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KLIMA/480: Lebensstandard sinkt - Verstärkt der Klimawandel innereuropäische Unterschiede? (SB)


Folgen des Klimawandels

Forscher erwarten sinkenden Lebensstandard in der EU bis 2080


Wissenschaftler erwarten für die nächsten Jahrzehnte fundamentale klimatische Veränderungen globalen Ausmaßes. Davon werden auch die gemäßigten Breiten nicht verschont bleiben. Die Prognosen sagen für den Süden Europas und für die kontinentalen Regionen vermehrte Dürren voraus; die Permafrostgebiete der höheren Breiten und der Hochgebirge werden sich tendenziell erwärmen. Wenn nun insbesondere aufgrund der zu erwartenden landwirtschaftlichen Produktionseinbußen in weiten Teilen Europas der Lebensstandard sinkt, stellt sich die Frage, ob innerhalb der Europäischen Union Mechanismen des Ausgleichs für die vom Klimawandel besonders betroffenen Menschen bereitstehen.

Angesichts des Ausmaßes der Klimaveränderungen dürfte es nicht genügen, ein paar Löschflugzeuge nach Griechenland zu schicken, wenn das Land wieder einmal von einer verheerenden Feuersbrunst heimgesucht wird. Sollte sich die Sahelzone nach Norden in die Mittelmeerregion hinein ausbreiten und vormals landwirtschaftlich genutzte Gebiete entweder deutlich mehr als sowieso bewässert werden oder aber, wie es auf der Südhalbkugel im Outback Australiens geschehen ist und weiter geschieht, aufgegeben werden müssen, werden größere Migrationsbewegungen entstehen. Einerseits innerhalb der betroffenen EU-Länder von den ariden in die weniger ariden Gebiete und vom Land in die Städte, andererseits über die Ländergrenzen hinweg vom Süden in Richtung Norden.

Wie werden die verglichen mit anderen Weltregionen vergleichsweise privilegierten EU-Staaten mit diesem Problem umgehen? Über Umwelt- bzw. Klimaflüchtlinge wurde schon viel geschrieben, wie beispielhaft eine jüngere, umfassende Studie im Auftrag des Bundesumweltamts zeigt. [1] Darin wird auch nicht mit Ratschlägen gespart, welche politischen Maßnahmen geboten wären, damit die Flüchtlinge - nicht nur aus der EU - unterkommen. Dennoch ist anzunehmen, daß die Einstellung der Suprematie, die heute das Verhältnis der EU zu den Elendsregionen der Welt bestimmt, im innereuropäischen Maßstab seine Fortsetzung finden wird. Für diese Annahme spricht ebenfalls der vom Chor der Mainstreammedien begleitete, herablassende Umgang der deutschen Regierung mit Griechenland vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die hat die Verarmung breiter Bevölkerungsteile Griechenlands noch beträchtlich verstärkt.

Wissenschaftlich ist es weitgehend unstrittig, daß sich die Erde erwärmt. Welche ökonomischen Konsequenzen dies für Europa hat, haben kürzlich Juan-Carlos Ciscar vom Joint Research Centre der EU-Kommission in Sevilla und seine Kollegen in einer Studie beschrieben. In dem Artikel "Physical and economic consequences of climate change in Europe" des Wissenschaftsmagazins PNAS [2] berichten sie, daß das Wachstum des Lebensstandards in der Europäischen Union bis zum Jahr 2080 als Folge des Klimawandels halbiert werden könnte. Je nach dem von ihnen gewählten Klimaszenario könnten der Meeresspiegelanstieg und wärmere Durchschnittstemperaturen sogar zu noch größeren Einbußen führen, heißt es. Allerdings würde Europa davon regional unterschiedlich schwer getroffen. Südeuropa, die britischen Inseln und der nördliche Teil Zentraleuropas verzeichneten die schwersten wirtschaftlichen Rückschläge, wohingegen der Klimawandel für Nordeuropa Vorteile mit sich brächte. Diese gingen hauptsächlich auf die positiven Auswirkungen der klimatischen Veränderung auf die Landwirtschaft zurück.

Die Forschergruppe hat zwei Szenarien durchgerechnet, eines mit der Annahme von geringen und eines mit höheren CO2-Emissionen. Diese führten zu einer angenommenen durchschnittlichen Temperaturerhöhung um 2,5 bzw. 5,4 Grad Celsius im Zeitraum von 1970 bis 2080. Die Fragestellung lautete nun, wie sich dies auf fünf wirtschaftliche Faktoren - menschliche Gesundheit, Landwirtschaft, Überschwemmungen an der Küste, Überschwemmung an Flüssen und Tourismus - auswirkt. Die wirtschaftlichen Verluste lägen zwischen 20 Mrd. und 65 Mrd. Euro bezogen auf das heutige europäische Bruttosozialprodukt, lautet das Resümee.

Die Studie fand zwar allgemeinen Zuspruch, aber Forscherkollegen hatten daran auch einiges auszusetzen. Der Ökonom Alistair Hunt von der Universität von Bath in Großbritannien, der an der Studie mitgearbeitet hat, räumte laut dem Wissenschaftsmagazin "Nature" ein, daß mit der Untersuchung nur ein Anfang gemacht wurde, um überhaupt das Ausmaß des Problems zu erfassen. [3] Eklatante Mängel zeigt die Studie hingegen unter anderem in der Hinsicht, daß die Forscher in ihren Szenarien nicht einmal angenommen haben, daß Deiche zur Flutabwehr gebaut werden. Auch werden mögliche katastrophale Ereignisse wie zum Beispiel das Versiegen von Meeresströmungen, das zur Abkühlung Europas beitragen könnte, ausgelassen.

Grundsätzlich sollte man davon ausgehen, daß Klimasimulationen stets mit beträchtlichen Einschränkungen arbeiten müssen, und wenn sie dann auch noch sieben Jahrzehnte vorausgreifen, verstärkt das die Unsicherheit nochmals. Hätte man beispielsweise vor siebzig Jahren Wissenschaftler nach einer Prognose gefragt, wie das Klima im Jahr 2010 sein wird, hätten sie womöglich ganz Skandinavien unter einen Eispanzer liegen sehen und für Deutschland sommers frostige Temperaturen vorhergesagt.

Die Schlußfolgerung aus der Unsicherheit muß jedoch nicht darin bestehen, die Hände in den Schoß zu legen und keine Vorbereitungen auf Zeiten zu treffen, in denen der Meeresspiegel steigt, die Gletscher weiter abschmelzen, die Flüsse über die Ufer treten und der Grundwasserhorizont absinkt. Allerdings läßt die Europäische Union als suprastaatliche Institution bisher nicht erkennen, daß sie ihren Anspruch, auf ein sozial gerechtes Europa hinzuwirken, erfüllt. Es kommt zwar zu Transferzahlungen beispielsweise über Regionalfonds in strukturschwache Gebiete oder in systemisch wichtige Branchen wie die Landwirtschaft, aber trotzdem kann von keiner Angleichung des Lebensstandards gesprochen werden.

In einer Studie der EU-Kommission vom März 2008 mit dem Titel "Klimawandel und internationale Sicherheit" [4] wird der Klimawandel als "Multiplikator" vorhandener Probleme bezeichnet. Das müßte selbstverständlich auch für soziale Gegensätze innerhalb eines Landes gelten, wie es zum Beispiel an der Einkommensschere festgemacht werden kann, sowie im Vergleich der Länder untereinander. Das würde bedeuten, daß unter dem Eindruck des Klimawandels generell ein stärkeres Einfluß- und Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern Kerneuropas und der südlichen Peripherie entsteht, eine Art innereuropäischer Nord-Süd-Gegensatz.

Der Klimawandel wäre nicht der Verursacher dieser Entwicklung, sondern würde sie verstärken. Verantwortlich wäre immer noch der Mensch, der sich gesellschaftlich organisiert hat, um, wie es ursprünglich einmal geheißen hat, über die Arbeitsteilung das Leben und Überleben besser gestalten zu können. Daraus wurde jedoch etwas ganz anderes: Die Vergesellschaftung des Menschen geht mit der Verteilung und Verwertung von Arbeit durch fremde, das heißt gegenüber den eigentlichen Produzenten als konträr zu definierenden Interessen einher. In der vom Klimawandel deutlich beeinflußten Weltordnung von morgen werden die herrschenden Kräfte der EU-Institutionen und Nationalstaaten im Innern der "Festung Europa" Privilegien ähnlich ungleich verteilen wie im globalen Regulationsrahmen Ressourcenstaaten geschaffen werden, die weitgehend von der Nutzung der Ressourcen abgekoppelt sind. Im Bereich der klimatische weiter unter Druck geratenen Nahrungsversorgung könnte das darauf hinauslaufen, daß - wie im globalen Maßstab - auch innerhalb der Festungsmauern Nahrungsmangel administriert und gegen die vermeintlich unproduktive Bevölkerungsteile in Stellung gebracht wird.


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Anmerkungen:

[1] "Rechtsstellung und rechtliche Behandlung von Umweltflüchtlingen", von Margit Ammer und Prof. Manfred Nowak (Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, Wien), Lisa Stadlmayr und Prof. Gerhard Hafner (Universität Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Abteilung Völkerrecht und Internationale Beziehungen), im Auftrag des Umweltbundesamtes, November 2010
http://www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/4035.pdf

[2] "Physical and economic consequences of climate change in Europe", Juan-Carlos Ciscara u.a., Proceedings of the National Academy of Science, early edition, 31. Januar 2011
http://www.pnas.org/content/early/2011/01/27/1011612108.abstract?sid=0205db03-8b8a-4f88-8cd8-e54a21e46475

[3] "Climate change threatens Europe's living standards", Nature online, 31. Januar 2011, doi:10.1038/news.2011.60
http://www.nature.com/news/2011/110131/full/news.2011.60.html?WT.ec_id=NEWS-20110201

[4] "Klimawandel und internationale Sicherheit", Europäischen Kommission für den Europäischen Rat, 14. März 2008
http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressdata/DE/reports/99391.pdf

7. Februar 2011