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KLIMA/258: Kanada - Riesige Schelfeisfläche plötzlich abgebrochen (SB)


Steigende Temperaturen und Eisverlust in der Arktis

Wissenschaftler vom Tempo der Entwicklung völlig überrascht


Ende Dezember ging die Meldung durch die Presse, daß sich im Norden Kanadas eine riesige Eisscholle vom Festland gelöst habe und davongetrieben sei. Das werde von Wissenschaftlern als weiterer Hinweis darauf gedeutet, daß sich die Erde erwärme und der Klimawandel stattfände. Die Eisscholle von 66 Quadratkilometer Größe habe sich bereits am Nachmittag des 13. August 2005 von der kanadischen Ellesmere-Insel gelöst, was aber erst jetzt auf Satellitenbildern bemerkt worden sei, hieß es. Man sei überrascht, mit welcher Geschwindigkeit das Eis abgebrochen sei.

Der Vorfall liegt schon fast 17 Monate zurück, so daß die Frage gestattet sein darf, was in der Zwischenzeit noch alles geschehen ist, das von niemandem bemerkt wurde. 2005 war eines der wärmsten Jahre seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen und der Trend setzte sich in 2006 fort. Der außergewöhnlich warme Dezember und fast frühlingshafte Januarbeginn 2007 läßt die Ahnung aufkommen, daß die sogenannten Experten womöglich noch gar nicht das ganze Ausmaß des bereits stattgefundenen Klimawandels erfaßt haben.

Die Wissenschaftlerin Laurie Weir hatte für den Canadian Ice Service Satellitenbilder aus dem Jahre 2005 ausgewertet und war dabei auf das Verschwinden des 37 Meter dicken Ayles-Schelfeises, das eine von sechs größeren kanadischen Schelfeisflächen war, aufmerksam geworden. Schelfeis zeichnet sich dadurch aus, daß es zwar auf dem Wasser schwimmt, aber noch mit dem Festland verbunden ist. Nach ihrer Entdeckung benachrichtigte Weir den Forscher Luke Copland, Leiter des neuen Eisforschungslabors der Universität von Ottawa. Dieser initiierte daraufhin eine Untersuchung des Vorgangs und zog dazu unter anderem seismische Daten heran. Diese belegen, daß das Abtrennen des Schelfeises ein leichtes Erdbeben, das noch in 250 Kilometern Entfernung registriert worden war, ausgelöst hatte.

Der Arktisforscher Warwick Vincent von der Laval-Universität in Ottawa war zu der neuen Eisscholle gereist, die zur Zeit inmitten von Packeis festgefroren ist, aber im kommenden Frühling womöglich in die Nähe der viel befahrenen Beaufortsee, in der auch Öl- und Gasförderanlagen stehen, gelangt. Vincent kommentierte die Entdeckung mit den Worten:

Das ist ein dramatisches und beunruhigendes Ereignis, das zeigt, daß wir im kanadischen Norden bemerkenswerte Merkmale verlieren, die seit Tausenden von Jahren existieren. Wir überschreiten klimatische Schwellenwerte, und das zeigt den Beginn eines bevorstehenden Klimawandels.
(Übersetzt nach: The Guardian, 29.12.2006)

Der Vorgang passe sehr gut zu dem Klimawandel, so Vincent. Man könne zwar nicht alle Faktoren miteinander verknüpfen, aber die ungewöhnlich hohen Temperaturen hätten dabei sicherlich eine wichtige Rolle gespielt. In den zehn Jahren, die er schon in dieser Region forsche, habe er solch einen dramatischen Verlust an Treibeis noch nicht erlebt. Andere Wissenschaftler bestätigen, daß dies das einschneidendste Ereignis in Kanada der letzten dreißig Jahre darstellt.

Meist halten sich Forscher mit dramatischen Schilderungen zurück, in diesem Fall jedoch hat der Vorgang so viel Eindruck auf sie hinterlassen, daß für eine ambivalente Bewertung des Vorgangs jede Grundlage zu fehlen scheint. Copland erklärte zum Ablösen der Schelfeisfläche vom Festland:

Uns hat das Tempo verblüfft, mit der das geschah. Das ist wirklich erschreckend. Noch vor zehn Jahren waren Wissenschaftler davon ausgegangen, daß, wenn der Klimawandel eintritt, dies schrittweise erfolgt und das Schelfeis vielleicht einfach allmählich wegschmilzt. Die völlige Überraschung besteht erstens darin, daß es geschieht, und zweitens, daß es, einmal in Gang gesetzt, so plötzlich geschieht.
(Übersetzt nach: The Guardian, 29.12.2006)

Die riesige Schelfeisfläche hatte sich binnen einer Stunde vollständig vom Festland gelöst und sich im Laufe weniger Tage etliche Kilometer fortbewegt, bis sie schließlich wieder festfror. Man könne an einem Rand des Schelfeises stehen und nicht den anderen sehen - daß sich etwas von dieser Größe so schnell bewege, sei wirklich erstaunlich, so Copland.

Der Polarforscher Derek Mueller, der Mitglied in der Arbeitsgruppe Warwick Vincents ist, hatte im Jahre 2002 ein anderes Schelfgebiet der Ellesmere-Insel, das Ward-Hunt-Schelfeis, erforscht und dort beobachtet, daß es bereits in zwei Teile zerbrochen war. Es wäre somit nicht erstaunlich, wenn sich auch hier in den nächsten Jahren etwas ähnliches ereignet.

90 Prozent des kanadisches Schelfeises sind seit 1906, als der Arktisreisende Robert Peary erstmals die Polarregionen Kanadas erforschte, verschwunden. Das Abtrennen des Ayles-Schelfeises wird von den Wissenschaftlern ohne Zweifel als Folge eines generellen Trends zur Erwärmung dieser Region gedeutet.

Wenn ein so bedeutender Vorgang wie das Abbrechen einer großen Schelfeisfläche im Norden Kanadas innerhalb einer Stunde stattfindet, aber Wissenschaftler bis dahin angenommen hatten, daß sich solch ein Vorgang über einen sehr viel längeren Zeitraum erstreckt, müssen da nicht ernsthafte Zweifel an der prognostischen Qualität der computergenerierten Klimasimulationen aufkommen, deren Datengrundlage bewiesenermaßen auf längst von der Wirklichkeit ad absurdum geführten Voraussetzungen beruht?

3. Januar 2007