Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT


BERICHT/127: Botanik 2017 - Agrarpfründe, Agrarsünde ... (SB)



Die Gräser, die am Ursprung der landwirtschaftlichen Entwicklung standen, waren gewiß nicht dafür ausgelegt, so viele Menschen zu ernähren wie heute. Durch Züchtung und Weiterentwicklung der Anbaumethoden wurden zwar die Erträge enorm gesteigert, die generelle Nahrungsnot indes besteht noch heute. Zugleich hat sich der Mensch in Abhängigkeiten manövriert, die mit enormen Unsicherheiten verbunden sind. Die Zahl der weltweit Hungernden bewegt sich seit vielen Jahrzehnten im hohen dreistelligen Millionenbereich und ist im Zeitraum 2015, 2016 um 38 Mio. auf 815 Mio. emporgeschnellt. Nimmt man noch die mindestens 1,2 Milliarden mangelernährten Menschen hinzu, so hat über ein Viertel der Menschheit nicht genügend zu essen bzw. keine mit Nährstoffen ausreichend versehene Nahrung zur Verfügung.

Jedoch scheint man sich in Politik, Wissenschaft, UN-Administration und Zivilgesellschaft weitgehend einig darin zu sein, daß heute schon eigentlich genügend Nahrungsmittel produziert werden, um sogar zehn bis zwölf Milliarden Menschen ernähren zu können. Kein Mensch bräuchte Hunger zu leiden, wenn nur eine "Umverteilung" der Nahrung vorgenommen würde. Mit dieser These wird der beschönigende Eindruck erweckt, das Problem sei ausreichend erkannt und, wenngleich noch nicht gebannt, so doch unter den gegebenen agrarischen Voraussetzungen lösbar.


Beim Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Dr. Andreas Graner
Foto: © 2017 by Schattenblick

Damit auch in Zukunft genügend Nahrungsmittel produziert werden, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, sei laut der FAO bis Mitte des Jahrhundert ein jährlicher Produktionszuwachs von ein Prozent erforderlich, berichtete am 18. September 2017 der Pflanzengenetiker Prof. Dr. Andreas Graner bei seinem öffentlichen Vortrag mit dem Titel "Können wir mit unseren Nutzpflanzen in 20 Jahren noch die Welt ernähren?" auf der Botanikertagung 2017 an der Christian-Albrechts-Universität (CAU) zu Kiel.

Der geschäftsführende Direktor und Leiter der Abteilung Genbank am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben hat seinen Vortrag in vier Teile gegliedert, die er zur Beantwortung der Frage nach der zukünftigen Welternährung für relevant hält: Bevölkerungsentwicklung und Nahrungsmittelproduktion, Produktionsfaktor Ackerland, zukünftiger Bedarf an Nahrungsmitteln, Pflanzenzüchtung und Ertragsfortschritt.

Selbst zur Zeitenwende, als auf der Erde nur 200 Mio. Menschen lebten, sei deren ökologischer Fußabdruck zu erkennen gewesen, sagte Graner. Diese vergleichsweise wenigen Menschen hätten schon manchen Großsäuger ausgerottet. Heute gebe es fast 7,5 Milliarden Menschen, die ernährt werden wollen, da sei der Druck auf die Ökosysteme noch viel größer, um Nahrung für die wachsende Weltbevölkerung zu produzieren.

In den 1960er Jahren fand eine Grüne Revolution statt, in der die landwirtschaftliche Produktivität mit dem Bevölkerungswachstum mithalten konnte. Jahr für Jahr stiegen die Flächenerträge um durchschnittlich 2,3 Prozent. Dennoch konstatierte der Referent: "Trotz der großen Erfolge der Grünen Revolution hat sich in Sachen Hunger eigentlich nicht wirklich Überzeugendes getan." Außerdem hat sich die Grüne Revolution auf wenige Arten - Weizen, Reis und Mais - beschränkt und deren Erträge gesteigert.

Die hohen Produktionszahlen der Grünen Revolution konnten nicht auf Dauer gesichert werden. Seit etwa 1995 werden pro Jahr nur noch rund ein Prozent mehr Erträge eingefahren. Unter bestimmten Voraussetzungen könnte das allerdings genügen, um die wachsende Zahl an Menschen bis Mitte des Jahrhunderts zu ernähren, so Graner. Hierfür legte er Zahlen der FAO zugrunde, laut denen bis zum Jahr 2050 49 Prozent mehr Nahrung als heute produziert werden muß. Zugleich warnte er, daß es auf eine jährliche Fortschreibung jener einprozentigen Produktivitätszunahme keine Garantie gibt. Man könne aus der Vergangenheit nicht herleiten, daß dieser Trend ein Selbstgänger ist. Ohne weitere Innovationen sei das auf keinen Fall zu schaffen. "Das Fortschreiben von Ertragszuwachs ist kein automatischer Prozeß, sondern es erfordert ständig neue Inputs."

Der Pflanzengenetiker machte in seinem Vortrag auf einige Unwägbarkeiten aufmerksam, die sich negativ auf die Produktivität auswirken könnten. Von den 269.000 bekannten Blütenpflanzen gelten ca. 7.000 als Nutzpflanzen. Die Welternährung beruht zu 95 Prozent auf 82 Pflanzen. Doch mit nur zwei Pflanzen - Weizen und Reis - werden 37 Prozent der weltweit konsumierten Kalorien erzeugt. Nimmt man noch die Nutzpflanze Mais hinzu, "bestreiten wir zu 50 Prozent unserer Nahrung mit nur drei verschiedenen Pflanzensorten". Das berge Risiken. Man müsse sich fragen, auf welche Pflanzensorten man in Zukunft setzen wolle.

Eine Mobilisierung weiterer Agrarflächen zwecks Steigerung der Getreideerträge sei in den entwickelten Ländern kaum mehr möglich, sondern nur noch in den Entwicklungsländern, vor allem in den Subsaharastaaten. Allerdings gebe es gerade dort auch beachtliche Verluste an Land unter anderem aufgrund von Landflucht. Die Menschen flüchten in die Städte, die sich immer mehr ins Umland ausbreiten und dort ausgerechnet die fruchtbarsten Böden bebauen. Des weiteren werden Nutzungskonflikte in Zukunft nicht behoben, das heißt, Ackerland wird zunehmend zum Anbau von Pflanzen für die Treibstoffgewinnung und für Viehfutter belegt. Ein weiterer Negativfaktor, der eine Erweiterung der Agrarfläche begrenzt, ist laut Graner der Klimawandel.

Durch eine Veränderung der Konsumgewohnheiten hin zu einem höheren Fleischanteil in der Nahrung wird der Druck auf die Agrarflächen ebenfalls erhöht. Denn um ein Kilogramm Rindfleisch herzustellen, werden sieben Kilogramm Weizen benötigt. Selbst beim Huhn übersteigt der Verbrauch an pflanzlicher Nahrung den Gewinn an dadurch produzierter tierischer Nahrung um das Doppelte. Eine Veränderung der Eßgewohnheiten vor allem in China könnte die Produktivitätszuwächse sprichwörtlich aufzehren. Dort war der Fleischverzehr von 8 Mio. t im Jahr 1978 auf 71 Mio. t in 2012 gestiegen. [1]

In den Industriestaaten werden 30 Prozent der Lebensmittel in den Haushalten oder im Lebensmittelhandel weggeworfen, wohingegen die Verluste in den Entwicklungsländern eher bei der Nachernte auftreten. Beides gelte es zu vermeiden, um das von der FAO ausgewiesene Ziel der Ertragssteigerung von Getreide um 49 Prozent bis 2050 zu erreichen, führte der Referent aus. Weitere Verluste entständen aufgrund der Qualitätsstandards der Europäischen Union für Lebensmittel. Wegen der hohen Ansprüche würden zu viele Lebensmittel vernichtet. Damit ginge auch das Wasser verloren, mit dem diese produziert worden seien.

Ertragsfortschritte durch Pflanzenzüchtung zu erzielen, hält Graner für durchaus möglich. Wobei er auf innovative Techniken setzt und der - gesellschaftlich umstrittenen - grünen Gentechnik ein großes Potential zuschreibt, um die Erträge durch Nutzpflanzen zu verbessern. Vorteile seien "keine langwierigen Rückkreuzungen", keine Allele (Ausprägungsformen) aus der Wildform, keine Kreuzungsbarrieren und die Erzeugung neuer Eigenschaften. Trotz der optimistischen Tendenz in Graners Vortrag blieben die züchterischen Probleme nicht unerwähnt. Die Züchtung einer neuen Nutzpflanzensorte dauert 10 bis 15 Jahre. Das bedeutet, daß die Pflanze dann mindestens zehn Prozent ertragreicher sein muß. Das zu schaffen bezeichnete er als große Herausforderung.

Summa summarum ist für den Referenten Hunger "eher ein Verteilungsproblem und ein Problem des Lebens in Risikoregionen und Kriegsgebieten und nicht unbedingt eines der Produktion und des Angebots".


Referent hinter Stehpult auf einer großen Bühne - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wir bestreiten zu 50 Prozent unserer Nahrung mit nur drei verschiedenen Pflanzensorten.
(Prof. Andreas Graner, 18.9.2017, Kiel)
Foto: © 2017 by Schattenblick

Andere Fragestellungen zum Thema Hunger als die von Graner gewählten wären durchaus vorstellbar gewesen. Beispielsweise hätte man erörtern können, ob denn das gegenwärtig vorherrschende marktwirtschaftliche System überhaupt dafür geeignet oder auch nur darauf ausgerichtet ist, den Hunger in der Welt zu beheben. Zwar wollen die miteinander konkurrierenden Agrounternehmen immer größere Marktanteile erringen, doch die Hungernden sind so mittellos, daß sie gar nicht am Markt teilnehmen. In der Sprache der Ökonomie bedeutet das, daß sie von vornherein nicht als Nachfragefaktor gezählt werden. Folglich wird auch kein nach Profiten strebendes Agrounternehmen ohne Gegenleistung etwas produzieren, das den Hungernden zugute kommt, oder aber es müßte über kurz oder lang Konkurs anmelden.

Für sich genommen wird die Marktwirtschaft die Nahrungsnot in der Welt nicht beheben. Sie braucht den Mangel geradezu, denn nur wenn eine Ware knapp ist, also nicht jederzeit jeder und jedem frei zur Verfügung steht, hat sie einen Wert. Vor diesem Hintergrund erweisen sich Behauptungen, wie sie manchmal seitens der Agrokonzerne aufgestellt werden, sie seien unverzichtbar im Kampf gegen den Hunger, als bloßes Versprechen.

Man könnte an dieser Stelle einwenden, daß jenseits der Regelung durch das Marktgeschehen die Staaten für die vollkommen mittellosen Menschen zuständig sind, regulierend einspringen und die Lücken füllen. Gegen dieses Argument spricht allerdings die Praxis. Seit langem betreiben globale Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank und die hinter ihnen stehenden Geldgeber eine Politik der Deregulierung und Liberalisierung. Eine staatliche Versorgung von Teilen der Bevölkerung ist nicht erwünscht. Es gilt als Ausdruck guter Regierungsführung, wenn die ärmeren Länder ihre Handelsschranken senken und den kapitalstarken Marktakteuren Tür und Tor öffnen. Umgekehrt werden die Regierungen der Länder des Trikonts, die beispielsweise Grundnahrungsmittel subventionieren, aufgefordert und mitunter ziemlich unter Druck gesetzt, ihre Subventionen zu streichen.

Dafür ist Malawi ein Beispiel. Nach einer schweren Mißernte 2005 und einer Hungersnot als Folge hatte die Regierung Kunstdünger subventioniert, auch wenn dafür bis zu einem Viertel der Staatseinnahmen aufgewendet werden mußte. Die Weltbank und Geberländer kritisierten das Vorgehen scharf. Anstatt die Regierung zu unterstützen, ging man auf Distanz. Die Kunstdüngersubventionen waren ein voller Erfolg. Nicht nur daß die Hungersnot beendet wurde, Malawi erzielte im Maisanbau sogar Überschüsse, die exportiert werden konnten. Damit hat sich das Land nicht von allen Sorgen befreit, aber den hungernden Menschen war geholfen. [2]

Lebensmittelkonzerne wie Nestle haben zwar inzwischen die Armen zum Beispiel in den Slums afrikanischer Großstädte als Zielgruppe erkannt und verkaufen dort Kleinstportionen an jene, die sich hin und wieder eine Tütensuppe oder ähnliches leisten können. Aber wer nicht einmal ein, zwei Euro am Tag zur Verfügung hat, geht leer aus. Verschenkt wird da nichts. Kurzum, an den Armen kann ein Konzern noch verdienen, aber die Beseitigung des Hungers ist kein Geschäftsmodell.

Theoretisch sollten Staaten ausreichend Finanzmittel zur Verfügung haben oder von den Geberländern zur Verfügung gestellt bekommen, damit sie Getreide kaufen und es an die Hungernden verteilen. Wenn irgendetwas an der Behauptung dran wäre, daß die Vergesellschaftung zum allseitigen Nutzen der Beteiligten ist, sollte es eigentlich kaum etwas Wichtigeres geben, als dafür zu sorgen, daß alle Menschen satt werden. Die anhaltend extrem hohen Hungerzahlen sprechen eine andere Sprache und können als starkes Indiz dafür gewertet werden, daß die Regierungen ihrer Verpflichtung nicht nachkommen wollen oder mangels Getreide nicht nachkommen können.

Mit "Umverteilung der Nahrungsmittel" sind selbstverständlich verschiedene Maßnahmen gemeint, doch klingt der Begriff so, als wenn der globale Hunger lediglich über eine andere Verteilung vorhandener Nahrungsmittel zu beenden wäre und es sich letztendlich um ein Logistikproblem handelt. Logistik ist aber kein Problem. Nach Angaben der Welthandelsorganisation WTO sind global rund 250 Millionen Container im Einsatz. Das Frachtvolumen des Welthandels lag im Jahr 2010 bei 70.894 Billionen Tonnen-Kilometer. Die Maßeinheit bedeutet, daß eine Tonne (einer beliebigen Ware) einen Kilometer weit transportiert wird. Mitte dieses Jahrhunderts wird der Wert auf voraussichtlich 307.615 Billionen Tonnen-Kilometer steigen. Angesichts dieser logistischen Dauerleistung soll es hauptsächlich ein Verteilungsproblem sein, daß bei den Hungernden nicht genügend Nahrung ankommt?

Nach Berechnungen der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung im Jahr 2050 zwischen 8,7 und 10,8 Milliarden liegen. Wenn es um das Problem des Hungers und die existentielle Frage geht, wie dieser heute und in Zukunft gestillt werden kann, scheinen Offenlassungen, Widersprüche und Verkennungen den Diskurs zu bestimmen. Ein weiteres Beispiel: Wenn bereits heute zehn Milliarden Menschen ernährt werden könnten, warum berechnet dann die FAO die Notwendigkeit zur Produktivitätssteigerung bis 2050 um rund 50 Prozent? Warum so viel mehr Nahrung produzieren, als eigenen Angaben zufolge gebraucht wird?

Man kann den Widerspruch auch von einer anderen Seite her beleuchten: Sollte es gelingen, die globale Erntemenge zu steigern, für wen ist sie dann? Wer profitiert davon? Sicherlich nicht die Hungernden, denn die könnte man ja angeblich schon heute ausreichend ernähren. Es müßte sich demnach etwas ganz anderes ändern als lediglich die Produktivität. Warum also sollten die Hungernden von heute annehmen, daß ihnen eine Steigerung der Ernteerträge zugute kommen wird?

Nur einmal angenommen, es würde tatsächlich genügend Nahrung für alle produziert. Bedeutete das dann nicht, daß die Vergesellschaftung des Menschen gescheitert ist? Müßte man dann nicht über vollkommen andere Formen der Produktivität, des menschlichen Zusammenlebens und der Eigentumsordnung nachdenken, so daß die Voraussetzungen der Hungerentstehung in Angriff genommen werden?

Daß mehr als jeder vierte Mensch nicht genügend Nahrung zur Verfügung hat, läßt sich nicht mehr als Lücke im System interpretieren. Das ist das System. Wobei mit diesem technischen Begriff die doch recht handfesten Interessen verschleiert werden, die auf die Wahrung des eigenen Vorteils gegenüber dem anderen ausgerichtet sind. Diese in der Gegenseitigkeit gegründete soziale Matrix zu hinterfragen, erscheint natürlich viel aussichtsloser als die Vorstellung, eine angeblich genügend große Erntemenge anders verteilen zu müssen.

Der Schattenblick setzt die Berichterstattung zu der öffentlichen Abendveranstaltung auf der Botanikertagung 2017 in Kiel mit weiteren Beiträgen fort.


Referent vor Projektion eines hohen, eisbedeckten Berges und der Überschrift 'Nahrungsmittelsicherheit: dünne Luft' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Das Fortschreiben von Ertragszuwachs ist kein automatischer Prozeß, sondern es erfordert ständig neue Inputs.
(Prof. Andreas Graner, 18.9.2017, Kiel)
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Die chinesische Regierung versucht, dem Fleischkonsum einen Riegel vorzuschieben, und hat im vergangenen Jahr neue Ernährungsrichtlinien herausgegeben. Der Fleischkonsum soll halbiert werden. 1982 hat ein Chinese durchschnittlich 13 kg Fleisch im Jahr verzehrt, heute sind es 63 kg. Allerdings wurde von Peking bereits im Jahr 2007 eine entsprechende Initiative zum Verzicht auf Fleisch gestartet, ohne daß sie etwas gebracht hatte.
https://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/china-fleischkonsum

[2] https://www.evangelisch.de/inhalte/99549/21-04-2010/malawi-erfolgreich-gegen-hunger-und-gegen-die-weltbank

23. September 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang