Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT


BERICHT/109: Fukushima - eines Besseren belehrt ... (SB)


Krisenmanagement - Lehren aus der Dreifachkatastrophe im März 2011

Vortrag zur Fukushima-Krise von Premierminister a.D. Naoto Kan am 13. Oktober 2015 in der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin


Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Am 11. März 2011 um 14:46 Uhr wackelte im japanischen Parlamentsgebäude in Tokio der Kronleuchter, der schwer von der Decke hing. Der damalige Premierminister Naoto Kan hielt sich an den Armlehnen seines Stuhls fest, starrte auf den Kronleuchter und fragte sich, was wohl passieren würde, wenn das monströse Ding hinunterfallen würde. Kurz danach wurde die Sitzung unterbrochen, und Naoto Kan eilte ins Premierministeramt zum ad hoc eingerichteten Krisenzentrum.

Was er dort erfuhr sollte sich in den Tagen darauf zu einem der schwersten Unglücke der jüngeren Geschichte ausweiten - nicht nur der japanischen Geschichte, sondern der der gesamten Weltbevölkerung: Vor der japanischen Küste hatte sich ein schweres Erdbeben ereignet. Dieses Erdbeben sollte später einen Tsunami auslösen, und beides zusammen eines der 54 Atomkraftwerke des Landes havarieren lassen. Doch als der Krisenstab an diesem 11. März erstmalig zusammen kam, waren Tsunami und Atomunglück noch nicht eingetroffen.

Viereinhalb Jahre später berichtet Naoto Kan in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin detailliert von den Ereignissen rund um das havarierte Atomkraftwerk Daiichi in der japanischen Präfektur Fukushima und davon, wie es sich anfühlte, "Premierminister während der Fukushima-Krise" gewesen zu sein. Anlass war die deutsche Erstveröffentlichung seines gleichnamigen Buches, das bereits Ende 2012 auf japanisch erschienen war. Der deutschen Ausgabe hatte Naoto Kan ein aktuelles Vor- und Nachwort beigefügt, um die Besonderheiten der Atompolitik seines Landes und die aktuelle Situation der Atomkraft in Japan zu erläutern. In der Böll-Stiftung fasste er die Ereignisse noch einmal zusammen, erläuterte die Herausforderungen, vor denen er als Premierminister gestanden hatte und berichtete, welche Schlussfolgerungen er für sich aus der Fukushima-Krise gezogen hat.

Das Krisenzentrum, in das sich der Premierminister am 11. März begeben hatte, erreichte kurze Zeit später die Nachricht, dass das Erdbeben einen Tsunami ausgelöst hatte, der auf die Sanriku-Küste einbrach. Dort befand sich das Atomkraftwerk Daichii mit sechs Reaktorblöcken. Drei der Reaktoren waren in Betrieb, die Blöcke 4 bis 6 waren wegen einer routinemäßigen Inspektion abgeschaltet. Um 16:45 teilte das Energieunternehmen TEPCO als Betreiber des Atomkraftwerkes mit, dass die Notkühlsysteme der Reaktoren 1 und 2 ausgefallen seien. Als Naoto Kan davon erfuhr, erschauerte er, wie er in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin erzählte: "Ich bin kein Atomexperte. Aber ich habe Physik studiert und wusste, dass es auch nach Abschaltung der Atomanlage zu einer Kernschmelze führen würde, wenn die Kühlung nicht aufrechterhalten würde." Der Premierminister sah sich gezwungen, den atomaren Notstand auszurufen.

Japanische Politiker, die es bis in hohe Führungspositionen schaffen, entstammen in der Regel Generationen von Politikerfamilien. Nicht so Naoto Kan. Er war der erste in seiner Familie, der in die Politik ging. Zunächst jedoch war er in der Studentenbewegung aktiv, ging zu Protestveranstaltungen gegen Atomkraft und für den Frieden und schloss sich später sozialistischen Gruppen an. Seine politische Laufbahn begann schließlich als Leiter des Wahlkampfbüros von Fusae Ichikawa, einer bekannten Feministin und Vorkämpferin für das Frauenwahlrecht. 1967 und 1977 scheiterte er daran, selbst ins Parlament einzuziehen. Noch zwei Jahre später gründete er den Sozialdemokratischen Bund und wurde dessen Vize-Vorsitzender. Von da an arbeitete er sich weiter hoch und gelangte Mitte der neunziger Jahre durch eine Koalition mit der Neuen Partei Sakigake und der langjährig regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) an den Posten des Gesundheitsministers. In dieser Zeit deckte er einen Skandal um HIV-verseuchte Blutkonserven auf, in das Chemiekonzerne und Ministerialbeamte verwickelt waren. Kans Popularität stieg, und schließlich gründete er 1996 die Demokratische Partei als neue Oppositionskraft, als deren Vorsitzender er im Juni 2010 zum Premierminister gewählt wurde.

"Vor Fukushima dachte ich: Japan ist sicher", erzählt Naoto Kan auf dem Podium in Berlin. "Ich habe zu Vertretern anderer Länder gesagt: Kauft unsere AKW-Technologie, denn sie ist sicher." Heute wisse er, er sei den Sicherheitsmythen des Atomdorfes zum Opfer gefallen, wie ein Großteil der japanischen Gesellschaft. Das "Atomdorf" umschreibt die enge Verbindung von Atomindustrie, Politik, Medien und anderen Stakeholdern in Japan. Sylvia Kotting-Uhl, atompolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, die eingangs eine kurze Ansprache auf der Veranstaltung in Berlin hielt, sagte: "Jedes Land hat so etwas wie das atomare Dorf in Japan, aber nirgends ist es so stark ausgeprägt." Kan malte im Laufe seines Vortrags aus, wie die großen Energieunternehmen in Japan mit viel Geld Lobbyarbeit betreiben, wie Regierungsbeamte daraufhin Aufträge an sie vergeben, die überteuert sind, wie mit den Mehreinnahmen wiederum Lobbyarbeit betrieben werden kann. Es sei außerdem nicht ungewöhnlich, dass Beamte nach ihrer Laufbahn im Politikbetrieb Posten in Unternehmen erhalten. Die Medien wiederum gäben offizielle Verlautbarungen der Energieunternehmen wieder, die nicht immer ganz der Wahrheit entsprächen, wie dies im Fall Fukushima der Fall gewesen sei.

Er habe, sagt er im Rückblick, sich früher ähnlich verhalten wie der aktuelle Premierminister Shinzo Abe heute. Dieser allerdings hält auch nach Fukushima noch an der Atomkraft fest - darin zumindest unterscheiden sich Kan und Abe.

Weil niemand mit einem Atomunglück rechnete, war Japan darauf auch nicht vorbereitet, berichtet Kan. Der Leiter der Atomaufsichtsbehörde habe keine Ahnung von Atomkraft gehabt, sondern sei Ökonom gewesen. Das Atomunfallgesetz von 1999 schrieb vor, dass es in der Nähe jeden Atomkraftwerkes eine lokale Notfalleinrichtung geben müsse. Die gab es auch in Fukushima, aber Ost-Japan befand sich in einem Ausnahmezustand: Der Strom war ausgefallen, die Kommunikationsleitungen unterbrochen und die Straßen zerstört. So konnte man die Notfalleinrichtung kaum erreichen: weder telefonisch noch physisch.

Das Schlimmste, so Kan, sei die Unsicherheit gewesen, wie sich die Atomkatastrophe entwickeln und was noch alles passieren würde. Die größte Sorge bereitete ihm die Kühlung. Sollte diese versagen, die Kernreaktoren außer Kontrolle geraten und die Reaktoren sowie die Brennstäbe in allen Auffangbecken abschmilzen, dann müsste ein riesiges Gebiet sofort evakuiert werden. Kan schätzte, dass selbst Tokio betroffen wäre. Damit müssten 50 Millionen Menschen umgesiedelt werden. Das wäre mehr als ein Drittel der 127 Millionen Einwohner des Landes.

"Europa steht gerade vor der Aufgabe, eine Vielzahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Das ist nicht leicht. Aber was würden Sie tun, wenn Sie 50 Millionen Menschen evakuieren müssten?" fragte Kan in Berlin. Wäre dieser Fall in seinem Land eingetroffen, "Japan wäre funktionsunfähig", glaubte Kan. Eine Evakuierung so großen Ausmaßes umzusetzen, ohne eine Massenpanik auszulösen, schien ihm fast unmöglich. So beauftragte er zunächst den Vorsitzenden der Atomenergiekommission, ein Szenario zu entwickeln, was tatsächlich passieren würde, wenn die Kühlung nicht aufrecht erhalten werden könnte. Die Ergebnisse erleichterten ihn nicht: Sie kamen seinen Annahmen ziemlich nahe.

Kan war klar: Verhindern ließe sich das Szenario nur mit dem Einsatz vieler Menschen an der Unfallursache selbst, die letztlich auch ihr Leben riskieren müssten. "Bis zum 2. Weltkrieg wurde es in Japan als selbstverständlich erachtet, für das Land zu sterben", heißt es in Kans Buch. Nach dem Krieg habe sich die Stimmung in Japan gewandelt. Von da an hieß es: "Ein Leben wiegt schwerer als die Welt". Angesichts der Fukushima-Krise sah sich Kan mit der Gewissensfrage konfrontiert, ob der Satz in diesem Fall noch gelten könne. "Darf man weglaufen, weil es lebensgefährlich wird?" Kan kam zu dem Schluss: Als Politiker müsse er die Gesellschaft vor großen Unglücken bewahren. Damit das gelingt, müssten auch die Bürger ihrer Verantwortung gerecht werden. "Mit Bezug auf den Atomunfall muss sodann erwartet werden, dass sich die betreffenden TEPCO-Mitarbeiter in ihren jeweiligen Positionen der Verantwortung stellen."

Im Großen und Ganzen taten sie das. Als stiller Held erscheint in Kans Rede wie auch seinem Buch immer wieder der Werksleiter des AKW Daiichi Masao Yoshida. Dieser hatte die Werksfeuerwehr eingesetzt, um die Reaktoren mit Meerwasser zu kühlen - obwohl er sich damit Befehlen von TEPCO widersetzte. Ihm soll es zu verdanken sein, dass die Kühlung aufrechterhalten werden und die Katastrophe eingegrenzt werden konnte. Masao Yoshida starb im Juli 2013 im Alter von 58 Jahren an Speiseröhrenkrebs. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Art von Krebs im Zusammenhang mit der Strahlenbelastung am Unglücksort steht, und doch wirkt es wie die Erfüllung von Kans Prophezeiung.

Nicht zuletzt durch Yoshidas Einsatz konnte letztlich das Schlimmste anzunehmende Szenario, 50 Millionen Menschen evakuieren zu müssen, schließlich verhindert werden. "Es war kein Erfolg des Krisenmanagements, sondern ein Glücksfall", sagt Kan heute. Und noch heute können mehr als 100.000 Menschen nicht in ihre Häuser zurück, und Meerwasser und Boden vor Ort sind noch immer mit Strahlen belastet. Lebensmittel aus der Gegend werden auf ihre Belastung überprüft. Wenn sie die offiziellen Grenzwerte überschreiten, werden sie vom Markt genommen. Aus dem Meer werde soweit es geht Plutonium herausgezogen, so Kan.

In seinem Buch schreibt Kan, dass die Verbreitung von Atomwaffen ausschlaggebend für ihn war, in die Politik zu gehen. Die Entwicklung von Atomwaffen sei ein Widerspruch in sich, "so als wenn die Mäuse eine Mausefalle konstruieren würden". Er sah es immer als Aufgabe der Politik an, diese Mausefalle zu kontrollieren. Dass Atomkraft kaum kontrollierbar ist, hat ihn Fukushima gelehrt. Auch wenn er zwar immer skeptisch gegenüber Atomenergie war, so hat er doch an die Sicherheit der japanischen Reaktoren geglaubt. Nach dem Unglück aber vollzog Kan eine 180-Grad-Wende und entwickelte sich zu einem überzeugten Atomkraftgegner. Als Premierminister verabschiedete er ein Erneuerbare-Energien-Gesetz nach deutschem Vorbild, und seit er abgewählt wurde, bereist er die ganze Welt, um vor dieser Form der Energieerzeugung zu warnen. Als im August 2015 das erste japanische Atomkraftwerk nach der Katastrophe wieder ans Netz angeschlossen wurde, beteiligte er sich vor Ort an einer Protestkundgebung.

Die jetzige japanische Regierung will bis 2030 wieder alle Reaktoren ans Netz anschließen. Kan hingegen propagiert den Ausstieg. Auch die Mehrzahl der Bürger ist gegen Atomkraft, an den Gerichten werden Klagen gegen diese Energiegewinnung langsam ernst genommen, und die guten Bedingungen Japans für Sonnen- und Windenergie lassen an der langfristigen Wirtschaftlichkeit von Atomkraft in Japan zweifeln. "Ich denke, dass die Atomkraftwerke in Japan noch in diesem Jahrhundert stillgelegt werden", sagte Kan in Berlin. Das klingt nach Zuversicht, ist für einen Verfechter des sofortigen Ausstiegs aber dennoch eine sehr langfristige Perspektive.


Naoto Kan beim Vortrag auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ein Glücksfall, dass nicht 50 Millionen Menschen evakuiert werden mussten.
(Naoto Kan)
Foto: © 2015 by Schattenblick

19. Oktober 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang