Institut für ökologische Wirtschaftsforschung GmbH, gemeinnützig - 02.03.2020
Die Umweltpolitische Digitalagenda: ein wichtiger erster Schritt, aber noch kein Durchbruch
Berlin, 2. März 2020 - Wissenschaftler vom Institut für ökologische
Wirtschaftsforschung (IÖW) würdigen die heute von
Bundesumweltministerin Svenja Schulze vorgestellte Umweltpolitische
Digitalagenda. Die Agenda stelle einen wichtigen Beitrag zu einer
zukunftsfähigen Gestaltung eines der bedeutendsten Innovationsfelder
der heutigen Zeit dar: "Die Digitalisierung und die Dekarbonisierung
werden zwei der wichtigsten Megatrends des 21. Jahrhunderts sein. Das
Umweltministerium hat die Notwendigkeit erkannt, diese Trends zusammen
zu denken und integriert zu gestalten. Mit der Umweltpolitischen
Digitalagenda legt das Bundesumweltministerium eine umfassende
Strategie vor, um dieses Ziel zu erreichen", so Prof. Dr. Tilman
Santarius, Digitalisierungs-Experte am IÖW und am Einstein Center
Digital Future der Technischen Universität Berlin. Dr. Florian Kern,
IÖW-Experte für Umweltpolitik betont: "Die Digitalagenda des BMU ist
ein wichtiger Schritt auf dem Weg, die Digitalisierung als Treiber
einer dringend erforderlichen sozial-ökologischen Transformation zu
gestalten". Vor allem begrüßen die Forscher, dass der Fokus nicht
ausschließlich auf den technischen Möglichkeiten liegt, sondern auch
die Förderung von sozialen Innovationen und eine digitale Plattform
für sozial-ökologische Innovationen vorgesehen sind.
Landwirtschaft, Mobilität, Industrie - die Digitalagenda will Maßnahmen in allen zentralen Bereichen umsetzen. Die IÖW-Forscher sehen weiteren Handlungsbedarf: "Viele der vorgeschlagenen Maßnahmen beruhen auf 'weichen' Instrumenten, während die Ziele durch verbindliche Regulierung wesentlich effektiver erreicht werden könnten. Statt in der europäischen CSR-Richtlinie ein Reporting zu Umweltschäden bei Rohstoffgewinnung zu fordern, sollten besser gleich verpflichtende menschenrechtliche und ökologische Mindeststandards angestrebt werden", so Santarius. Damit Hardware länger hält, strebt das BMU nur eine "Garantieaussagepflicht" der Hersteller an. Zielführender wäre, die Garantiedauer für Verbraucher/innen zu verlängern und Garantieansprüche zu verbessern.
Ordnungspolitische Instrumente adressiert die Agenda noch zu vage oder verspricht nur, dass sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für entsprechende Regelungen einsetzen möchte, wie etwa bei der EU Ökodesign-Richtlinie. Florian Kern hebt hervor, dass ein breiter Politikmix mit ordnungsrechtlichen und ökonomischen Instrumenten für die sozial-ökologische Transformation zentral ist. "Es bleibt abzuwarten, was die Bundesregierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft und darüber hinaus auf europäischer Ebene mit ihren ambitionierten Zielen tatsächlich erreichen wird." Ferner müsste der Politik-Mix auch über klassische umweltpolitische Maßnahmen hinausgehen: "Um die negativen sozialen und ökologischen Effekte und Risiken der zunehmenden Digitalisierung einzuhegen und die Potenziale zu fördern, reichen die klassischen Instrumente der Umweltpolitik nicht aus, sondern müssen durch innovationspolitische, industriepolitische wie auch wirtschaftspolitische Maßnahmen effektiv ergänzt werden", so Kern.
Streaming ist die umweltintensivste digitale Dienstleistung im Endkundenbereich. Die Agenda kündigt an, 'mit großen Anbietern ins Gespräch zu kommen' und eine 'Prüfung verpflichtender Vorgaben' vorzunehmen. Für die großen Stromfresser Rechenzentren möchte sich das BMU nur für eine 'einheitliche statistische Erfassung' einsetzen, anstatt verpflichtende Energieeffizienz- und absolute Verbrauchsstandards für Rechenzentren zu entwickeln. "Hier sollte im Laufe des Prozesses nachgebessert werden. Sonst könnte etlichen der vorgeschlagenen Maßnahmen am Ende die Verbindlichkeit und Wirkungstiefe fehlen, um tatsächlich die Weichen für eine umweltgerechte Digitalisierung zu stellen", sagt Santarius.
Während die Umweltpolitische Digitalagenda eine Reihe von vielversprechenden Maßnahmen wie langlebigere Geräte oder besseres Recycling vorsieht, um ökologische Auswirkungen auf (knappe) Ressourcen zu verringern, wird der wachsende Stromverbrauch der Digitalisierung nicht ausreichend adressiert. Santarius sagt: "Die meisten wissenschaftlichen Szenarien gehen von moderat bis stark anwachsenden Stromverbräuchen aller digitalen Geräte und Anwendungen aus. Um die Energiewende hin zu 100% Erneuerbare Energien zu schaffen, muss der gesamte Stromverbrauch sinken. Die Digitalagenda liefert zu wenig Ansatzpunkte, wie wachsende Stromverbräuche abgemildert werden könnten. Es fehlen etwa strikte Verbrauchsstandards für Rechenzentren, verbindliche Anforderungen, dass deren Abwärme sinnvoll für die Wärmeversorgung genutzt wird, oder die Forderung, dass neue Rechenzentren mit 100% Ökostrom betrieben werden müssen.
Rebound-Effekte können das Einsparpotenzial von digitalen Anwendungen schmälern. Kern macht deutlich: "Die umweltpolitische Digitalagenda erkennt an, dass Digitalisierung auch zu Rebound-Effekten führen kann und das BMU solche Effekte minimieren möchte. Wie genau Rebound-Effekte reduziert werden sollen, bleibt jedoch unklar. Die Agenda verweist sehr unkonkret auf die Notwendigkeit eines politischen Ordnungsrahmens und als einzig konkretes Instrument auf ein 'kommunales Netzwerk für nachhaltige digitale Verkehrswende'. Aus Sicht des IÖW ist es nötig, die Förderung von Energie- und Ressourceneffizienz mit stärkeren ökonomischen Anreizen für eine absolute Reduktion des Verbrauchs und Suffizienz-Strategien zu kombinieren. Die Umweltpolitische Agenda macht keine Vorschläge für Ökosteuern oder andere Instrumente."
Ein solcher Politik-Mix geht aber weit über den Geschäftsbereich des BMU hinaus. Kern betont: "Es ist begrüßenswert, dass das Umweltministerium die fortschreitende Digitalisierung so gestalten möchte, dass sie die Energie-, Mobilitäts- und Agrarwende und den Einstieg in die Kreislaufwirtschaft unterstützt und beschleunigt". Eine solche Ankündigung sollte sich aber nicht nur auf Programme des BMU oder die Forschungsförderung der sozial-ökologischen Forschung des Bundesforschungsministeriums beziehen, sondern auch für die Förderung des Wirtschafts- oder Verkehrsministeriums gelten. Beispielsweise machen die vom BMU geförderten 'Leuchtturmprojekte für Künstliche Intelligenz- (KI), die Umwelt- und Klimaschutz dienen sollen, weniger als zehn Prozent die bundesweiten Fördermittel für KI im Jahr 2019 aus; zahlreiche von anderen Ministerien geförderte Projekte verfolgen keine Nachhaltigkeitsziele oder sind sogar kontraproduktiv. Kern fordert: "Um tatsächlich eine nachhaltige Digitalisierung zu erzielen, ist es dringend erforderlich, dass alle Ressorts der Bundesregierung sich die Zielsetzung der Digitalagenda zu eigen machen. Dies erfordert eine enge Abstimmung der Ressorts und eine kohärente Politik."
Das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW)
ist ein führendes
wissenschaftliches Institut auf dem Gebiet der praxisorientierten
Nachhaltigkeitsforschung. Über 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
erarbeiten Strategien und Handlungsansätze für ein zukunftsfähiges
Wirtschaften - für eine Ökonomie, die ein gutes Leben ermöglicht und
die
natürlichen Grundlagen erhält. Das Institut arbeitet gemeinnützig und
ohne
öffentliche Grundförderung.
www.ioew.de
Weitere Informationen:
- Umfassende Vorschläge von Tilman Santarius und Steffen Lange
finden sich im Buch "Smarte grüne Welt" sowie in einem Artikel bei
Netzpolitik hier
https://netzpolitik.org/2018/fuer-eine-sozial-oekologische-digitalpolitik/
- Die Nachwuchsgruppe "Digitalisierung und sozial-ökologische
Transformation" von IÖW und TU Berlin forscht zur nachhaltigen
Gestaltung der Digitalisierung:
www.nachhaltige-digitalisierung.de
- ReCap Policy Brief zum Eindämmen makroökonomischer Rebound
Effekte,
https://www.macro-rebounds.org/publikationen/
Die gesamte Pressemitteilung erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/de/news740153
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution472
*
Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Institut für ökologische Wirtschaftsforschung GmbH, gemeinnützig - 02.03.2020
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2020
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