisierung und der Verbrennung von Ressourcen voranzutreiben, dann versteht sich von selbst, daß allein das die klimatischen Bedingungen verschlechtert. Das heißt, die Warnung gilt für uns alle.

In Deutschland haben wir inzwischen zum Glück verstanden, daß es eine direkte Beziehung zwischen Emissionen und Klimawandel gibt und bemühen uns jetzt darum, die Emissionen zu reduzieren. Aber die Maßnahmen, die bisher getroffen wurden, reichen nicht aus. Neben der Notwendigkeit zur Mitigation [= Minderung, Anm. d. SB-Red.] des Klimawandels durch die Reduktion von Treibhausgasemissionen wie CO2, bedarf es auch ganz nötiger Anpassungsmaßnahmen. Das wird häufig übersehen, auch wenn wir das Abkommen für Paris unterschrieben haben. Denn die Frage, was die Folgen des Klimawandels bereits jetzt für Menschen in Afrika bedeuten, wo Trockenheit die Landwirtschaft kaputt macht, ist keineswegs gelöst. Fünf vor zwölf in Sachen Klimawandel ist es überall.

SB: Welche Maßnahmen beziehungsweise sozioökonomischen Eingriffe und gesellschaftlichen Veränderungen halten Sie persönlich für unabdingbar, um diese Probleme anzugehen?

WL: Das ist eine ganz wichtige Frage. Noch einmal, wir müssen umdenken, wie wir mit unseren Ressourcen umgehen. Jeder von uns ist in der Lage, progressiv nachhaltig zu handeln, jeder von uns kann die Umwelt berücksichtigen, beispielsweise schon beim Einkaufengehen. Mit unserer Einkaufstasche können wir eine wichtige Entscheidung treffen. In England, das ich häufig besuche, wurde gerade vor zwei Monaten ein Umdenken in der Bevölkerung allein aufgrund der Tatsache zustande gebracht, daß in den Geschäften inzwischen für die Plastiktüte 20 Cent verlangt wird. Bis dahin war es für Engländer selbstverständlich, daß mit dem Einkauf gleich auch eine Einwegtüte mit aufs Band gelegt wurde. Man brauchte nicht zu fragen, das gehörte zum Service dazu. Nun hat man das geändert. Der Verbrauch von Plastiktüten hat sich schlagartig um 95 Prozent reduziert.

Das heißt, solche Verhaltensänderungen sind unbedingt notwendig und sie können mit klitzekleinen Maßnahmen erreicht werden. Wir brauchen mehr davon. Wir haben leider viel zu wenig und kaum ausgeprägtes Nachhaltigkeitsbewußtsein. Es gibt einige relativ gute Ansätze in Deutschland, verglichen mit anderen Ländern. Aber in Ländern wie Brasilien, Indien oder China wird nach wie vor ausschließlich auf wirtschaftliches Wachstum gesetzt. Hier ein Umdenken zu erreichen, ist noch ein weiter Weg und das ist das Problem.

SB: Die Fünf-Pence-Abgabe zur Einsparung von Plastiktüten in England geht auf eine Regierungsinitiative zurück. Meinen Sie, daß mehr ähnliche administrative Reglementierungen oder Gesetze notwendig wären, ein nachhaltigeres Bewußtsein zu schaffen, oder ist der Mensch von sich aus dazu in der Lage?

WL: Ideal wäre meines Erachtens eine Kombination von beidem, denn wir brauchen eine gesetzliche Grundlage, damit die Leute das Ganze ernst nehmen. Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet die USA die größte Umweltindustrie der Welt hat, mit knapp 100 Milliarden Dollar Umsatz, denn die Umweltgesetze und Reglementierungen sind in den USA sehr strikt. Dort weiß man, es kostet richtig viel Geld, wenn man die Regeln nicht erfüllt. Gesetzliche Regelungen sind leider unerläßlich, und wir brauchen auch entsprechende Werkzeuge, um ihre Einhaltung zu überprüfen.

In Indien ist es beispielsweise viel günstiger für den Verursacher, für seinen Umweltschmutz ein Bußgeld zu bezahlen, als in nachhaltigere, umweltschonendere Technologien zu investieren. Wenn diese Beziehung schon nicht stimmt, dann bringen Sie dort niemanden dazu, umzudenken und in die Umwelt zu investieren.

SB: Welche Grenzen werden der Nachhaltigkeitsforschung durch die aktuelle Politik gesetzt?

WL: Gar keine, zum Glück. Nachhaltigkeit ist ein Wachstumsfeld, ich würde heute jedem jungen Menschen, der eine akademische Laufbahn anstrebt, eine Karriere in der Nachhaltigkeitsforschung empfehlen, weil dort noch ein ganz großer Bedarf existiert und zwar in allen Fachbereichen, die hier themenübergreifend arbeiten. Die Soziologie, Ökonomie, Psychologie bieten ein großes und weites Betätigungsfeld. Da gibt es in meinen Augen keine Grenze. Wir brauchen mehr Leute, die sich für das Thema interessieren.


Prof. Leal im Interview - Foto: © 2016 by Schattenblick

Nachhaltig nachdenklich. "Wir brauchen mehr Leute, die sich für das Thema interessieren."
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Sie sprachen vorhin Afrika an und sind selbst als Koordinator des sogenannten AFRHINET-Projektes an der Entwicklung von Wassermanagement-Technologien beteiligt. Lassen sich die Erkenntnisse hieraus auch auf andere semiaride oder aride Gebiete übertragen? Und ist so etwas bereits im Gespräch?

WL: Ja sicher. Im Rahmen von AFRHINET haben wir ein Problem zwar noch nicht gelöst, aber zumindest gelernt, es besser zu verstehen. Es geht dabei darum, wie die afrikanischen Länder ihr eigenes Regenwasser besser verwenden können. Afrika hat verhältnismäßig ebenso viel Niederschlag wie Nordeuropa, nur kommt das gesamte Wasser einmal im Jahr in der Regenzeit auf einen Schlag herunter. Und dann regnet es das ganze Jahr nicht mehr. Wir haben uns in diesem Projekt gefragt, ob es nicht gelingen könnte, diese Riesenmasse an Regenwasser aufzufangen, sie zu speichern und dann gezielt zu verwenden. Dazu haben wir Forschungsprojekte in Zimbabwe, Mosambique, Kenia und Äthiopien durchgeführt und konnten damit tatsächlich etwas in den Regionen bewirken. Es funktioniert.

SB: Gibt es also schon praktische Beispiele dazu, wo das Wasser gesammelt und verwendet wird?

WL: Ja. Wir haben Pilotprojekte in diesen vier Ländern. Man kann sich in unserer Pilotanlage in Äthiopien informieren lassen, wie das Konzept funktioniert. Die Menschen haben dort Regenwasser im Untergrund gesammelt, das in trockener Zeit für die Landwirtschaft verwendet wird. Wir haben ebenfalls eine Kommune von 150 Menschen in Zimbabwe, die nach dem gleichen Prinzip Regenwasser für ihre landwirtschaftliche Produktion sammeln.

SB: Wem kommen diese Studien und Projekte zugute?

WL: Kleinen Landwirten. Diese kleinen Unternehmen und Projekte sind auch etwas, das man viel zu leicht aus den Augen verliert. Wir suchen immer nach großen Modellen, mit denen Millionen von Menschen erreicht und bedient werden können. Solche Antworten sind unbestritten sehr wertvoll. Aber genauso viel Wert haben auch ganz kleine, unaufwendige, einfache Ansätze, die erreichbar und günstig sind, und sich dann auch sofort technisch umsetzen lassen. An solchen Lösungen sind wir interessiert.

SB: Als Ideengeber für innovative Projekte, so sagten Sie gerade in Ihrem Vortrag, organisiert das FTZ-ALS (Forschungs- und Transferzentrum - Angewandte Life Science) Fachveranstaltungen, erstellt Fachpublikationen und bietet Beratung für Professorinnen und Professoren. In Kürze findet unter Ihrer Schirmherrschaft ein Symposium auf den Fidschi-Inseln statt, eine der vielen Gebiete, die schon in Kürze durch den Klimawandel vor große, existentielle Probleme gestellt werden. Welche Lösungen für die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen könnten Sie bzw. das HAW oder das FTZ-ALS Fidschi anbieten? Oder geht es dort nicht um diese Themen?

WL: Für Fidschi bieten sich zwei Möglichkeiten, die dort genutzt werden könnten, um weniger abhängig vom Treibstoff zu werden: Sonne und Wind. Momentan ist man dort enorm abhängig vom Öl, und es hat mich tief getroffen, als ich vor knapp drei Jahren auf Fidschi war, daß eine ganze Warteschlange von fünf oder sechs Öltankern im Hafen darauf wartete, ihre Ladung zu löschen. Dabei ist dieses Land so reich an Sonne und Wind. Wenn man hier die Nutzung von natürlichen Ressourcen anregen und Windanlagen oder Solarenergieanlagen bauen könnte, dann würde es viel Geld sparen, das man mit Treibstoff verbraucht, und könnte in Gesundheit und Bildung investieren. Das wäre unser Ansatz für Fidschi. Und wir haben in Chile eine Pilotanlage, wo sie sowohl Sonnen- als auch Windstrom für die eigene Nutzung produzieren.

Zudem ist Fidschi leider wenig resilient und sehr vulnerabel, was den Klimawandel angeht, was geradezu paradox ist. Denn die Südsee oder die Inseln der Südsee produzieren selbst nur sehr wenig CO2, sie setzen praktisch gar keine Treibhausgase frei, aber sie leiden darunter, weil sie von den Emissionen der Industriestaaten anderswo nun über den klimatisch bedingten Anstieg des Meeresspiegels bedroht werden. Da bieten wir ihnen einen klugen Weg an, eine Art Anpassung vorzunehmen, indem man die Häuser auf höhere Fundamente setzt, höher baut, damit das Meer länger zurückgehalten wird und nicht so leicht über die Ufer treten kann mit allen unangenehmen Folgen, wie leider die Prognosen zeigen. Aber das ist sehr, sehr schwierig.

SB: Sie sprechen selbst von "wenig", aber halten Sie diese Maßnahmen überhaupt für durchführbar und würde das reichen?

WL: Ansatzweise ja, für Fidschi wird das ausreichen, allerdings nicht für Tuvalu oder Tonga, die nur so wenig höher als der derzeitige Meeresspiegel liegen, daß man sie nicht beschützen kann. Dort stellt die Erhöhung des Meeresspiegels tatsächlich eine Bedrohung dar.

SB: Ein Thema, das Ihnen besonders am Herzen liegt, ist die Vernetzung von Ideen und Projekten, deswegen komme ich noch einmal darauf zurück: Inwieweit, würden Sie sagen, lassen sich auch bei der Durchsetzung dieses Vernetzungsanliegens Nachhaltigkeitskonzepte verwirklichen?

WL: In unserer Arbeit versuchen wir, Nachhaltigkeitskonzepte direkt in die Praxis umzusetzen. Wenn Sie sich unser Projekt AFRHINET ansehen, dann finden Sie ein nachhaltiges Management, was die Ressourcen, aber auch die Hungerbekämpfung angeht. Weil unsere Partner eine Landwirtschaft betreiben, in der die Menschen ihren Mais kultivieren und Wasser für ihre Schafe, Ziegen und andere Haustiere verwenden können. Diese kleinen, bereits spürbaren Lösungen, mit denen AFRHINET das Leben der Menschen direkt verbessert, motiviert uns natürlich sehr.

Landwirtschaft ist ein zentrales Thema. Die beeinflussen wir bereits nachhaltig. In anderen Projekten, die wir zum Beispiel jetzt in Fidschi durchführen, sind die Menschen nun in der Lage, Sonnenenergie zu nutzen. Dadurch können die Kinder abends zu Hause ihre Schulaufgaben machen, was bisher nicht der Fall gewesen ist. Das sind ganz arme Länder, in denen Strom immer noch nicht selbstverständlich ist.

SB: Meine Frage zielte eigentlich auf die Mittel ab, mit denen man Vernetzung betreibt und die häufig - wie das Internet - extrem energieaufwendig sind. Wird bei Ihnen beispielsweise ausgerechnet, wie viel Strom es kostet, diese Server für 24 Stunden am Tag laufen zu lassen, damit die ganzen Informationen zur Verfügung stehen?

WL: Nein, aber es gibt einen Wachstumstrend bezüglich des Betreibens von den Internet-Servern durch erneuerbare Energie. Wir benutzen zum Beispiel für unsere Aktivitäten 100 Prozent erneuerbare Energie. Denn STRATO, unser Provider, arbeitet nur mit erneuerbarer Energie.

SB: Mit dem Betriebssystem Linux hat der finnische Programmierer Linus Torvalds ein frei verfügbares Betriebssystem geschaffen, das seit über zwanzig Jahren von Programmierern auf der ganzen Welt weiterentwickelt wird; beispielsweise zu dem kostenlosen Betriebssystem Ubuntu, das weltweit von 25 Mio. Menschen genutzt wird. Könnte das als Vorbild dienen, um die SDGs zu verwirklichen?

WL: Im Hinblick auf die Verteilung oder die Verfügbarkeit von Ressourcen und wie man eine Serviceleistung kostenlos verfügbar macht, ist das sicherlich ein gutes Vorbild. Kommt aber leider zu selten vor.

SB: Bei all den Nachhaltigkeitskonzepten, mit denen Sie zu tun haben - was fällt Ihnen persönlich als allererstes ein, wenn Sie an den Begriff Nachhaltigkeit denken?

WL: Transport. Weil ich jeden Tag einen weiten Weg mit dem Auto zurücklege, der mit dem Zug knapp zwei Stunden kostet. Mit dem Auto bin ich in einer dreiviertel Stunde da - und das stört mich ein bißchen, aber ich kann es nicht ändern. Ich bin damit auch eines der vielen Beispiele dafür, daß viele Menschen zwar Änderungen vornehmen wollen, es aber wegen gewisser Einschränkungen nicht können.

Nehmen Sie einmal England. Dort wollen viele ihren Abfall trennen, wie es hier in Deutschland gang und gebe ist. Doch in England fehlt dafür einfach die Infrastruktur. Es gibt eine Tonne und das war 's. Das ist häufig der Frust mit der Nachhaltigkeit, daß der persönliche Wille auf Grenzen stößt. Ich möchte auch CO2 sparen, aber nicht zwei Stunden pro Tag pro Fahrt opfern.

SB: Inwieweit würden Sie Kompromisse, zum Beispiel weniger umweltfreundliche Lösungen, eingehen, um wiederum bestimmte Nachhaltigkeitsziele zu ermöglichen wie etwa Geoengineering zur "Rettung des Klimas"?

WL: Das ist eine wichtige Frage. Wenn man überhaupt solche Mittel in Erwägung ziehen muß, dann sollte sichergestellt sein, daß die Nachteile nicht überwiegen. Oft wird ein Nachteil mit eingekauft, weil etwas einfach kaufmännisch gesehen interessant erscheint. Nehmen Sie das Stichwort 'Fracking'. Das wird in den USA gemacht, jetzt neulich wurde es sogar in England diskutiert und dann hat man ein Problem. Wenn dann irgend etwas schief geht, dann geht es richtig schief!

SB: Vielen Dank, Herr Prof. Leal, für dieses ausführliche Gespräch.


Anmerkung:


[1] http://www.nature.com/nature/journal/v486/n7401/full/nature11018.html


Einen Bericht zur Veranstaltung finden Sie unter:
Umwelt → Report:
BERICHT/119: Vielfaltig nachhaltig - ohne Konsequenzen ... (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0119.html


1. Juli 2016


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