Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REDAKTION


ATOM/444: Fragen bleiben ... Akw Brokdorf darf wieder ans Netz (SB)


Austauschtechnologie - Ursache für übermäßige Oxidierung der Brennstäbe nicht restlos geklärt


Jahr für Jahr wird in Schleswig-Holstein gegen den Weiterbetrieb des Akw Brokdorf protestiert. Zeitlich stets in der Nähe des Gedenktags zur Tschernobyl-Katastrophe vom 26. April 1986 und eine Steinwurfweite von der umstrittenen Anlage entfernt veranstaltet die Anti-Akw-Bewegung eine Protest- und Kulturmeile. Daß sich außerplanmäßig am vergangenen Samstag zwischen 80 und 100 Personen zu einer Demonstration vor den Toren des festungsartig mit breitem Wassergraben und Stahlzaun gesicherten Akw-Geländes eingefunden hatten, war einem besonderen Anlaß geschuldet. Die Atomaufsicht des schleswig-holsteinischen Umweltministeriums des Grünen-Hoffnungsträgers Robert Habeck hat angekündigt, daß der seit Februar heruntergefahrene Meiler unter bestimmten Auflagen wieder in den Leistungsbetrieb gehen darf. Und das, obwohl die zentrale Frage, wie es an einigen Brennstäben zu einer außergewöhnlichen, die zulässigen Grenzwerte teils erheblich überschreitenden Oxidbildung kommen konnte, noch nicht restlos geklärt ist. Diese Oxidbildung war der eigentliche Anlaß gewesen, weswegen Habeck ein Wiederanfahren des Meilers aufgeschoben hatte.


Kuppelbau, Gebäudeteile, davor ein stacheldrahtbewehrter Stahlzaun und wiederum davor ein mehrere Meter breiter Graben - Foto: © 2016 by Schattenblick

Akw Brokdorf
Foto: © 2016 by Schattenblick

Indem man verschiedene von Experten vorgebrachte Thesen ausgeschlossen hat, blieb am Ende quasi als Erklärung übrig, daß wohl eine Dreifachkombination aus einer 2006 genehmigten Erhöhung der elektrischen Bruttoleistung von 1440 auf 1480 Megawatt sowie eine seit 2011 praktizierte Zunahme der Häufigkeit von Lastwechseln mit Hoch- und Herunterfahren der Anlage die Oxidbildung über das normale Maß hinaus bewirkt haben. Außerdem trat die verstärkte Oxidbildung nur bei einigen der Hüllrohre vom Typ M5 auf. Doch selbst an diesen war bis 2006 noch keine grenzüberschreitende Oxidierung festgestellt worden.

Daß man nun auf den ursprünglichen Leistungsbereich zurückgeht und auch nach Möglichkeit vermeidet, den Meiler so häufig wie in den letzten beiden Jahren hoch- und herunterzufahren, mag zwar eine gewisse Wirkung nicht verfehlen, kann aber nicht beruhigen. Deshalb fordern der Brokdorfer Karsten Hinrichsen von der Organisation "Brokdorf akut" und Eilhard Stelzner (Attac Schleswig-Holstein) aus Itzehoe laut der Norddeutschen Rundschau (28.7.2017) sicherheitshalber eine Drosselung des thermischen Leistungsbereichs auf 80 Prozent und nicht auf die nun über eine Zwischenphase von zunächst 88, am Ende jedoch 95 Prozent. Ein Standpunkt, der nicht von allen in der Anti-Akw-Bewegung geteilt wird. Sie fordern einen sofortigen Betriebsstopp des Akw Brokdorf.

Auf dem Landesportal Schleswig-Holstein, das sich durchaus um eine ausführliche Berichterstattung zu den Vorgängen bemüht (siehe: tinyurl.com/ybue3ak7), wird eingeräumt, daß noch Fragen offen sind: "Noch nicht schlüssig, abdeckend und widerspruchsfrei sind die chemischen und physikalischen Einzelparameter (etwa ein bestimmter Legierungsbestandteil) und ihr quantitativer Beitrag zu dem Prozess geklärt. Da zum Teil im Reaktorkern lokal begrenzte Randbedingungen als Ursache unterstellt wurden, die jedoch messtechnisch nicht zugänglich sind, konnten die von der Betreibergesellschaft und dem Hersteller aufgestellten Thesen sowie auch von den Sachverständigen eingebrachte Modelle bezüglich eines physikalisch/chemischen Prozesses bisher nicht bestätigt werden."

Diese Unsicherheit in der Bewertung zeigt sich womöglich an einer zusätzlichen Maßnahme: "Zur Vermeidung oxidativer Randbedingungen" erhöht man die Wasserstoffkonzentration im Primärkühlmittel von bislang 2-3 mg/kg auf 3-4 mg/kg. Der Wasserstoff reagiert nämlich mit dem bei der Radiolyse entstehenden Sauerstoff, der also sofort wieder rekombiniert wird, so daß der Oxidierungsprozeß gedrosselt werden kann. Das bedeutet allerdings, daß die Betreiber nicht exakt die gleichen Betriebsbedingungen herstellen, wie sie vor 2006 gegolten haben und die bis dahin als unproblematisch galten. Befürchtet man etwa, daß sich bislang noch unbekannte Vorgänge abspielen, die zu der erhöhten Oxidation führten, und will man mit dieser Maßnahme auf Nummer Sicher gehen?

Demnach nimmt man eine Veränderung der Betriebsparameter vor und bezeichnet das als Ursachenbehebung. Welche anderen Aggregate, Materialien und Systeme reagieren aber nun ihrerseits auf die Anhebung der Wasserstoffinjektion? Diese Frage stellt sich, denn ganz und gar unproblematisch ist die stärkere Zuführung von Wasserstoff gewiß nicht. Zwar ist in dem Druckwasserreaktor nicht gleich mit einer Knallgasbildung zu rechnen, dafür sind aber andere Reaktionen des Wasserstoffs zu erwarten, die von Aufsichtsbehörden zu bewerten sein werden. Beispielsweise enthalten die Hüllrohre Zirkonium, das mit Wasserstoff reagiert (Hydrierung). Womöglich aus gutem Grund wird die Menge an zusätzlich in das Kühlmittel eingespeistem Wasserstoff nur behutsam vergrößert, denn die Zirkoniumhydrierung macht das Hüllmaterial spröde.

Unter Normalbedingungen würde eine Konzentration des Wasserstoffs von über 60 ml/kg Kühlmittel Brennelementhüllen aus Zirkoniumlegierungen regelrecht zerstören, heißt es in der Beschreibung eines Patents zu "Verfahren zur Behandlung des Primärkühlmittels eines Druckwasserreaktors" (DE 4126468 C2). Demnach müßte bei einer exzessiven Wasserstoffaufnahme auch unterhalb dieser Konzentration mit einer strukturellen Schwächung des Hüllrohrs gerechnet werden. Hat das bei der Entscheidung, warum man die Wasserstoffeinspeisung lediglich rund 1 mg/kg erhöht, eine Rolle gespielt?

Besteht der Preis für die Verringerung des Sauerstoffgehalts im Kühlwasser und somit für die Verringerung der Korrosionsgefahr darin, daß die Hüllrohre geschwächt werden? Versucht man somit das ursprüngliche Problem, das bislang nicht ganz genau eingeschätzt werden kann, dadurch zu beheben, daß man es verlagert?

Es bleiben Fragen. Aus dem Vorgang ist jedenfalls der naheliegende Schluß zu ziehen, daß offenbar selbst die Experten ursprünglich nicht gewußt haben, was passiert, wenn sie die thermische Leistung des Akw Brokdorf erhöhen und den Reaktor häufiger hoch- und wieder herunterfahren. Wäre es anders, hätte ja jemand rechtzeitig davor gewarnt, daß dadurch die Oxidierungsgeschwindigkeit erhöht wird, wodurch es wiederum "ab einem bestimmten Maß (...) zu einem Integritätsverlust des Hüllrohres kommen" kann, wie es auf dem Landesportal Schleswig-Holstein heißt.

Die Behörden gehen davon aus, daß zwar bei einer Hüllrohrbeschädigung in Folge einer sehr starken Oxidation radioaktive Stoffe in das Primärkühlmittel gelangen können, aber daß dies dann registriert würde und die Anlage "bei Überschreitung der Aktivitätsgrenzwerte" heruntergefahren wird. Eine weitere unerwünschte Folge der starken Oxidierung bestünde darin, daß die Wärmeabfuhr vom Brennstab in das Kühlmittel verschlechtert wird, was sicherlich solange kein ernsthaftes Problem darstellt, wie dies von den Meßinstrumenten registriert wird und keine Mehrfachfehler im System auftreten ...

Als die ersten Atomkraftwerke auf der Welt gebaut wurden, hat es geheißen, sie seien sicher. Die Geschichte der Technologie der nuklearen Spaltung zeigt indessen, daß die Störanfälligkeit der Anlagen System hat. Akws werden sozusagen im laufenden Betrieb weiterentwickelt - das zeigt die aktuelle Fehlersuche im Akw Brokdorf -, und die Menschen gleichen Versuchskaninchen.

Im Störungsfall werden defekte Aggregate ausgetauscht, aber das ist gewiß nicht gleichbedeutend damit, daß man die Ursache eines Schadens kennt und behebt. Eine solche Herangehensweise vermag den systemischen Kontrollverlust, der dann auch noch zum technologischen Fortschritt verklärt wird, nicht zu verdecken. Ein Versagen von Atomkraftwerken kann weit über die Anlagen hinaus Schäden an Mensch und Umwelt verursachen, wie die Kernschmelzvorgänge in Harrisburg 1979, Tschernobyl 1984 und Fukushima-Daiichi 2011 belegen.

1. August 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang