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INTERVIEW/007: Klima, Aerosole - Steven Starr, Nuklearexperte von der Universität von Missouri (SB)


Steven Starr - Foto: © 2011 by Schattenblick

Steven Starr, Universität von Missouri
Foto: © 2011 by Schattenblick

Interview mit dem Nuklearexperten Steven Starr am 12. August 2011 auf der Konferenz "Severe Atmospheric Aerosol Events" in Hamburg

Steven Starr arbeitet hauptberuflich als Leiter des Clinical Laboratory Science Program der Universität von Missouri. In Abrüstungskreisen ist er wegen seines unermüdlichen Engagements zur Beseitigung der Gefahr, die von Atomwaffen für die ganze Menschheit ausgeht, bekannt. Er selbst sieht sich als Vermittler, der die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Klimaforscher über die katastrophalen Umweltfolgen des Einsatzes von Kernwaffen Diplomaten, Journalisten, Laien und Militärs leicht verständlich machen kann. Zu diesem Zweck hat er in den vergangenen Jahren an einer Reihe von Konferenzen, unter anderem der Vereinten Nationen zur Überprüfung und Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags, teilgenommen sowie zahlreiche Artikel, darunter im renommierten Bulletin of Atomic Scientists, veröffentlicht. Als führendes Mitglied der Organisation Physicians for Social Responsibility (PSR; Ärzte für soziale Verantwortung) hat Starr sowohl vor dem US- Kongreß als auch vor der UN-Generalversammlung gesprochen. Seit 2007 berät er die Regierungen Chiles, Neuseelands und der Schweiz bei ihren Bemühungen, die USA und Rußland dazu zu bewegen, auf den permanenten Alarmzustand ihrer Nuklearstreitkräfte zu verzichten.

Auf der Fachtagung "Severe Atmospheric Aerosol Events", die am 11. und 12. August an der Universität Hamburg stattfand, hat Starr den Vortrag "Reframing the Global Debate on Nuclear Weaponry: Recognising Scientific Truths about Nuclear War" (Einen neuen Rahmen für die globale Debatte über Nuklearwaffen schaffen: Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Atomkrieg berücksichtigen) gehalten und die Abschlußdiskussion moderiert. Gleich im Anschluß daran stellte sich Starr dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.


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Schattenblick: Herr Starr, inwieweit unterscheidet sich die atomare Kriegführungsstrategie der Regierung Barack Obamas von denen ihrer Vorgängerinnen?

Steven Starr: Meiner Meinung nach war das schon einmalig, als sich Obama im Frühjahr 2009 zu Beginn seiner Amtszeit bei einem Besuch in Prag für die Verschrottung aller Atomwaffen aussprach. Damit hat er das Ziel - eine Welt ohne Kernwaffen - zur offiziellen Politik der USA erklärt. Leider hat er im selben Satz die Anregung relativiert, indem er erklärte, er glaube nicht, daß das Vorhaben noch zu seinen Lebzeiten verwirklicht werde. In Gesprächen, die ich am Rande der letztjährigen Konferenz bei den Vereinten Nationen über die Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags um weitere fünf Jahre führte, gewann ich den Eindruck, daß es lediglich der zweite Teil des Satzes war, den die Militärs und alle anderen, die am Status quo interessiert sind, zur Kenntnis genommen haben und für maßgeblich halten. Nichtsdestotrotz begrüße ich Obamas Erklärung. Immerhin hat er der internationalen Debatte um die atomare Abrüstung neuen Schwung verliehen und sich damit vom Unilateralismus der Administration George W. Bushs abgesetzt.

SB: Die historische Prager Erklärung Obamas kam nicht wirklich überraschend, sondern fußte auf einer Initiative von vier Elder Statesmen der USA - der beiden Ex-Außenminister Henry Kissinger und George Shultz, des Ex-Verteidigungsministers William Perry und Sam Nunns, des ehemaligen Vorsitzenden des verteidigungspolitischen Senatsausschusses -, die sich seit einiger Zeit für eine Welt frei von Nuklearwaffen starkmachen, unter anderem durch Reden vor dem Kongreß in Washington und der Duma in Moskau sowie durch die Veröffentlichung des Gastkommentars "A World Free of Nuclear Weapons" am 4. Januar 2007 im Wall Street Journal. Es wurde spekuliert, daß die Initiative von Kissinger und anderen nicht wirklich ernst gemeint war, sondern lediglich den propagandistischen Vorwand für eine Modernisierung des US-Atomwaffenarsenals liefern sollte. Glauben Sie, an dieser Interpretation könnte etwas dran sein?

Starr: Darüber kann man viel spekulieren, das bleibt jedem unbenommen. Fakt ist, daß ein Leitartikel von solchen Schwergewichten im Wall Street Journal die politische Debatte in den USA anzuschieben vermag und es in diesem Fall tatsächlich getan hat. Also sehe ich das positiv. Um dem Ganzen eine geschichtliche Perspektive zu geben, möchte ich daran erinnern, daß man in den siebziger und achtziger Jahren in den USA zum antiamerikanischen Kommunistenfreund abgestempelt wurde, wenn man sich für die Abschaffung von Atomwaffen engagierte. Wir haben also einige Fortschritte erzielt, wenn man bedenkt, daß die USA und Rußland seit 1986 zwei Drittel ihrer Atomsprengköpfe zerlegt haben. Ungeachtet dessen verdeutlichen die Klimastudien, die hier auf der Konferenz diskutiert wurden, daß die heute noch einsatzbereiten Atomwaffen mehr als ausreichen würden, um die Menschheit auszulöschen. Das sollte man der Öffentlichkeit noch mehr bekannt machen. Wir bewegen uns zwar in die richtige Richtung und können vielleicht unsere Ziellinie schon sehen, doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

SB: Es wird eine weitere Interpretation des Zuspruchs bestimmter Teile der außenpolitischen Elite der USA für eine weltweite Abschaffung von Nuklearwaffen diskutiert. Demnach seien die US- Streitkräfte im Bereich der satellitengestützten Lenkwaffen dermaßen überlegen, daß das Pentagon keine Atombomben mehr braucht, um jeden staatlichen Gegner militärisch in die Knie zwingen zu können. Gleichzeitig würde die Mikroelektronik der amerikanischen High-Tech-Waffen durch die elektromagnetische Strahlung beim Einsatz einer einzigen oder weniger Atombomben funktionsunfähig werden. Also stünde die Atombombe als eine Art Abschreckungswaffe des armen Mannes der Kriegführungspläne der US-Militärs schlußendlich im Weg und sollte deshalb verschwinden.

Starr: Das Argument ist nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. Hinsichtlich der konventionellen Bewaffnung gibt es heute auf der Welt keine Armee, auch nicht die Rußlands, die es mit den USA aufnehmen kann. Wobei selbst der Begriff konventionelle Bewaffnung nicht die gleiche Bedeutung hat wie vor dreißig, vierzig Jahren, als damit chemische Sprengstoffmunition im Gegensatz zu Kernwaffen gemeint war. Die konventionellen Waffen von heute sind von ihrer Wirkung her durchaus mit atomar bestückten Interkontinentalraketen zu vergleichen. Nehmen wir zum Beispiel die von der US-Luftwaffe entwickelten "Rods from God". Das sind stahlträgerähnliche Projektile, die auf Satelliten stationiert und aus der Umlaufbahn auf jedes Ziel auf der Erde gerichtet werden könnten, wo sie mit einer ungeheuren, einem Mini-Erdbeben vergleichbaren kinetischen Wucht einschlügen.

Leider gibt es in den USA immer noch Kräfte, die für den taktischen Gebrauch von Atomwaffen der neuesten Generation plädieren und das Argument vorbringen, man müsse nur die Sprengkraft unter eine Kilotonne reduzieren, um sie gezielt gegen militärische Ziele einsetzen zu können. Die Erstschlagskapazität der USA wird in dem von mir im Vortrag zitierten Artikel "The Rise of U. S. Nuclear Primacy" von Keir A. Lieber und Daryl G. Press, der in der März/April-2006-Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs erschienen ist, problematisiert. Die Hardliner wollen geltend machen, daß man gegebenenfalls die Schlagkraft der neuen B-61 auf 0,3 Megatonnen hinunterschraubt. Doch das ist noch immer soviel wie 300 Tonnen TNT! Bis heute liegt die Obergrenze der konventionellen Waffen bei 10 bis 20 Tonnen. Ich halte es für sehr gefährlich, wenn die Militärs die Sprengkraft konventioneller Waffen erhöhen und gleichzeitig die der nuklearen Bomben reduzieren, um die bisherige Trennlinie zwischen beiden Waffenarten zu verwischen und den Einsatz letzterer zu etwas zu deklarieren, das nicht mehr ungewöhnlich ist.

SB: Also kann man nicht sagen, daß die Entscheidung für den Verzicht auf Atomwaffen auf höchster Ebene des US-Sicherheitsapparats gefallen ist?

Starr: Das ist sie leider nicht. Ich denke, jeder US-Präsident hat sich eine Welt ohne Atomwaffen gewünscht. Man erinnere sich an Dwight D. Eisenhower. Während seiner acht Jahre im Weißen Haus wurden die Nuklearstreitkräfte der USA so schnell wie niemals zuvor oder danach ausgebaut. Doch in seiner Abschiedsrede als Präsident warnte er vor dem gefährlichen, weil demokratiezersetzenden Einfluß des militärisch-industriellen Komplexes. Bedauerlicherweise stieß die eindringliche Warnung des größten amerikanischen Helden des Zweiten Weltkriegs auf taube Ohren. Heute verfügt die militärische und zivile Atomindustrie in den USA über eine gigantische Infrastruktur mit Uranbergbau, Anreicherungsanlagen, Kernkraftwerken, Lagerstätten für radioaktives Restmaterial und vieles mehr.

Steven Starr - Foto: © 2011 by Schattenblick

Engagierter Einsatz für die Abschaffung
von Atomwaffen
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SB: Ich meine in einem Ihrer jüngeren Artikel gelesen zu haben, daß es sich beim Bau einer neuen Fabrik, in der die nächste Generation an Plutoniumblöcken - den Zündern für Wasserstoffbomben - hergestellt werden soll, der Modern Pit Facility (MPF) in Los Alamos in New Mexico, um das umfangreichste Infrastrukturprojekt der letzten Jahre in den USA handelt.

Starr: Das stimmt. Ich denke, Obama hat einen gewaltigen Fehler gemacht, als er im Austausch für die Zustimmung des Senats zum neuen START-Abkommen mit Rußland seinerseits der Modernisierung des US-Atomwaffenarsenals grünes Licht erteilte. Das bedeutet nämlich, daß sämtliche dazugehörigen Anlagen entweder auf den neuesten Stand gebracht oder komplett neu gebaut werden. Besonders enttäuscht bin ich davon, daß Obama noch vor der Abstimmung im Senat über den neuen Abrüstungsvertrag mit Moskau dem Drängen der Hardliner im Kongreß nachgegeben und eine Generalüberholung aller US-Nuklearwaffen bewilligt hat. Mein Freund David Krieger von der Nuclear Peace Foundation bezeichnete damals Obamas Verhalten zugespitzt als "präemptive Kapitulation". (lacht)

SB: Nicht schlecht. (lacht ebenfalls)

Starr: Was aber keine erfolgversprechende Verhandlungsstrategie ist. (lacht)

SB: Wohl wahr. (lacht)

Starr: Überlegen Sie mal: Wie will man eine Welt ohne Atomwaffen schaffen, wenn man gleichzeitig in den USA alle Fabriken, in denen diese Dinger gebaut werden, auf den neuesten Stand bringen läßt? Damit setzt man nur den Produktionszyklus nochmals in Gang. Seit dem Ende des Kalten Kriegs befinden sich die Verantwortlichen in den US-Atomlaboren auf der Suche nach einer Existenzberechtigung für ihre Institutionen. Mit der Entscheidung zur Generalüberholung des US- Nuklearwaffenarsenals sind sie endlich fündig geworden. Dabei wird die wichtigste aller Fragen - wozu braucht man überhaupt Tausende von Atomsprengköpfen? - vermieden. Die USA und Rußland verfügen jeweils über Mengen an Atomwaffen, nur weil der andere sie auch hat und man angeblich dem Arsenal des Gegners etwas Ebenbürtiges entgegenhalten müsse. Und das ungeachtet der Tatsache, daß rund zehn Prozent der amerikanischen oder russischen Kernwaffen vollkommen ausreichten, um den Planeten Erde für die Menschen schwer bis gar nicht mehr bewohnbar zu machen.

SB: Während der republikanischen Administrationen der letzten Jahrzehnte, zuletzt der von George Bush jun., drängten die Neokonservativen stets darauf, die Schwelle für den Einsatz vom Kernwaffen herabzusetzen. Politiker wie Richard Perle und John Bolton sprachen vom "gewinnbaren" Atomkrieg und traten für die Verwendung von Kernwaffen ein, sollte sich Washington für einen Militärschlag gegen die Nuklearanlagen des Irans entscheiden. Hat die Wahl Obamas den Einfluß solcher Kräfte entscheidend geschmälert oder bestimmen sie die Verteidigungspolitik der USA weiterhin mit?

Starr: Leider sind sie noch da und verschaffen sich Gehör. Ein Grund, warum diese Konferenz hier in Hamburg so wichtig ist, liegt darin, daß jedem klar wird: Einen "gewinnbaren" Atomkrieg kann es gar nicht geben, wenn man die Folgen selbst eines begrenzten nuklearen Schlagabtauschs für die Umwelt und das Weltklima bedenkt! Der gewinnbare Atomkrieg ist ein Märchen, das von rücksichtslosen Leuten in die Welt gesetzt wurde. Selbst wenn die Vereinigten Staaten in der Lage wären, erfolgreich einen Erstschlag auszuführen und sämtliche Atomwaffen und Kommandozentren Rußlands zu vernichten, würde die ganze Bevölkerung Amerikas und mit ihr vermutlich die der restlichen Welt einer Hungerkatastrophe zum Opfer fallen, zu der es infolge der drastischen Klimaveränderungen käme. Deswegen wird der begrenzte Einsatz von US-Nuklearwaffen häufig in Zusammenhang mit Szenarien diskutiert, in denen der Gegner selbst keine Atommacht ist und keine Möglichkeit zum Zweitschlag hat. Wie Sie schon in Ihrer Frage angedeutet haben, ist der Iran hierfür das beste Beispiel. Aber dennoch, wenn man die offiziellen Dokumente über die operative Atomkriegsplanung des Pentagons studiert, stellt man fest, daß Rußland weiterhin als primäres Ziel im Mittelpunkt aller Überlegungen steht.

SB: Nun, schließlich ist Rußland nach wie vor das einzige Land, das die USA ausradieren könnte, und wie man weiß, beurteilen die Militärs die potentiellen Gegnerstaaten nach ihren Kapazitäten und nicht nach den Verlautbarungen ihrer politischen Führungen.

Starr: Beide Seiten haben Tausende von atomar bestückten Interkontinentalraketen, deren Operateure sich im permanenten Alarmzustand befinden, um sie jederzeit auf Befehl von oben und ohne auf eine Bestätigung zu warten, daß man selbst angegriffen wurde, abfeuern zu können. Das macht einen versehentlichen Atomkrieg jederzeit möglich, was mich maßlos empört. Die Politiker auf beiden Seiten werden nicht müde zu beteuern, Rußland und die USA würden sich gegenseitig niemals angreifen. Aber wenn dem so ist, warum müssen sich ihre Interkontinentalraketen nach wie vor in einem Zustand befinden, in dem sie innerhalb von 30 Sekunden abgefeuert werden können?

SB: Im letzten Herbst war anläßlich der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York und der Konferenz um die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags um weitere fünf Jahre die Abschaffung der Atomwaffen ein großes Thema. Später hat man wenig darüber gehört. Hat die damalige Mobilisierung der Friedensbewegung und der Atomwaffengegner wenig gebracht? Hat sich das im Sand verlaufen?

Starr: Ich weiß, was Sie meinen. Die damalige Dringlichkeit des Themas hat scheinbar nachgelassen. Dennoch gehen die Bemühungen um die sogenannte Nuclear Weapons Convention (NWC), die irgendwann den Atomaffensperrvertrag ersetzen soll, weiter. Der jüngste Entwurf des Vertragstextes wurde letztes Jahr von der UN-Generalversammlung angenommen und in mehrere Sprachen übersetzt. Man findet den kompletten Text auf der Website der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) und kann ihn von dort runterladen. Viele Unterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrags, vor allem die Nicht-Atomstaaten, sind mit der jetzigen Situation höchst unzufrieden.

SB: Einige von ihnen haben Sie beraten, zum Beispiel die Schweiz und Chile.

Starr: Ich bemühe mich bei meiner Arbeit hauptsächlich darum, daß der nach wie vor herrschende Alarmzustand bei den stationierten, einsatzbereiten Atomwaffen aufgehoben wird. Das ist nicht einfach, denn die US-Militärs weigern sich, eine Definition für diesen Modus anzugeben. Sie verfahren nach dem Motto: Wenn etwas nicht definiert ist, braucht man sich erst gar nicht auf eine Diskussion darüber einzulassen. Dennoch ist es historisch verbürgt, daß die Feststoffraketen der USA und Rußlands seit Jahrzehnten innerhalb einer Frist von 30 Sekunden bis ein, zwei Minuten abgefeuert werden können. Nicht zufällig hat das Pentagon die Interkontinentalrakete "Minuteman" genannt, wie Bruce Blair, ehemaliger Launch Officer der nuklearen Streitkräfte der USA und heute Präsident des World Security Institute, einmal treffend bemerkte.

Schon 2007 hat die Bush-Regierung bei den internationalen Abrüstungsverhandlungen auf Nachfrage Neuseelands bestritten, daß sich die US-Raketenstreitkräfte im Zustand eines "hair-trigger alert" befinden, und behauptet, man müßte sie erst in diesen versetzen, um den Alarmzustand wieder aufheben zu können - was natürlich vollkommen absurd ist. Selbst im neuen START-Abkommen zwischen den USA und Rußland wird das brandgefährliche Problem des Alarmzustands nirgendwo behandelt, sondern statt dessen schlichtweg ignoriert. Politiker betrachten es als technische Frage und ordnen es dem Zuständigkeitsbereichs des Militärs zu. Doch solange letztere nicht ihre "Counterforce"-Strategien aufgeben, da sie meinen, alles, was auf der gegnerischen Seite der Landkarte liegt, mit Overkill-Mengen an Atomwaffen dem Erdboden gleichmachen zu können, wird dieses unverantwortlich hohe Risiko bestehen bleiben. Deswegen bin ich in meinem Vortrag heute auf die Initiative der Federation of American Scientists (FAS) eingegangen, wonach die USA und Rußland ihre Atomwaffenarsenale auf die Menge, die jeweils für eine abschreckende Zweitschlagskapazität erforderlich ist, reduzieren sollen. Das wäre auf beiden Seiten jeweils um die 100 bis 200 Atombomben.

SB: Wie China.

Starr: Genau - oder wie Frankreich und Großbritannien. Die USA dagegen verfügen heute noch über 8.500 bis 9.000 Kernwaffen. Zwar hat die Obama-Regierung vor kurzem als offizielle Zahl 5.100 angegeben, dabei jedoch mehrere tausend Sprengköpfe nicht eingerechnet, die zwar auf ihre Zerlegung warten, aber dennoch innerhalb relativ kurzer Zeit einsatzfähig gemacht werden könnten. Rußland verfügt etwa über die gleiche Anzahl startbereiter Atomwaffen, hat aber viel mehr ausrangierte Sprengköpfe auf Lager. Über jenes Ungleichgewicht regt sich bei uns bekanntlich die republikanische Opposition im Kongreß auf. Man darf aber nicht vergessen, daß es sich bei den meisten überschüssigen russischen Nuklearsprengköpfen um taktische Atomwaffen handelt, die ursprünglich für den Gebrauch auf dem Gefechtsfeld gedacht waren, und weniger um strategische, die per Bomber oder Interkontinentalrakete auf die USA abgefeuert werden könnten.

Bei den nuklearen Abrüstungsverhandlungen zwischen Moskau und Washington hat man sich ohnehin seit den Tagen Richard Nixons und Leonid Breschnews auf die strategischen Atomwaffen und ihre Trägersysteme - land- und seegestützte Interkontinentalraketen sowie Langstreckenbomber - konzentriert und sich stets um eine Reduzierung und einen Kräfteausgleich in diesem Bereich bemüht. Die Fixierung auf die Trägersysteme hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß heute beide Seiten auf größeren Mengen an überschüssigen Sprengköpfen sitzen.

Man muß sich folgendes vor Augen führen: 1984, als General Lee Butler Generalinspekteur des Strategic Air Command [SAC: amerikanische Nuklearstreitkräfte - Anm. d. SB-Red.] wurde, verfügten die USA und Rußland zusammen über 60.000 bis 70.000 Atomwaffen. Auf amerikanischer Seite waren 12.000 Atomwaffen sofort einsatzbereit. Der Operationsplan des SAC war so dick wie ein Telefonbuch. Später berichtete Butler, daß er sich einmal vorgenommen hatte, den 200seitigen Plan von Anfang bis Ende durchzulesen. Dabei wäre er auf die skurrilsten Aussagen gestoßen. Zum Beispiel daß die US-Kriegsplaner in Ermangelung ausreichender Ziele für ihre gesamten Atomsprengköpfe kleine Brücken in Osteuropa auf die Zielliste gesetzt hätten. Das ist, als ob man mit Kanonen auf Spatzen schießt, und belegt nur den ganzen Irrsinn der nuklearen Kriegsplanung. Bezeichnenderweise wurde Butler nachher ein energischer Verfechter der kompletten Abschaffung aller Kernwaffen.

SB: Inwieweit hat die janusköpfige Kernwaffenpolitik der USA in Bezug auf Irak, Iran, Nordkorea, Libyen sowie Indien und Pakistan in den letzten Jahren den Kampf gegen die Verbreitung solcher Waffen unterminiert und das Ansehen des Atomwaffensperrvertrags beschädigt?

Starr: Das Hauptproblem besteht darin, daß Atomwaffen nach wie vor der wichtigste Eckstein der nationalen Sicherheitsdoktrin aller fünf ständigen Mitgliedsländer des UN-Sicherheitsrats sind. Einige Schaubilder, die ich heute im Vortrag gezeigt habe, entstammten dem Lehrmaterial für Launch Officers der US-Luftwaffe, welche im Notfall die amerikanischen Interkontinentalraketen abfeuern sollen. In diesen Unterlagen steht es schwarz auf weiß, daß die nukleare Abschreckung die letzte Garantie der Freiheit der USA als Nation ist. Man kann nicht solche Waffen zum unerläßlichen Teil der eigenen Landesverteidigung erklären und sie gleichzeitig anderen vorenthalten, ohne als Heuchler dazustehen. Ich halte diese Position deshalb für einen schweren Fehler.

Noch zur Amtszeit von US-Präsident John F. Kennedy standen 20 bis 30 Staaten davor, innerhalb absehbarer Zeit Atommächte zu werden. Diesen Schritt hat man 1968 durch die Einrichtung des Nichtverbreitungsvertrags, der ursprünglich Abrüstungs- und Nichtverbreitungsvertrag hätte heißen sollen, verhindert. Doch mehr als 40 Jahre später macht sich unter den Nicht-Atomstaaten Unzufriedenheit breit. Das weiß ich aus meiner Teilnahme an den Überprüfungskonferenzen zum Nichtverbreitungsvertrag. Den offiziellen Atommächten wird vorgeworfen, sie kämen ihren Verpflichtungen, nämlich der vollständigen Beseitigung ihrer Kernwaffenarsenale, nicht nach. Ich mache mir Sorgen, daß in den kommenden Jahren immer mehr Länder dem Beispiel Nordkoreas folgen, sich vom Atomwaffensperrvertrag abwenden und Kernwaffen zulegen werden. Deshalb halte ich die vorhin erwähnte Nuclear Weapons Convention für sehr wichtig.

SB: Ende Juli kam es zu einer Kontroverse um die christliche Indoktrination derjenigen bei der US-Luftwaffe, die für die Kernwaffen verantwortlich sind. Inwieweit sind sich Ihrer Meinung nach solche Offiziere überhaupt klar darüber, welche verheerenden Auswirkungen die von ihnen eventuell eingesetzten Atombomben haben können?

Starr: Ich habe über den Skandal gelesen. Der hat mich auch deshalb interessiert, weil einige der Schaubilder, die ich in meinem Vortrag verwende, ursprünglich aus dem Lehrmaterial für solche Raketenoffiziere stammen. Übrigens, die umstrittene Vorlesung bezeichneten die Offiziersanwärter selbst als die "'Jesus loves nukes' lecture".

SB: Wurde nicht Wernher von Braun in besagter Vorlesung ebenfalls als Zeuge für die moralische Überlegenheit der US-Atomwaffen herangezogen?

Starr: Diese Offiziere sitzen - in Schichten wohlgemerkt - paarweise rund um die Uhr in unterirdischen Bunkern vor bestimmten Konsolen. Von dort aus können sie nach der Eingabe der entsprechenden Codes jeweils bis zu 50 Interkontinentalraketen abfeuern. Folglich werden dort nur Offiziere eingesetzt, von denen die Vorgesetzten hundertprozentig überzeugt sind, daß sie nach Erhalt des entsprechenden Befehls ihn auch ohne Zögern ausführen werden. Deswegen legt man großen Wert auf die Ausbildung. Bei der fraglichen Vorlesung ging es um den Beweis, warum der Einsatz von Atomwaffen mit der christlichen Lehre vom gerechten Krieg vereinbar und damit in Jesus' Sinne sein soll.

SB: Lenken wir das Augenmerk von den Militärs auf die Politiker, die den Befehl zum Einsatz von Atomwaffen erteilen könnten. Haben Sie als jemand, der vor dem Kongreß ausgesagt hat, den Eindruck, daß sich die Verantwortlichen in Washington über die möglichen Folgen eines Atomkrieges ausreichend informiert haben?

Starr: Wenn man mit ihnen redet, stimmen sie einem zu, daß Atomwaffen enorme Zerstörungen anrichten können. Ich glaube aber nicht, daß sie allzu viel von den Studien über die möglichen Auswirkungen auf das Weltklima mitbekommen haben. Es ist doch kein Zufall, daß man bis heute in keinem der fünf offiziellen Atomstaaten eine Studie über die möglichen Umweltfolgen eines nuklearen Krieges durchgeführt hat! Aus zwei Gründen besteht unter den zuständigen Politikern und Militärs eine Abneigung gegenüber einer allzu tiefen Diskussion über das Thema: Erstens wollen sie gar nicht wissen, wie schlimm ein nuklearer Schlagabtausch ausfallen könnte. Zweitens sind Atomwaffen ungeheure Machtmittel, auf die niemand verzichten möchte, sobald er sie hat. Dazu kommt, daß die Wirkung von Atomwaffen für die allermeisten Politiker sehr abstrakt bleibt. Praktisch niemand von ihnen hat eine nukleare Detonation gesehen oder einem Atomtest beigewohnt. Deshalb verwende ich recht drastische Bilder während meines Vortrags, um dem Publikum einen Eindruck zu vermitteln, womit man es hier in Wirklichkeit zu tun hat.

SB: Steven Starr, wir bedanken uns für das Gespräch.


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Neben den Interviews mit Teilnehmern der Konferenz "Severe Atmospheric Aerosol Events" finden Sie unsere fortgesetzte Berichterstattung über die Veranstaltung unter UMWELT, REPORT, BERICHT.

Steven Starr im Gespräch mit SB-Redakteur - Foto: © 2011 by Schattenblick

Steven Starr im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

1. September 2011