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KLIMA/428: Neue Studie - Kippunkte vermutlich unberechenbar (SB)


Theoretischer Ökologe warnt vor überraschenden Kippunkten in der Klimaentwicklung


Beim Bemühen der Menschen, das zu begreifen, was sie als Wirklichkeit erleben, erleiden und für wahr halten, bedienen sie sich gern der Sprache der Mathematik. Ohne sie gäbe es keine Klimaforschung, bzw. sie müßte völlig anders aussehen, was wiederum kaum vorstellbar ist. Mit Hilfe komplexer Abzähl- und Abgleichsysteme sollen in der Klimaforschung Vorhersagen über die künftige Klimaentwicklung und die sie bestimmenden Faktoren gemacht werden, um letztendlich Einfluß ausüben zu können.

War die Forschung in der Naturbeobachtung auf das Phänomen von Tipping Points - Kippunkten - gestoßen, bei deren Überschreiten ein zuvor relativ stabiles System plötzlich eine andere Dynamik entfaltet, die so lange anhält, bis sich die Kräfte auf einem anderen Niveau einpendeln, so begaben sich die Mathematiker an die Arbeit, um das scheinbar Unberechenbare dieses Effekts berechenbar zu machen.

Kippunkte sind ihrer Natur nach schwer zu bestimmen. Zumal kleine Faktoren entscheidenden Einfluß auf sie ausüben können. Dennoch glaubt man in der Forschung, zumindest Annäherungen und Schwellenwerte ausfindig gemacht zu haben. Wenn beispielsweise das Eis auf Grönland weiter schmilzt, die Rückstrahlung abnimmt und sich die Landmasse erwärmt, wird irgendwann der Moment erreicht, da das ganze System in Bewegung gerät und der Eisverlust beschleunigt und unaufhaltsam vonstatten geht, lautet ein Klassiker der Tipping-point-Forschung.

Nun warnen Mathematiker in einer neuen Studie, daß sich der Mensch nicht so sicher sein sollte mit seiner Hoffnung, daß er die Entstehung und Dynamik von Kippunkten voraussagen kann. Alan Hastings, Professor für theoretische Ökologie in der Abteilung für Umweltwissenschaften und Politik an der Universität von Kalifornien in Davis, erklärte laut der Wissenschafts-Website ScienceDaily:

"Viele Forscher suchen nach Warnzeichen, die plötzliche Veränderungen in natürlichen Systemen ankündigen, in der Hoffnung, diesen Veränderungen zuvorzukommen oder uns besser darauf vorbereiten zu können. Unglücklicherweise zeigt unsere neue Studie, daß Verschiebungen des Regimes mit potentiell weitreichenden Folgen ohne Warnung eintreten können. Systeme können jäh 'kippen'". [1]

Das bedeute, daß manche Auswirkungen des globalen Klimawandels auf die Ökosysteme erst dann erkannt werden, wenn sie bereits dramatisch sind, so Hastings. An solch einer Stelle das System umzukehren, um einen wünschenswerteren Zustand herzustellen, dürfte schwierig, wenn nicht unmöglich sein, erklärte er.

Zu den vielen wissenschaftlichen Studien, die bereits zu Erdsystemen und Kippunkten veröffentlicht wurden, gehört die paläontologische Untersuchung eines Massensterbens unter pflanzlichem Leben am Beispiel von 200 Millionen Jahre alten Blattfossilien, die auf Grönland gefunden wurden. [2] Eine internationale Forschergruppe um Jennifer McElwain vom University College Dublin gelangt im vergangenen Jahr zu dem Schluß, daß eine geringe Zunahme von Kohlendioxid in der Atmosphäre - allerdings ausgehend von einem hohen Niveau - mit dem plötzlichen Absterben der Pflanzen einherging. Womöglich sei der Effekt durch starken Vulkanismus und der Emission von Schwefeldioxid verstärkt worden, schließt McElwain nicht aus. Worst-case-Szenarien zufolge kann die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre im Jahre 2100 den Wert von 900 ppm (parts per million) erreichen. Das ist genau der Wert, den McElwains Forschergruppe bezogen auf den vorzeitlichen Kollaps der pflanzlichen Biodiversität festgestellt hatte.

Es sei bekannt, daß Artensterben mit Verlusten von bis zu 80 Prozent sehr plötzlich eintreten können, aber daß ihnen ein langes Intervall ökologischer Veränderung vorausgingen, erklärte die Forscherin, die den naheliegenden Schluß zog und mahnte, sehr genau auf eben diese Anzeichen zu achten.

Die aktuelle Studie von Alan Hastings hingegen verpaßt solchen Erwartungen einen gehörigen Dämpfer. Das schließt sicherlich nicht aus, Warnhinweise für plötzliche Klimaschwankungen ernst zu nehmen. Im Gegenteil. Nach Hastings Berechnungen scheint eine genaue Beobachtung um so dringlicher geboten, um die Chance zu wahren, bereits angelaufene Entwicklungen so frühzeitig wie möglich auszubremsen. In diesem Sinne haben die Politiker auf dem UN-Klimagipfel im Dezember in Kopenhagen nicht auf die Bremse getreten, sondern aufs Gaspedal. Wohin die womöglich unaufhaltsame Fahrt geht, bleibt der Vermutung überlassen. Ein Verlust der Biodiversität, zu dem es im Laufe der Erdgeschichte mehrmals gekommen war, dürfte weitreichende Folgen für die menschliche Gesellschaft haben. Soweit sich das herleiten läßt, übertrifft die Geschwindigkeit des gegenwärtigen Artenschwunds die der Vergangenheit bei weitem.


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Anmerkungen:

[1] "Climate 'Tipping Points' May Arrive Without Warning, Says Top Forecaster", ScienceDaily, 10. Februar 2010
http://www.sciencedaily.com/releases/2010/02/100209191445.htm

[2] "Sudden Collapse In Ancient Biodiversity: Was Global Warming The Culprit?", ScienceDaily, 19. Juni 2009
http://www.sciencedaily.com/releases/2009/06/090618161150.htm

11. Februar 2010