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ATOM/410: Beruht das Ja des britischen Parlaments für Akw-Neubau auf systematischer Irreführung? (SB)


Das Vereinigte Königreich plant den Bau von zehn neuen Atomkraftwerken

Keine Abkehr von der Nuklearwirtschaft trotz Nachteilen


Üblicherweise versuchen zahlreiche gesellschaftliche Lobbyorganisationen und Branchen Einfluß auf die Politik nehmen. Unter ihnen ist die Atomwirtschaft schon lange im Geschäft, und das mit einigem Erfolg. In ihrer Lesart sind Atomkraftwerke unverzichtbar, um einen Industriestandort wie Deutschland mit Grundlaststrom zu versorgen, also einer Strommenge, die ständig zuverlässig zur Verfügung steht. Auch wird unter Mißachtung der Gesamtenergiebilanz behauptet, Atomkraftwerke seien klimafreundlich oder gar kohlenstoffneutral, da bei der Wärmeproduktion durch Uranzerfall - im Unterschied beispielsweise zur Kohleverbrennung - keine Treibhausgase entstehen. Mit solch fadenscheinigen Argumenten wird versucht, den eigenen Einfluß auszudehnen und die Branche gegenüber der Konkurrenz, in diesem Fall vor allem gegenüber den Vertretern der Erneuerbaren Energien, zu stärken.

Wie die britische Zeitung "The Guardian" [1] berichtete, haben einige Abgeordnete und außenstehende Experten am Dienstag vergangener Woche einen Report vorgelegt, wonach die Minister sowohl der früheren Labour- als auch der heutigen Koalitionsregierung aus Conservatives und Liberal Democrats eine verfälschte Zusammenfassung einer im Auftrag gegebenen Analyse an die Parlamentarier weitergegeben haben. Ohne diese Verdrehungen hätte die Chance bestanden, daß die Pläne der Regierung zum Akw-Neubau mit mehr Nachdruck in Frage gestellt worden wären, laut das Resümee.

Die Irreführung besteht nach Ansicht des Reports in der Darstellung, daß die zukünftige Stromversorgung des Landes und die Einhaltung der Klimaschutzziele, die eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 80 Prozent bis zum Jahr 2050 vorsehen, nur durch den Bau neuer Atomkraftwerke gesichert werden kann und daß dies die preisgünstigste Variante der Stromversorgung sei.

In dem kritischen Report "A Corruption of Governance? How Ministers and Parliament were misled" [2] wird der Anspruch erhoben, er könne alle drei Hauptargumente für die Entscheidung zur Atomkraft widerlegen. Moniert wird zunächst einmal, daß die Regierung ihren Plan, zehn neue Atomkraftwerke bauen zu wollen, der Analyse vorangestellt habe, anstatt zu fragen, wieviele Akws überhaupt gebraucht werden. Somit sei die Entscheidung zum Bau neuer Meiler gefallen, noch bevor eine Evaluation des voraussichtlichen Strombedarfs vorgenommen worden sei.

Eine Kritik, die das britische Ministerium für Energie und Klimawandel (DECC - Department of Energy and Climate Change) nicht teilt. Man vertraue darauf, daß bei den Stellungnahmen der Regierung zur nationalen Energiepolitik (Energy National Policy Statements), in denen von der Notwendigkeit des Baus neuer Atomkraftwerke gesprochen wird, alle relevanten Faktoren bedacht worden seien, gibt der "Guardian" die Einschätzung des Ministeriums wieder.

In dem von Ron Bailey und Lotte Blair geschriebenen Report, der von der Association for the Conservation of Energy in Zusammenarbeit mit der Organisation Unlock Democracy, die sich beide erklärtermaßen als nicht von vornherein AKW-feindlich bezeichnen, erarbeitet wurde und die Unterstützung von Abgeordneten aus den Parteien der Konservativen, Labour, Liberaldemokraten sowie der einzigen Grünen im Parlament, Caroline Lucas, erfährt, wird kritisiert, daß die auch von der jetzigen Regierung wiederholt vorgetragene Erklärung, wonach sich der Bedarf an elektrischem Strom wahrscheinlich verdoppeln werde, auf einige der höchsten Abschätzungen stützt und nicht auf Durchschnittswerten. Ein Argument, welches die Regierung leicht entkräften dürfte. Schließlich sollte es aus Sicht eines Staates, der der wachstumsorientierten Produktionsweise verpflichtet ist, nur vernünftig sein, wenn hinsichtlich der Zukunft der Energieversorgung nicht von Durchschnittszahlen der Bedarfsanalyse ausgegangen wird. Wohingegen eine andere Kritik durchaus sticht: Die Minister haben Vorschläge der Analyse ignoriert, wie das Vereinigte Königreich ohne neue Atomkraftwerke ausreichend Energie zur Verfügung haben könnte.

Der leitende wissenschaftliche Berater des DECC, Prof. David Mackay, schätzt es so ein, daß im Vereinigten Königreich nicht genügend Windkraftanlagen, Biomasse-Kraftwerke und andere kohlendioxidemissionsarme Formen der Energieproduktion aufgebaut werden können, um den Bedarf an elektrischem Strom zu decken. Investitionen in Atomkraft würden gebraucht. MacKay und andere Energieexperten verweisen auf den zunehmenden Strombedarf aufgrund der Transformation des Individualverkehrs von fossilen Treibstoffen auf elektrischen Strom. Ausgerechnet die von Umweltorganisationen propagierten Elektroautos dienen somit zur Begründung des von Umweltorganisationen abgelehnten Neubaus von Atomkraftwerken!

Das Freiburger Öko-Institut, das eine Studie im Auftrag des Bundesumweltministerium zur Elektromobilität erstellt hat, sagt zwar, daß Elektroautos durch Strom aus Erneuerbaren Energien aufgeladen werden sollen und daß sie dann einen nennenswerten Beitrag zum Klimaschutz leisten würden [3], aber natürlich weichen die Ausgangs- und von der britischen Regierung prognostizierten Endbedingungen von denen in Deutschland ab.

Bemerkenswert an dem Report der beiden britischen Organisationen zum möglichen Regierungsfilz ist erstens die Erkenntnis, daß es anscheinend einen parteiübergreifenden Konsens der jeweils herrschenden Regierung für die Atomenergie gibt. Und zweitens die Unsicherheit der Kritiker darüber, ob die Kontinuität der Irreführung über sechs Stellungnahmen der Regierung hinweg Zufall war oder auf ihre Korrumpierbarkeit deutet. Das Autorenduo erklärt ausdrücklich, es glaube nicht, daß alle Minister und Ministerialbeamte im Dienste der Nuklearindustrie stehen und daß das Parlament absichtlich getäuscht wurde. Schlußendlich bleiben die Autoren aber ambivalent, wenn sie zunächst die Frage aufwerfen, ob die Entscheidung zum Akw-Neubau Zufall oder Verschwörung (Conclusion: Coincidence or conspiracy?) war und antworten: "Wir wissen es nicht." Gewissermaßen spiele das auch keine Rolle, weil ja eines offensichtlich sei, nämlich daß es Korruption in der Regierung gibt: Abgeordnete und Parlament seien in die Irre geführt worden.

An dieser Stelle hätte der Report durchaus weiterfragen können. Welches Interesse könnte eine Regierung haben, sich entgegen sachlicher Argumente für den Bau neuer Atomkraftwerke auszusprechen? Und da haben die Atomlobbyisten durchaus etwas vorzuweisen. Beispielsweise haben die Atomkraftwerke gezeigt, daß sie jahrzehntelang eine auf permanentes Wachstum und Profitmaximierung abzielende Produktionsweise mit Antriebsstoff - sprich: elektrischen Strom - beliefern kann. Daß das keineswegs immer zuverlässig war, wie die Nuklearkatastrophen von Windscale 1957, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 gezeigt haben - ganz abgesehen von den zahlreichen kleineren und größeren, versehentlichen und systematischen Strahlenfreisetzungen in den Jahren dazwischen - war für die Politik nie ein Grund, sich von den Akws zu verabschieden. Und für die Wirtschaft ebenfalls nicht, solange sie nicht für die Folgekosten des Nuklearbetriebs aufkommen muß.

Im Unterschied dazu haben die sogenannten Erneuerbaren Energien bis heute noch nicht bewiesen, daß sie für Industriestandorte wie Deutschland und das Vereinigte Königreich adäquater Ersatz für Atomstrom sind. Entsprechende Konzepte, beispielsweise bis 2050 auf Atomstrom und Kohlekraftwerke zu verzichten, existieren, aber, wie gesagt, noch handelt es sich um Konzepte. Wenn sich also die britische Regierung für den Neubau von Atomkraftwerken entscheidet, könnte das auch mit der Sicherheit zu tun haben, die eine Fortsetzung der bereits bestehenden Nuklearbranche verspricht. Ob das Versprechen hält, ist eine andere Frage.

Darüber hinaus gerät allzu leicht in Vergessenheit, daß die atomare Infrastruktur extrem zentralistisch ausgerichtet ist. Das fördert die Bildung von Oligopolen und stärkt die administrative Verfügungsgewalt. Zwar wurde der befürchtete Atomstaat bislang nicht gebildet, aber das dürfte daran liegen, daß die Atomstaat-Dystopie von einst längst von der Geschichte überholt wurde. Der Sicherheitsstaat des 21. Jahrhunderts ist in vielerlei Hinsicht repressiver, als es Mahner wie Robert Jungk und Klaus Traube vor einigen Jahrzehnten mit Blick auf die selbst produzierten Sachzwänge des nuklearen Sicherheitsstaats vorausgesehen haben.

Dennoch: Atomkraftwerke stehen nach wie vor für den starken Staat, eine oligopole Wirtschaft, eine zentralistische Energieproduktion und eine hochqualifizierte Verfügungsgewalt. Erneuerbare Energien dagegen werden vorwiegend dezentral erzeugt. Damit wird das Oligopol nicht gebrochen, und der Zentralismus wird weiterhin durch die Kontrolle über das Stromnetz gewährleistet. Aber dennoch bleibt die Atomtechnologie aus der Sicht eines Industriestandorts attraktiver. In Deutschland scheint diese Einstellung zwar zu kippen. Dazu wird allerdings noch nicht das letzte Wort gesprochen sein. Auch der zweite "Atomausstieg" ist revidierbar. Beispielsweise könnte ein Kollaps der überforderten, da nicht rechtzeitig modernisierten Netze den Vorwand liefern, die Energiepolitik zu überdenken und auch in Deutschland zumindest einige Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen.

Im Vereinigten Königreich kommt noch der militärische Aspekt hinzu. Im Unterschied zu Deutschland verfügt es über Atomwaffen. Die müssen gewartet und erneuert werden. Das ließe sich sicherlich auch ohne zivile Nukleareinrichtungen bewerkstelligen. Doch einmal angenommen, daß dort eines Tages alle Atomkraftwerke vom Netz wären - bestünde da aus Sicht der Militärs und der Regierung nicht die Gefahr, daß die Bevölkerung als nächstes die Abschaffung aller Atomwaffen fordert?

Ob die Irreführung der britischen Abgeordneten zufällig erfolgte oder systematisch betrieben wurde - zu den Interessen einer Regierung am Bau neuer Atomkraftwerke gibt es mehr zu sagen, als daß es sowieso keine Rolle spielt, da die Täuschung der Parlamentarier nachgewiesen wurde.



Anmerkungen:

[1] "Ministers 'misled MPs over need for nuclear power stations'", The Guardian, 31. Januar 2012
http://www.guardian.co.uk/environment/2012/jan/31/ministers-misled-nuclear-power-stations

[2] "A corruption of governance? How Ministers and Parliament were misled", A joint publication by Unlock Democracy and The Association for the Conservation of Energy, Ron Bailey und Lotte Blair, January 2012
http://www.ukace.org/publications/ACE%20Campaigns%20(2012-01)%20-%20Corruption%20of%20Governance%20-%20Jan%202012

[3] "OPTUM: Optimierung der Umweltentlastungspotenziale von Elektrofahrzeugen - Integrierte Betrachtung von Fahrzeugnutzung und Energiewirtschaft", Öko-Institut Freiburg, Oktober 2011
http://www.oeko.de/oekodoc/1342/2011-004-de.pdf

6. Februar 2012