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BERICHT/033: Down to Earth - Megacities, Urbanstreß und Geographen (SB)


32. Weltkongreß der Geographie in Köln

Prof. Surinder Aggarwal zu Problemen und Chancen der
Urbanisierung



Armut und Hunger in der Welt sind eng mit dem Leben auf dem Land verbunden und überwiegend dort zu verorten. Dennoch könnte eine Stadt auf Dauer nicht ohne ihr Umland existieren, das Umland ohne die Stadt hingegen schon. Daß das ursprüngliche und im Prinzip nach wie vor gültige Abhängigkeitsverhältnis in sein Gegenteil verkehrt wurde, geht auf das erfolgreiche Bemühen der Städter zurück, ihre Vorherrschaft durch einen ordnungspolitischen Rahmen mit den entsprechenden militärischen, politischen und rechtlichen Gewaltmitteln abzusichern.

Die ersten Städte in der Zivilisationsgeschichte des Menschen entstanden im Umfeld von Herrschaftshäusern, militärischen Einrichtungen, Kirchen bzw. Klöstern oder auch häufig naturräumlich begünstigten Anlaufstellen und Knotenpunkten des Handels und lassen sich oftmals heute noch als Zentren innerhalb eines weit über die vormaligen Grenzen hinaus ausgedehnten Stadtgebiets identifizieren.

Seit ein, zwei Jahrhunderten nimmt die Weltbevölkerung kräftig zu, in den letzten Jahrzehnten nochmals beschleunigt. Rund sieben Milliarden Menschen leben zur Zeit auf der Erde, bei gleichbleibendem Trend werden es im Jahr 2050 neun Milliarden sein. Wie kaum anders zu erwarten, findet das Bevölkerungswachstum vor allem in den Städten statt. Sie können zu sogenannten Megacities oder auch riesigen urbanen Agglomerationen heranwachsen. Ein älteres Beispiel hierfür ist das Ruhrgebiet, ein jüngeres die Handels- und Finanzmetropole Hongkong mit der nördlich angrenzenden "Werkbank der Welt" Shenzhen.

Vor etwas mehr als 30 Jahren lebten in jener chinesischen Stadt nur 30.000 Menschen, dann erklärte Ministerpräsident Deng Xiaoping das Gebiet zur ersten Sonderwirtschaftszone des Landes. Heute zählt Shenzhen über zwölf Millionen Einwohner. Nicht weit entfernt entstanden weitere Millionenstädte, die wirtschaftlich auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Ein Blick auf die Siedlungsdichte an der südchinesischen Küste läßt ahnen, wie zahlreiche Regionen der Erde in Zukunft aussehen könnten, sollten die Bevölkerungsprognosen zutreffen und sich die Zahl der Menschen im Laufe dieses Jahrhunderts nahezu verdoppeln.

Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Surinder Aggarwal
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Megacities stellen die jeweiligen Administrationen vor "Mega-Herausforderungen", erzeugen ökologische Schäden und treiben die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander. Darüber und über die zu erwartendem Trends sowie seine Hoffnung auf eine harmonische Entwicklung referierte der indische Geograph Prof. Surinder Aggarwal in seiner "Keynote Lecture" (Schlüsselrede) auf dem 32. Weltgeographiekongreß, dem International Geographical Congress (IGC), der vom 26. bis 30. August in Köln stattfand.

Unter dem Titel "Emerging global urban order and challenges for harmonious urban development" (Sich entwickelnde global-urbane Ordnung und Herausforderungen für eine harmonische urbane Entwicklung) hielt der Geograph von der University of Delhi einen überaus faktenreichen Vortrag, den er in vier Fragen gliederte:

1.) Wie verändert sich die urbane Ordnung in Entwicklungsländern?
2.) Welche Probleme bringen diese Veränderungen mit sich?
3.) Wie können die Nachteile in Chancen umgewandelt werden?
4.) Welche Fragen stellen sich der Geographie?

Prof. Aggarwal räumte zunächst einmal mit der verbreiteten Vorstellung auf, daß die Urbanisierung (Verstädterung), die gegenwärtig in den Entwicklungsländern abläuft, einzigartig ist. Sie ginge nicht zum ersten Mal so schnell vonstatten. "Der Kapitalismus, Neokolonialismus und die Liberalisierung" hätten schon in der Vergangenheit Marktkräfte freigesetzt und den Konsum angetrieben, aber dadurch "eine harmonische Entwicklung der Städte" verhindert. In der Folge seien Sprawls (weit ins Umland vordringende Städte) und andere Formen der Stadtentwicklung aufgekommen, wobei die "innovativen Kräfte" nur zum Vorteil weniger Menschen freigesetzt worden seien.

Diese Aussage scheint die Einstellung Prof. Aggarwals, wie sie im Laufe seines Vortrags immer wieder deutlich hervortreten sollte, treffend wiederzugeben: Zwar erkennt er an, daß durch die Urbanisierung große Probleme entstehen, aber für ihn tun sich dabei auch Chancen auf. Er attestiert den Städten und Megacities eine ausgesprochene Innovationsfreudigkeit. Die gelte es zu nutzen, damit dabei keine ökologischen Katastrophenzonen und verarmte Elendsregionen herauskommen. Über die bisherige Entwicklung sei er allerdings "gar nicht glücklich".

Abgesehen von zahlreichen bevölkerungsgeographischen Faktoren, auf die Aggarwal den Schwerpunkt seines Vortrags legte, erörterte er auch ökologische Fragen im Zusammenhang mit der Urbanisierung. So sei die Sterberate aufgrund der Feinstaubbelastung deutlich angestiegen. Zwar sei die Trinkwasserversorgung in vielen Städten dank des informellen Sektors einigermaßen gesichert, doch mit der Entsorgung des Abwassers hapere es vielerorts. Dadurch könnten sich Krankheitskeime ausbreiten, was wiederum die Sterberate erhöhe. An Städten wie Malé, der Hauptstadt des Inselstaats Malediven im Indischen Ozean, würde das Müllproblem deutlich. Der Abfall werde teilweise am Strand gelagert. Im Zuge des Klimawandels (und des zu erwartenden Anstiegs des Meeresspiegel) dürfte sich das Problem noch vergrößern.

Luftbildaufnahme der Stadt, die fast die ganze Insel bedeckt - Foto: Shahee Ilyas, 18.10.2004, CC-BY-SA-3.0-Unportet, Wikimedia Commons

Malé, Hauptstadt der Malediven
Foto: Shahee Ilyas, 18.10.2004, CC-BY-SA-3.0-Unportet, Wikimedia Commons

In gewisser Weise wichtiger als der Begriff "Umwelt" sei für ihn der des "Ökosystems", weil dieser mit vielen Komponenten wie Natur, Lebensstil, Gesundheit, Armut, Wirtschaft, etc. verbunden sei. Deshalb sollte die Forschung mehr Augenmerk auf die urbanen Ökosysteme, die gefährdet sind oder schon zerstört wurden, richten als auf die Umwelt allgemein, schlug der Wissenschaftler vor.

Anschließend warf er einen differenzierten Blick auf "Urbanisierung". Es sei wichtig zu berücksichtigen, daß innerhalb der Regionen, die der Verstädterung ausgesetzt sind, ihrerseits Zentren mit einem nochmals höherem Bevölkerungswachstum entstünden. Wer werde durch die Urbanisierung ausgeschlossen, fragte Aggarwal und nannte einige der sozialen Herausforderungen in Folge der urbanen Teilung. Ihm zufolge machen sich die sozialen Ungleichheiten beispielsweise an dem Zugang zur Grundversorgung, an der digitalen Kluft und an der Bildung bemerkbar. Geographische Forschungsthemen bzw. Problemfelder seien Analphabetentum, Armut, Exklusion, Informalität, Slums, illegale Siedlungen, medizinische Versorgung.

Aggarwal berief sich auf die australischen Geographen Peter J. Rimmer und Howard Dick, indem er, unterstützt von Kenndaten der Stadtentwicklung, erklärt, daß die Bezeichnung "Third World City" (Dritte-Welt-Stadt) nicht ausreicht, um die gegenwärtige Stadtentwicklung insbesondere in Asien angemessen zu beschreiben. Metropolen wie Hongkong, Dubai, Kuala Lumpur, Schanghai, Singapur, Bangalore und Mumbai seien strenggenommen keine Dritte-Welt-Städte mehr. Aufgrund ihrer transnationalen Verbundenheit, insbesondere auf dem Gebiet der Kommunikations- und Informationstechnologie, repräsentierten sie Asien mehr als ein Block bestimmter Länder. So würden Dubai und Singapur als globale Finanzplätze an Bedeutung gewinnen, während New York und London schon 2008 darum gerungen hätten, ihre Bedeutung zu erhalten.

Schanghai und Hongkong wiederum könnte man als Hauptstädte der Welt bezeichnen. Sie folgten nicht mehr den Vorgaben des Westens. Ebensowenig wie Chennai (Madras) und Mumbai (Bombay). Dabei handelt es sich nach Aggarwal nicht einfach nur um Indiens Wirtschaftsmetropolen, sondern sie stünden auch für das eigenständige, selbstbewußte Indien. Warum habe sich Bangalore als dermaßen innovativ auf dem Gebiet der Informationstechnologie erwiesen, stellte Aggarwal eine Frage in den Raum und beantwortete sie anschließend selbst: Nicht irgendeine bestimmte Geographie habe zur Stärke dieser Stadt beigetragen, sondern das Wissen und die Fähigkeiten ihrer Einwohner.

Blick über ein Meer an Hochhäusern und eine mehrspurige Straße - Foto: Hawyih, 2.1.2004, als gemeinfrei freigegeben über Wikimedia Commons

Shenzhen
Foto: Hawyih, 2.1.2004, als gemeinfrei freigegeben über Wikimedia Commons

In direkter Anlehnung an die US-amerikanische Stadtgeographin Saskia Sassen erklärte der indische Geograph, daß die geopolitische Zukunft der Erde von 20 Megacities bestimmt werde und nicht von der G2, also von den USA und China, wie es andere Forscher, Politiker oder Publizisten vermutet haben.

Sassen publiziert seit vielen Jahren Bücher, Artikel und Kommentare rund um das Thema Stadtentwicklung und ihre sozialen Implikationen. Zuletzt schrieb sie für den "Wealth Report 2012" den Artikel "Dominant Cities Replaced by Multiple City Networks" (Dominante Städte von vielfältigen Stadt-Netzwerken ersetzt). Darin beschreibt sie, daß bei der Vorhersage, welche Städte die Welt im Jahre 2050 anführen, nicht allein wirtschaftliche Fragen ausschlaggebend sein werden. Vielmehr habe das mit Geopolitik zu tun, "da die globale Stadt eigentlich ein internationaler Akteur" sei. Die Städte, die zusammenarbeiteten, gewönnen zunehmend mehr Einfluß auf die globale Wirtschaft und die Geopolitik als jene Länder, in denen sie ansässig seien.

Vor dem Hintergrund der Verschiedenartigkeit der globalen Städte, die sich spezialisiert hätten - siehe London, New York, Paris, die zwar alle drei Finanzzentren seien, aber sich jeweils auf andere Aspekte des Finanzhandels spezialisiert hätten - trieben immer mehr Firmen eher Handel untereinander, als daß sie Konsumenten bedienten, erklärte Sassen. Diese Firmen seien jedoch nicht so sehr an der Stadt als Supermarkt interessiert, in dem man alles kaufen könne, sondern an Fachgeschäften. Deshalb würden spezialisierte Unternehmen verschiedene Stadt-Netzwerke vorziehen und teure Standorte wie London oder New York vermeiden, wenn eine Stadt wie Kopenhagen ihre Wünsche genausogut erfüllen könnte.

Auch Aggarwal, der sich in seinem Vortrag mehrmals auf die US-amerikanische Stadtgeographin bezog, glaubt an den Aufstieg von kleineren Millionenstädten, weswegen wir hier auf die Gefahr einer Vermischung der Kategorien aufmerksam machen wollen. Sassen (und mit ihr Aggarwal) sprechen einerseits von Megacities, andererseits von urbanen Netzwerken. Zu letzteren rechnet Sassen beispielsweise die Achse Berlin-Frankfurt. Berlin sei das wirtschaftliche Schwergewicht der Europäischen Union und Frankfurt der Sitz der Europäischen Zentralbank. Eine Megacity hingegen wäre, zumindest nach den meisten Definitionen innerhalb der Geographie, eine räumlich deutlicher zusammenhängende Siedlungsform.


Fazit

An dieser Stelle wäre allerdings noch zu klären, wie Sassen und Aggarwal wiederum den Begriff "Geopolitik" definieren. Denn die schlagkräftigsten Exekutivorgane, die Militärapparate, befinden sich vollständig unter Kontrolle von Staaten, nicht der von Städten. Die verfügen zwar in der Regel über Sicherheitskräfte, die beispielsweise zur Bekämpfung von Aufständen, zum Schutz von Regierungseinrichtungen, zur Verfolgung von Schmugglern und zu Maßnahmen der Bewältigung von Naturkatastrophen eingesetzt werden, aber sowohl die reine Landesverteidigung als auch globale Ordnungs- und Zurichtungsfunktionen, wie sie zum Beispiel die Streitkräfte der USA mit ihren vielen hundert Militärstützpunkten auf allen Kontinenten der Erde wahrnehmen, obliegen ausschließlich den staatlichen Organen.

Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist qua seines Amtes auch Oberbefehlshaber über die Streitkräfte. Und diese sind es, die dabei gegebenenfalls auch wirtschaftliche Interessen einzelner Unternehmen, Regionen oder Städte mit den entsprechenden Gewaltmitteln durchsetzen, nicht aber irgendwelche Stadtverwaltungen. Das war früher einmal anders, als Athen und Rom, Florenz und Nowgorod noch Stadtstaaten waren.

Nun könnte man sich darüber streiten, was mit "die Welt bestimmen", wie es Aggarwal in seinem Vortrag formulierte, gemeint ist. Für viele Menschen außerhalb der unmittelbaren Kriegs- und Konfliktgebiete herrscht sicherlich der Eindruck vor, daß das wirtschaftliche Geschehen den Alltag bestimmt. Übersehen wird dabei allzu leicht, daß wirtschaftliche Gewalt zwar überaus tödlich sein kann, aber daß die letztgültige Gewalt in den Händen des Militärs liegt.

wei etwa vier Meter hohe Termitenbauten - Foto: Ray Norris, CC-BY-SA-3.0-Unported, Wikimedia Commons

'Termiten-Megacities' im Northern Territory, Australien
Foto: Ray Norris, CC-BY-SA-3.0-Unported, Wikimedia Commons

Städte, nicht einmal Megacities mit mehreren Millionen Einwohnern, können als eine Erfindung des Menschen gelten. So gibt es staatenbildende Insekten wie die Termiten, die sozusagen Megacities mit mehreren Millionen Bewohnern anlegen. Termitenbauten können vier Meter groß werden und 40 Meter tief in die Erde hinabreichen. Das Einzugsgebiet mancher Termitenvölker beträgt 50 Quadratkilometer. Hinsichtlich Architektur, Belüftungs- und Klimatechnik, Wasserversorgung und Vorratshaltung haben die Termiten den Menschen einiges voraus, man könnte sogar sagen, daß sie darin äußerst innovativ sind. Unübertrefflich jedoch ist der Grad ihrer staatlichen Organisation. Die Aufgaben sind eindeutig verteilt, jedes Mitglied des Volkes erfüllt die ihm zugedachte Aufgabe, ob es den Bau bewacht, Brutpflege betreibt oder für Nachwuchs sorgt. Ein Hinterfragen der eigenen Funktion gibt es nach allem, was die Wissenschaft darüber weiß, nicht.

Gebiet, übersät mit Termitenbauten - Foto: Yewenyi CC-BY-SA-3.0-Unported

Bauten der Magnetic Termites im Litchfield Nationalpark, Northern Territory, Australien
Foto: Yewenyi CC-BY-SA-3.0-Unported

Wird das die Zukunft der Menschheit sein? Strebt sie auf eine vollkommen widerspruchsbereinigte globale Gesellschaft zu, in der jeder Mensch willig seinen Platz einnimmt? Dann würde es in Zukunft vielleicht viele Megacities ähnlich der 8-Millionen-Einwohner-Metropole Zhengzhou in der Provinz Henan geben. Dort betreibt der US-Konzern Foxconn eine regelrechte Megafabrik mit 200.000 Arbeiterinnen und Arbeitern, die für sprichwörtliche Hungerlöhne und unter gesundheitlich ruinösen, physisch überaus verschleißträchtigen Bedingungen die neuesten tragbaren Computer-Endgeräte für den globalen Konsummarkt zusammenbauen. Ein kürzlicher Massenstreik und das menschenverachtend geringfügige Anheben der Löhne als Befriedungsmaßnahme seitens des Managements zeigen, daß die gesellschaftlichen Widersprüche trotz des bereits fortgeschrittenen Stadiums der Unterwerfung und Anpassung noch nicht vollends unkenntlich gemacht wurden; die Vergesellschaftung des Menschen kann noch weitergetrieben werden. Ob sich eine solche Entwicklung mit der "harmonischen" Stadtentwicklung in Deckung bringen läßt, für die Prof. Aggarwal plädiert, ist allerdings zu bezweifeln.

12. Oktober 2012