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INTERVIEW/208: Profit aus Zerstörungskraft - Empathie und Trauma ...    Tatjana Semenchuk im Gespräch (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl

Internationaler IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin

Tatjana Semenchuk über die Evakuierung aus der Stadt Prypjat einen Tag nach der Explosion des Akw Tschernobyl, ihr Engagement in der Initiative "Erinnerung an Tschernobyl" und darüber, warum sie heute Flüchtlingen aus der Ostukraine hilft

Die Explosion des in der Ukraine gelegenen Akw Tschernobyl am 26. April 1986 hat sich zwar tief in das Gedächtnis derjenigen eingegraben, die damals schon gelebt und die täglichen Berichte über die Ausbreitung des radioaktiven Fallouts verfolgt haben, aber heute erinnert nur noch wenig daran. Auf Pilze, Beeren und Wildschweinfleisch aus Bayern, deren radioaktive Belastung teilweise noch über den offiziellen Strahlengrenzwerten liegt, müssen die meisten Bundesbürger gar nicht erst verzichten, weil sie sowieso nicht auf ihrem Speiseplan stehen. Und die Erhöhung der Rate von Fehlgeburten oder Krankheiten nach der Tschernobyl-Explosion geht in der Statistik unter und bleibt damit abstrakt. Zudem liegen aus hiesiger Sicht die Ukraine und Belarus, wo der größte Teil des radioaktiven Fallouts niedergegangen ist, weit entfernt.

Nebeneinander auf dem Podium sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Forum über die soziale Situation der von Tschernobyl und Fukushima betroffenen Menschen
Von links nach rechts: Irina Bondas (Dolmetscherin), Tatjana Semenchuk (NGO "Erinnerung an Tschernobyl"), Dr. Astrid Sahm (Internationales Bildungs- und Begegnungswerk, IBB), Dr. Ludwig Brügmann (IPPNW) und Prof. Dr. Masae Yuasa (Hiroshima City University)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Es gibt jedoch Menschen, für die das Unglück heute noch so präsent wie damals ist. Tatjana Semenchuk ist eine von ihnen. Sie war im siebten Monat schwanger, lebte nur vier Kilometer vom Akw Tschernobyl entfernt in Prypjat, als die Explosion erfolgte, und wurde wie die anderen Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt von den Behörden einen Tag lang nicht darüber informiert, was geschehen war. Auf dem Internationalen Kongreß "5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl", der vom IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Ärzte in sozialer Verantwortung) vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin, organisiert wurde, schilderte Frau Semenchuk, was ihr und ihrem Mann in den ersten Stunden nach der Explosion widerfahren war, den Verlauf ihrer mehrmaligen Evakuierung und ihr heutiges Engagement in der Initiative "Erinnerung an Tschernobyl".

Am 26. April 1986 hatte Tatjana Semenchuk ihre 3-Tagesschicht in einer großen Kuchenfabrik beendet und wollte über Ostern gemeinsam mit ihrem russischen Mann zu dem Dorf fahren, in dem seine Eltern lebten. Frühmorgens standen sie gegen 3.30 Uhr auf und begaben sich zum Busbahnhof, nicht ahnend, daß kurz zuvor, um 1.23 Uhr, das Akw Tschernobyl explodiert war. Auffällig war jedoch, daß die Straße überall mit Wasser benetzt war. Der Straßenbelag wirkte extrem sauber, und ihr Mann sagte zu ihr, sie beklage sich doch so oft über die schlechte Luft, jetzt könne sie tief durchatmen, die Luft sei sauber; die Stadtreinigung mache ihre Arbeit gut ...

Als die beiden den Busbahnhof erreichten, waren dort viele Leute versammelt, weil jeder über Ostern wegfahren wollte. Doch die Busse fuhren nicht, niemand kannte den Grund dafür. Aus weiter Ferne vernahm sie Alarmsignale von Feuerwehr und Rettungswagen, vom Akw Tschernobyl stiegen dicke Rauchwolken auf, aber Sorgen machte sie sich zu diesem Zeitpunkt keine.

Irgendwann tauchten zwei Männer auf. Einer von ihnen berichtete, daß es in dem Akw einen Unfall gegeben habe, der andere sagte, daß in der Stadt eine Militärübung stattfände, deswegen würden heute Nacht keine Busse abfahren. Er forderte die Leute auf, nach Hause zu gehen. Als die beiden wieder in ihrer Wohnung waren, erhielten sie noch immer keine Informationen darüber, daß etwas Ernsthaftes geschehen war oder geschehen könnte. Erst am zweiten Morgen nach der Katastrophe kündigten die Behörden über den Rundfunk an, daß die ganze Stadt evakuiert werde und die Einwohner die notwendigsten Dinge mitnehmen sollten. Sie sollten sich zu den Bussen begeben, die auf sie warteten. Erst da begriffen sie, warum in der Nacht davor kein Bus die Stadt verlassen hatte.

Was Frau Semenchuk hier schildert, dürfte ein Szenario sein, wie man es sich auch für Deutschland und andere westliche Länder gut vorstellen kann. Ein wesentliches Interesse der Behörden besteht in der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Das deckt sich jedoch nicht unbedingt mit dem Interesse der Menschen, die in diesem Fall einen ganzen Tag lang ionisierender Strahlung ausgesetzt gewesen waren. Dem Bericht zufolge muß man annehmen, daß die Stadtreinigung versucht hat, den radioaktiven Fallout von der Straße zu spülen, was die Vermutung nahelegt, daß die Behörden zu einem sehr frühen Zeitpunkt über die Verstrahlung Bescheid wußten.

Zunächst zogen die Semenchuks zu Tatjanas Eltern in der 50 Kilometer entfernten Stadt Wiltscha, wo die Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen wurden: "Zur Zeit der Sowjetunion erlebten wir das so, daß Tschernobyl unser gemeinsames Unglück war."

Anfang der neunziger Jahre mußten sie erneut umziehen, weil auch in Wiltscha die Strahlung zu hoch war. Im Osten der Ukraine wurde eine Musterstadt gebaut, ebenfalls Wiltscha genannt, in der sie, nachdem sie noch eine Zeitlang in Belarus gewohnt hatte, nun lebt. Die Einwohner des neuen Wiltschas setzen sich aus Binnenvertriebenen, Evakuierten und Liquidatoren zusammen. Jede Familie ist in irgendeiner Form von der Tschernobyl-Katastrophe betroffen.

Auf die sowjetische Zeit geht zurück, daß die Familien in Wiltscha zusammenbleiben durften und Wohnungen direkt nebeneinander erhielten. Es bestanden auch Pläne, dort Fabriken zu errichten, doch viele solcher Pläne seien nicht zu Ende gebracht worden. Heute gebe sie bis zu 85 Prozent ihrer Pension, die umgerechnet 50 Euro im Monat plus einen kleinen Zusatz für Lebensmittel beträgt, für Medikamente aus. Und ihr gehe es noch vergleichsweise gut, andere müßten für ihre Medikamente sehr viel mehr aufbringen.

Im Anschluß an ihren Vortrag stellte sich Frau Semenchuk dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung. Dankenswerterweise übernahm es Dr. Astrid Sahm, die seit 2012 das Berliner Büro des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) leitet, 1998 zur Atomenergie- und Tschernobyl-Politik in Belarus und der Ukraine promoviert hat und sich seit ihren Studienzeiten in Tschernobyl-Projekten engagiert, das Gespräch zu dolmetschen.


Nebeneinander sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Tatjana Semenchuk und Dr. Astrid Sahm
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie leiten seit 2013 die Nichtregierungsorganisation "Erinnerung an Tschernobyl". Womit ist diese Organisation befaßt und was sind ihre Ziele?

Tatjana Semenchuk (TS): Das Hauptziel ist selbstverständlich, die Lebenssituation der Tschernobyl-Betroffenen zu verbessern, denn wie ich in meinem Vortrag vorhin gesagt habe, entspricht das, was der ukrainische Staat im Augenblick für uns leistet, nicht den Bedürfnissen der Tschernobyl-Betroffenen.

SB: Sind die staatlichen Leistungen in den letzten Jahren gekürzt worden?

TS: Seit 1991, als die Grundlagen der heutigen Tschernobyl-Gesetzgebung festgelegt wurden, hat es daran 46 Veränderungen gegeben. Keine von ihnen war eine Verbesserung.

SB: In der Präfektur Fukushima erinnern zumindest die Meßstationen für Radioaktivität an die Katastrophe vor fünf Jahren. Was erinnert in der Ukraine an die Tschernobyl-Katastrophe?

TS: Öffentlich sichtbare Meßgeräte haben wir in der Form nicht, auch im Privatbesitz gibt es keine Dosimeter, zumindest nicht bei uns im Ort. Was vor allen Dingen daran erinnert, sind der Schmerz der Menschen, der weiterhin präsent ist, und ihre Krankheiten, die so sichtbar sind, als trügen die Personen einen Orden an der Brust. Die Hälfte der Tschernobyl-Betroffenen ist inzwischen behindert. Wir sehen die Folgen nicht nur an uns selber, sondern auch an unseren Kindern und Enkeln.

SB: Sprechen die Menschen noch immer über Tschernobyl?

TS: In den Familien der Betroffenen wird das Thema wachgehalten. Es wird regelmäßig darüber gesprochen und es wird auch den Kindern vermittelt. Denn die sind ja ebenfalls den Folgen ausgesetzt, also müssen sie es auch wissen.

SB: Und wie verhält es sich mit den Medien, berichten sie über Tschernobyl?

TS: Die Medien, das muß man so sagen, schenken dem Thema eigentlich nur im Vorfeld der Jahrestage Aufmerksamkeit. Davon gibt es in der Ukraine zwei, zum einen den 26. April, also den Tag der Reaktorexplosion, und zum anderen den 14. Dezember. Das ist der Tag des Liquidators, weil an dem Tag offiziell der Sarkophag als fertig abgenommen wurde.

2012 war in Charkiw als Gemeinschaftsprojekt von IBB und den dortigen Tschernobyl-Organisationen eine Geschichtswerkstatt Tschernobyl gegründet worden, von der ich eine Außenstelle leite. Das ist etwas Einzigartiges in der Ukraine. Darin wird einerseits den Betroffenen geholfen, andererseits aber auch aktive Erinnerungsarbeit betrieben. Beispielsweise wird regelmäßig mit Schülern und Jugendlichen gearbeitet und es werden regelmäßig Ausstellungen organisiert. Das hängt auch damit zusammen, daß ein Professor für Design, der selber Tschernobyl-Liquidator war, gemeinsam mit seinen Studenten viele Projekte initiiert. Deswegen ist es möglich, in Charkiw auch zwischen den Jahrestagen die Menschen auf das Unglück anzusprechen. Das ist eine etwas andere Situation als in anderen Regionen des Landes.

SB: Wie kann man sich die verstrahlten Gebiete vorstellen - sind sie gesperrt oder fahren dort Menschen hinein?

TS: Das hängt natürlich von dem jeweiligen Belastungsgrad ab. In den schwächer radioaktiv belasteten Gebieten wohnen weiterhin Menschen, da kann man ungehindert hineinfahren. In der Sperrzone, wo auch die Stadt Prypjat gelegen ist, verhält es sich so, daß um den Totengedenktag herum, der nach Ostern liegt, die Behörden einen Besuch der Sperrzone gestatten. Wir bemühen uns jedes Jahr, von unserem Wohnort aus eine Busfahrt dorthin zu organisieren, wo wir dann auch das alte Wiltscha bzw. das, was davon übriggeblieben ist, besuchen.

SB: In Charkiw hat es in den letzten Jahren Anschläge gegeben. Wird zur Zeit in der Region, in der Sie leben, gekämpft?

TS: Unser Ort ist bisher glücklicherweise von Kriegshandlungen verschont geblieben und auch von meinen Angehörigen ist niemand zu Schaden gekommen. Aber der Konflikt ist in unmittelbarer Nähe und wir machen uns Sorgen. Natürlich haben wir auch viele Flüchtlinge aufgenommen, die vor diesen Kriegshandlungen geflohen sind. Das geht uns natürlich etwas an, das geht uns sehr nahe.

SB: Werden Sie von der Regierung darin unterstützt, daß Sie Flüchtlinge aus der Ostukraine aufnehmen?

TS: Es ist so, daß der Staat den Binnenflüchtlingen gewisse Formen von Unterstützungsleistungen zukommen läßt. Vor allen Dingen für die Übergangszeit. Aber für unsere Beratung und Unterstützung erhalten wir nichts vom Staat.

[An dieser Stelle ergänzt die Dolmetscherin Astrid Sahm: Dafür haben wir hier in Deutschland Gelder beantragt und Spenden gesammelt. Wir wollen die Beratungsstellen, die wir gemeinsam aufgebaut haben, für alle öffnen und dort Rechtsberatung und ähnliches leisten. Es gibt auch Versuche, staatliche Unterstützung zum Beispiel für Wohnprojekte zu erhalten, aber das hat sich in der Form bisher noch nicht realisiert.]

Die Hilfe wird von einem wirklich großen freiwilligen Engagement getragen und ist nicht vom Staat unterstützt.

SB: Sie sind selbst Flüchtling und mußten zweimal fliehen, einmal aus Prypjat und einmal aus dem ursprünglichen Wiltscha. Jetzt befassen Sie sich immer noch mit Flüchtlingen. Woher nehmen Sie die Kraft dafür?

TS: Wenn ich Menschen sehe, die von Leid geprägt sind und es ist ein ähnliches Leid, wie ich es selber durchlebt habe, dann kann ich gar nicht anders, als Hilfe zu leisten. Für mich ist das noch so präsent, daß ich sofort auch auf Vergleichbares reagiere. Beispielsweise gestern, als die Fotos von Prypjat gezeigt wurden, da war alles wieder präsent. Das hat bei mir alles sofort wieder in die Gegenwart geholt. Das ist für mich nichts, was weit nach hinten verdrängt ist.

SB: Vielen Dank, Frau Semenchuk, für das Gespräch.


Panoramaansicht von Prypjat, zusammengestellt aus 10 einzelnen Fotos. Blick von einem Hochhaus aus auf die inzwischen von vielen Bäumen und Sträuchern bewachsene Stadt - Foto: Matti Paavonen, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de] via Wikimedia Commons

Ungezählte Kosten der Atomenergie: Prypjat, eine Stadt mit einst 50.000 Einwohnern, zerfällt.
Rechts im Bild Reaktor Nr. 4 des Akw Tschernobyl, 13. Mai 2009
Foto: Matti Paavonen, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de] via Wikimedia Commons


Die Berichterstattung des Schattenblick zum IPPNW-Kongreß finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0112.html

BERICHT/113: Profit aus Zerstörungskraft - kein Frieden mit der Atomkraft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0113.html

INTERVIEW/203: Profit aus Zerstörungskraft - nach unten unbegrenzt ...    Dr. Alexander Rosen im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0203.html

INTERVIEW/204: Profit aus Zerstörungskraft - Spielball der Atommächte ...    Dr. Helen Caldicott im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0204.html

INTERVIEW/205: Profit aus Zerstörungskraft - systemische Verschleierung ...    Tomoyuki Takada im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0205.html

INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ...    Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0206.html

INTERVIEW/207: Profit aus Zerstörungskraft - eine ungehörte Stimme ...    Prof. Dr. Toshihide Tsuda im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0207.html

13. März 2016


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