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BERICHT/031: Down to Earth - Rechnung ohne Wirt (SB)


32. Weltgeographenkongreß in Köln

Dr. Martin Lees, ehemaliger Generalsekretär des Club of Rome, spricht zum Thema "Verstädterung und demographischer Wandel"



Seit vierzig Jahren warnt der Club of Rome vor den globalen Folgen eines ungebremsten Ressourcenverbrauchs und der Überbeanspruchung der Ökosysteme durch Umweltschadstoffe. So war die 1972 vorgestellte, weithin rezipierte Studie "The Limits to Growth" (Die Grenzen des Wachstums) von Donella und Dennis L. Meadows, beide am Jay W. Forresters Institut für Systemdynamik in Boston, von dem vier Jahre zuvor in der italienischen Hauptstadt gegründeten privaten Clubs von Industriellen, Diplomaten, Akademikern und weiteren Vertretern der Zivilgesellschaft in Auftrag gegeben worden.

Die Forscher hatten mit Hilfe der damals nur in Expertenkreisen verbreiteten Computertechnologie eine Reihe von Szenarien unter anderem zum Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum, zur Nahrungsproduktion und zum Wasserverbrauch durchgeführt. Noch vor Ende dieses Jahrhunderts würden die "absoluten Grenzen" des Wachstums erreicht, hieß es, es müßten Gegenmaßnahmen wie Begrenzung des Rohstoffverbrauchs und Geburtenkontrolle ergriffen werden. Andernfalls drohe der Kollaps des gesamten Systems, was eine ungeheure Zahl an Menschenleben kosten würde.

Beim Vortrag, Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Martin Lees
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein ehemaliger Generalsekretär des Club of Rome, Dr. Martin Lees, hielt am Dienstag, den 28. August 2012, auf dem 32. International Geographical Congress in Köln eine der zwei "Keynote Speeches", die den Titel "Demographic change and urbanisation within the boundaries of a fragile planet" (Demographischer Wandel und Verstädterung innerhalb der Grenzen eines fragilen Planeten) trug. Durch den gesamten Vortrag zogen sich zwei klare Linien, die auch ansonsten für viele Berichte des Club of Rome kennzeichnend sind:

1. Die Menschheit steht vor vielfältigen und großen Problemen.

2. Die Probleme sind im Prinzip lösbar, aber nur bei einem fundamentalen Wandel der Herangehensweise und bei sofortigem Handeln.

Nicht hinterfragt wird hingegen die Gültigkeit des vorherrschenden Wirtschaftssystems mit seinen ideologischen Stützpfeilern Konkurrenz, Profit und der Möglichkeit, die Früchte anderer Leute Arbeit zu ernten und in Form von Kapital zu akkumulieren. Durch diese Einschränkung werden von vornherein der Problembeschreibung, Ursachenanalyse und den Lösungsvorschlägen, wie sie im folgenden skizziert werden, Grenzen gesetzt.

Der Kongreß komme in einer Zeit der Unruhe und tiefgreifenden Veränderungen innerhalb des globalen Gefüges, sagte Lees. Wachstum habe zweifelsohne Hunderte von Millionen Menschen in Entwicklungs- und entwickelten Ländern Wohlstand gebracht, doch zur Zeit bewegten wir uns rasch auf einen "perfekten Sturm" aus miteinander verknüpften Problemen der Umwelt, Wirtschaft und sozialen Herausforderungen zu. Die Probleme hätten ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht, entwickelten sich schnell, systematisch, nicht-linear und seien essentiell miteinander verkoppelt. Die Zukunft halte unvorhersagbare Trends mit einen hohen Maß an Unsicherheit hinsichtlich des Risikos von Diskontinuitäten bereit.

Inbesondere an die jungen Leute gewandt, sagte Lees: Meine Botschaft klingt vielleicht negativ. Aber die gute Nachricht ist, daß wir die Fähigkeit haben, diese Probleme zu lösen. Das Tragische an der menschlichen Verfassung sei, "daß wir unsere Ressourcen nicht wirksam mobilisieren, um die Risiken eurer Zukunft zu verringern". Time is running out - die Zeit läuft aus. Diese einleitenden, noch allgemein gehaltenen Aussagen sollte Lees in den folgenden rund 30 Minuten mit konkretem Inhalt füllen. Er präsentierte Zahlen, Trends und Prognosen zur ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit.

Wir befänden uns im 6. Massensterben der letzten 540 Millionen Jahre. Die Kapazität des Planeten zur Regeneration werde um rund 50 Prozent jährlich übernutzt. Wir verbrauchten unser biologisches Kapital und lebten zu Lasten zukünftiger Generationen. Das sei alles andere als nachhaltig, schoß Lees seine Argumente ab. Selbst das von der internationalen Staatengemeinschaft beschlossene Klimaschutzziel, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen - was einem Luftanteil des Treibhausgases Kohlendioxid von 450 ppm (parts per million - Teilchen pro Million) entspricht - hätte laut Lees weltweit massive Folgen, insbesondere für die Armen. Dabei sähe es nicht einmal danach aus, daß dieses Ziel erreicht würde!

Bei der gegenwärtigen Entwicklung werde die globale Durchschnittstemperatur nicht um 2, sondern um 6 Grad Celsius bis zum Jahr 2100 steigen. Den terrestrischen und marinen Ökosystemen, auf die sich die Menschen verließen, drohe der Kollaps. Die allgemeine Erderwärmung wird sich nach Lees besonders stark auf Grönland, das westantarktische Eisschild und die Alpen auswirken. Dieser Eisverlust trage zum Meeresspiegelanstieg bei. Selbst wenn die Abmachungen der UN-Klimakonferenzen von Kopenhagen (2009), Cancun (2010) und Durban (2011) umgesetzt würden, stiege die globale Durchschnittstemperatur um 3,5 bis 4,5 Grad Celsius.

Zudem machte Lees auf die Gefahr der sogenannten "Tipping Points" aufmerksam. Dabei handelt es sich um Schwellenwerte, bei deren Erreichen eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, die nicht mehr zu stoppen ist, egal welche Maßnahmen der Mensch dann noch ergreift. Beispielsweise der Verlust des arktischen Meereises, dessen weiße Oberfläche das Sonnenlicht reflektiert und so verhindert, daß das Meer die Energie aufnimmt. Bei einer Erwärmung des Meeres tritt jedoch ein Eisverlust ein, der noch mehr Meeresoberfläche der Sonneneinstrahlung freigibt, so das sich das Wasser erwärmt und dadurch der Eisverlust beschleunigt wird. Ein gänzlicher Verlust der sommerlichen und später auch der winterlichen Eisdecke wäre die Folge. Hier rechnen Forscher mit solch einem Tipping Point. Wann genau er überschritten wird, ist unklar. Aktuelle Berichte vom überraschend deutlichen Rekord-Meereisverlust in der Arktis mahnen, daß die von Lees erwähnten Bedrohungen real sind.

Auch die Ozeane seien überstrapaziert. Die Versauerung habe zugenommen, was sich auch auf das globale Klima auswirke. Damit sprach Lees den Zusammenhang an, daß bislang etwa ein Drittel der CO2-Emissionen des Menschen von den Ozeanen aufgefangen und sozusagen gespeichert wird. Würde aber die Aufnahmekapazität bis an ihre Grenzen ausgeschöpft, ginge diese ozeanische CO2-Senke verloren, was wiederum die globale Erwärmung beschleunigt. Tatsächlich haben Forscher festgestellt, daß zwar in erdgeschichtlicher Vorzeit die Meere schon mal saurer waren als heute, aber daß die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozeß gegenwärtig stattfindet, mindestens in den letzten 300 Millionen Jahren niemals erreicht worden ist. Den Meeresbewohnern werde die Zeit genommen, sich anpassen zu können.

Rosafarbene Korallen - Foto: National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA)

Coralline algae, Rose Atoll, Amerikanisch-Samoa - Kalkbildner wie Korallen und Algen sind als erstes von Ozeanversauerung betroffen Foto: National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA)

Abgesehen von diesen natürlichen Faktoren kam Lees auch auf soziale Fragen zu sprechen. Mehr als zwei Milliarden Menschen lebten von weniger als 2 Dollar am Tag. Zwei Prozent der Reichen verfügten über 50 Prozent des weltweiten Wohlstands, auf die ärmsten 50 Prozent hingegen käme nur ein Anteil von 4 Prozent, deutete er einen fundamentalen gesellschaftlichen Widerspruch an, allerdings ohne auszuführen, welche Konsequenzen seiner Meinung nach daraus zu ziehen sind.

Einen Großteil der Probleme, die auf die Menschheit zukommen, sieht Lees in der Zunahme der Weltbevölkerung. Deshalb schlägt er vor, daß sich die Politik vier Prioritäten setzt, damit das Bevölkerungswachstum bei 8 bis 9 Milliarden und nicht bei 12 bis 15 Milliarden Menschen im Jahr 2050 endet:

1. Eine grundlegende medizinische Versorgung für alle; vor allem sollten Frauen Zugang zu freiwilligen Programmen der Geburtenkontrolle erhalten.

2. Bildung und mehr Einfluß (Empowerment) besonders für Frauen. Das habe sich als wirkungsvoller zur Senkung der Geburtenrate erwiesen als die Anhebung des Einkommens.

3. Reduzierung der Armut. Aber ebenso wichtig, um die Geburtenrate zu senken, sei Partizipation.

4. Beschäftigung, um Armut und Hunger zu reduzieren, um produktive Ökonomien aufzubauen sowie eine effektive Regierung und Stabilität sicherzustellen.

Das Bevölkerungswachstum werde vor allem von den Städten aufgenommen, ging Lees zum nächsten Teil seines Vortrags über, der Urbanisierung. Hochrechnungen zufolge würden im Zeitraum 2020 bis 2030 die 600 größten Städte der Welt 65 Prozent des Bevölkerungswachstums aufnehmen. Hatten im Jahr 1900 etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung in Städten gelebt, seien es heute schon über 50 Prozent und würden es bei gleichbleibendem Trend über 70 Prozent im Jahr 2050 sein. Diese Entwicklung mache riesige Investitionen erforderlich, auch und gerade bei der Versorgung mit Trinkwasser und der Entsorgung von Abwasser.

Ein Meer an Wolkenkratzern - Foto: airunp, als gemeinfrei freigegeben durch Wikimedia

Shanghai, vom Jin Mao-Turm aus gesehen Foto: airunp, als gemeinfrei freigegeben durch Wikimedia

Abschließend hob Lees die Bedeutung der Geographie hervor, um den Herausforderungen zu begegnen. Diese Wissenschaftsdisziplin könnte an der Verbindung zwischen der physikalischen und menschlichen Sphäre vermitteln und beispielsweise im Bereich der Forschung neue Paradigmen für Wachstums- und Entwicklungsindikatoren aufstellen, um Nachhaltigkeit zu erreichen. Geographen könnten helfen, in Systemen zu denken, was die Ergebnisse für Interventionen verbessere. Auch im Bereich der Bildung käme der Geographie eine wichtige Aufgabe zu. Curricula und Lehrmethoden müssen angepaßt werden, um eine neue Generation von Experten und Praktikern mit dem Wissen und den Fähigkeiten auszustatten, damit sie die komplexen Themen der modernen Welt kennen und verstehen lernen. Auch sei die Verbindung von Wissenschaft und Politik von essentieller Bedeutung. Da bestehe ein Mangel, vor allem hinsichtlich der Erkenntnis zu Ökosystemen und dem Klimawandel. Die Politik müsse die Realität und Dringlichkeit der zukünftigen Bedrohungen begreifen. Dabei könnten Geographen eine wichtige Rolle spielen.


Fazit

Obgleich Lees' Zahlen eine deutliche Sprache sprechen, und er auch auf den gesellschaftlichen Widerspruch zwischen Arm und Reich verweist, wäre es ein Irrtum, ihn als eine Art Sozialrevolutionär anzusehen. Das Establishment hat gar kein Problem damit, wenn jemand aus ihrem Umfeld soziale Widersprüche benennt, denn daraus muß noch lange nichts folgen - jedenfalls nichts, das an den Grundfesten der ökonomischen Verhältnisse zu rütteln vermag. Lees und mit ihm andere Mitglieder des Club of Rome haben schon in der Vergangenheit eindringliche Mahnungen ausgesprochen und sie werden es in Zukunft tun.

Mit seinen Ausführungen trifft der Referent auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Das könnte ein Grund sein, nachdenklich zu werden. Denn wenn viele Menschen eigentlich einer Meinung sind, aber die bisher vereinbarten und erreichten Veränderungen viel zu dürftig, ja, bezogen auf die anstehenden Probleme eigentlich nur Makulatur sind, dann liegt die Vermutung nahe, daß bereits die Analyse ungenügend ausfällt. So ließe sich ohne weiteres eine ganz andere Bilanz ziehen, als sie hier präsentiert wurde: Da jährlich rund 30 Millionen Menschen verhungern, eine Milliarde chronisch Hunger leiden, drei Milliarden Menschen verarmt sind, braucht man keine Szenarien hochzurechnen, mit denen die Probleme elegant in die Zukunft verlagert werden. Sie sind längst da. Armut und existentielle Not sind für einen großen Teil der Menschheit bittere Realität, und fraglos hat das unmittelbar damit zu tun, daß es Menschen in anderen Weltregionen oder anderen sozialen Kreisen gelungen ist, sich davon freizuhalten. Der Mangel, der gegen andere in Stellung gebracht wird, bildet regelrecht die Basis ihres Wohlstands.

2. Oktober 2012