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KLIMA/761: Land unter - Notregulation statt Kampf ... (SB)



Die Folgen des Meeresspiegelanstiegs rücken zunehmend in den Blick von Institutionen außerhalb der Naturwissenschaft. Jetzt hat die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), eine der einflußreichsten Think Tanks der deutschen Regierungsberatung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen, vorgeschlagen, daß Deutschland, das im Juli 2020 den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat innehat, die sicherheitsrelevanten Folgen des Klimawandels thematisieren soll. Insbesondere der mit zunehmender Geschwindigkeit ansteigende Meeresspiegel gebe Anlaß zur Sorge, heißt es in einem vierseitigen Papier der Reihe SWP-Aktuell. [1]

Der Vorschlag der hauptsächlich vom Bundeskanzleramt finanzierten Forschungseinrichtung ist bezeichnend für die heutige Zeit: Anstatt alles zu tun, um den Klimawandel auszubremsen, wodurch allerdings die Gefahr bestünde, daß dabei auch die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse hinterfragt werden müßten, wird sich darauf vorbereitet, die verheerenden Folgen der klimatischen Fortentwicklung für Milliarden Menschen so zu regulieren, daß die vorherrschende Eigentumsordnung bewahrt bleibt. Was indessen aus jenen Milliarden Menschen wird, die in Armut gestürzt werden, hungern, ihre Heimat verlieren und/oder migrieren müssen, diese Frage genießt keine Priorität. Sie wird nur insofern behandelt, als daß die Betroffenen, solange ihnen der Zorn über die Nutznießer der Schadensentwicklung noch nicht ausgetrieben wurde, unter Kontrolle gebracht werden müssen, da sie das fragile, auf fundamentale Widersprüche errichtete Gewaltgebäude der Gesellschaft zum Einsturz bringen könnten.

Der Meeresspiegel steigt zwar gegenwärtig nur um 0,35 Millimeter pro Jahr, aber die Geschwindigkeit des Anstiegs nimmt mehr und mehr zu. Der Weltklimarat (IPCC) gibt in seinem Report "The Ocean and Cryosphere in a Changing Climate" (2019) für das Jahr 2100 einen Anstieg des mittleren globalen Meeresspiegels von maximal bis zu 1,10 Meter an. [2]

Allerdings fällt der Anstieg regional unterschiedlich aus, welche Projektion auch immer zugrunde gelegt wird. Auch lassen andere, teils aktuellere Untersuchungen noch höhere Werte erwarten oder, anders gesagt, der Zeitpunkt rückt näher, an dem das Meer 1,10 Meter höher ist als heute. Wenn das Meer steigt, dringt verstärkt Salzwasser in die auf flachen Inseln anzutreffenden Süßwasserlinsen im Untergrund, werden Flüsse bis ins Hinterland gestaut und sorgen dort für Überschwemmungen und, last but not least, verschwinden Siedlungs- und Agrarflächen unter dem Meeresspiegel.

Aus diesen und weiteren Entwicklungen ergibt sich laut SWP eine "sicherheitspolitische Herausforderung"; der Klimawandel sei ein "Bedrohungsmultiplikator". Unter deutschem Vorsitz habe der Sicherheitsrat im Juli 2011 eine Präsidialerklärung verabschiedet, in der die "Besorgnis" zum Ausdruck gebracht worden sei, daß der steigende Meeresspiegel zum Verlust von Territorium führt, was, so die UN-Erklärung, "mögliche Sicherheitsimplikationen" habe. Im April 2017 habe sich der Sicherheitsrat im "Arriaformat" erneut der Frage des steigenden Meeresspiegels gewidmet, schreibt die SWP. Unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats besteht jedoch keine Einigkeit darüber, wie mit dem Problem des Klimawandels, respektive des Meeresspiegelanstiegs umgegangen werden soll.

Abschließend beleuchtet das SWP-Papier die völkerrechtliche Dimension des steigenden Meeresspiegels sowie die Frage, wie das Seerecht damit umgehen sollte, wenn Landfläche untergeht und damit auch die Basislinie (Niedrigwasserlinie), von der aus die einem Staat zustehenden maritimen Zonen festgelegt werden, sich weiter landeinwärts verschiebt.

Die vom SWP aufgeworfenen Fragen und Probleme sind durchaus relevant. Mit ihnen ist nicht nur die Klimaforschung, sondern auch die Klimagerechtigkeitsbewegung seit vielen Jahren befaßt. Letztere geht jedoch einen Schritt weiter und bezieht Position: Der Globale Norden trägt die Hauptverantwortung für den Klimawandel, von dem der Globale Süden am stärksten betroffen ist. Deshalb müssen die Industriestaaten ihre historische Verantwortung anerkennen, und es genügt nicht, mehr noch, es würde in die gegenteilige Richtung führen, wollte man unter dem Vorwand des Klimaschutzes grüne Technologien in den Ländern des Südens installieren. Genau das würde nur jene Hierarchie zwischen den Staaten fördern, die bereits zur Zeit des europäischen Kolonialismus eindeutige Sieger und Verlierer hervorgebracht hat. Das Wohlstandsgefälle, das sich in den letzten dreißig Jahren beispielsweise zwischen Afrika und Europäischer Union mindestens verzehnfacht hat - in den 1960er Jahren konnte sich Afrika noch selbst ernähren, heute ist es auf Nahrungsimporte angewiesen - muß wieder zurückgeschraubt werden. Den sozioökonomischen Unterschied gelte es zu überwinden.

Von diesen Fragen, die viele Menschen weltweit bewegt und von nicht geringzuschätzenden Teilen auch der Fridays-for-Future-Bewegung gestellt werden, erfährt man vom SWP nicht einmal eine Andeutung. Insofern bezieht der Think Tank ebenfalls Position, nämlich zugunsten des Status quo. Der wird durch multiple Krisenentwicklungen gefährdet, und so soll das Völkerrecht den neuen Gegebenheiten angepaßt werden, wenn es heißt: "Unklar ist zum einen, inwieweit das bestehende Völkerrecht in der Lage ist, mit den Problemen umzugehen, die ein Anstieg des Meeresspiegels aufwirft. Zum anderen gilt zu prüfen, wo es Bedarf und Möglichkeiten für eine entsprechende Weiterentwicklung des Völkerrechts gibt."

Jenes Völkerrecht hat nicht verhindert, daß jahrzehntelang in den Ländern des Trikonts Stellvertreterkriege geführt, die ärmeren Länder in die Verschuldungsfalle getrieben und Diktatoren von Ländern mit lukrativen Rohstoffvorkommen (Erdöl, Gold, Coltan, Kupfer, Uran, etc.) von den Industriestaaten hofiert wurden. Es hat nicht verhindert, daß die waffentechnologisch hochgerüsteten NATO-Staaten in Selbstmandatierung Belgrad bombardiert haben und daß sich die USA herausnehmen, willkürlich Menschen in anderen Ländern per Drohne zu liquidieren. Dieses Völkerrecht soll nun weiterentwickelt werden. Doch zu wessen Nutzen, wenn nicht derjenigen, die bis dahin davon profitiert haben?

Bereits 2007 hat eine Reihe von ranghohen US-Militärs im Ruhestand vor den Folgen des Klimawandels als "Verstärker" bestehender Bedrohungen der nationalen Sicherheit gewarnt [3], und im Jahr darauf gab die Europäische Union ein Papier mit ähnlicher Intention heraus. [4] Seitdem versuchen die Europäer ihre Grenzen mehr und mehr zu schließen, indem sie möglichst schon im Vorfeld, beispielsweise in der Sahelzone, gemeinsam mit afrikanischen Regierungen ein entsprechendes Grenzregime aufbauen, und die USA bauen einen Hightech-Grenzzaun zu Mexiko. In beiden Fällen sollen Menschen davon abgehalten werden, in klimatisch vorteilhaftere Regionen zu migrieren oder, sofern sie aus nicht nur wirtschaftlich, sondern zusätzlich auch politisch instabilen Regionen kommen, dorthin zu flüchten.

Und so, wie das Völkerrecht von heute Bestandteil eines Rechtsverständnisses ist, bei dem Menschen daran gehindert werden, der Not zu entkommen, spricht vieles dafür, daß ein modifiziertes Völkerrecht in Zukunft die gleiche Stoßrichtung einnimmt. Auf der Strecke bleibt mehr und mehr der Kampf darum, den Klimawandel noch abwenden zu wollen, auch wenn dazu die Axt an die Wurzeln der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse gelegt werden müßte. Statt dessen bereiten sich die privilegierten Teile der Gesellschaft auf eine Notregulation vor.


Fußnoten:

[1] https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A41_Meeresspiegel.pdf

[2] https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/sites/3/2019/12/SROCC_FullReport_FINAL.pdf

[3] http://ossfoundation.us/projects/environment/global-warming/summary-docs/security-reports/National%20Security%20and%20the%20Threat%20of%20Climate%20Change.pdf/at_download/file

[4] https://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressdata/DE/reports/99391.pdf

19. Juni 2020


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