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STANDPUNKT/1213: Zur Räumung von Lützerath und der Unabdingbarkeit zivilen Ungehorsams (Initiative Ökosozialismus)


Initiative Ökosozialismus - Presseerklärung vom 10. Januar 2023

Prof DDr. Helge Peukert, Wirtschaftswissenschaftler bei Scientist Rebellion (SR), kommentiert im Namen der Initiative Ökosozialismus die gewaltsame Räumung von Lützerath und die Unabdingbarkeit zivilen Ungehorsams


Aus wissenschaftlicher Sicht teilen wir den vom deutschen Umweltbundesamt formulierten klimapolitischen Zielwert: "Klimaverträglich wäre ein weltweiter Pro-Kopf-Ausstoß von unter 1 Tonne CO2. Dies macht deutlich, dass das deutsche Konsumniveau nicht global verallgemeinerbar ist und nachhaltiger Konsum große Anstrengungen erfordert. Für den Treibhausgasausstoß pro Person in Deutschland ist eine Minderung in Höhe von rund 95 Prozent gegenüber dem heutigen Stand notwendig."[1]

Mit Bestürzen nehmen wir zur Kenntnis, dass selbst die grüne Wirtschaftsministerin in NRW und der grüne Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz die Förderung der Braunkohle unter Lützerath für "unumgänglich" halten. Die dort bereits erfolgten "Umsiedlungen" sind eigentlich Kennzeichen autokratisch regierter Länder. Zumindest hat unser hierzulande möglicher ziviler Widerstand dazu beigetragen, dass andere Dörfer erhalten bleiben.

In der vom NRW-Wirtschaftsministerium, dem Bundesminister und RWE beschlossenen, vorgezogenen Ausstieg aus der Braunkohle bis 2030 erkennen wir ein altbekanntes Muster: Es werden Versprechungen für Ausstiege und Minderungen, die sich auf einen Zeitraum von über ein halbes Jahrzehnt beziehen, gemacht, aber hier und heute die Versprechen und Selbstverpflichtungen (z.B. des deutschen Klimaschutzgesetzes) von gestern gebrochen. So sollen in NRW 600-Megawatt-Blöcke bis 2024 entgegen den ursprünglichen Vereinbarungen weiterlaufen. Möglich macht dies auch ein auf Bundesebene mit den Konzernen ausgehandeltes, halbherziges "Kohleausstiegsgesetz" (KVBG) mit einem versprochenen Ausstieg in 15 Jahren.

Die Behauptungen des NRW-Wirtschaftsministeriums, die Vereinbarungen des Ausstiegs 2030, unter Einschluss des Plattmachens von Lützerath, sei "ein Meilenstein für den Klimaschutz in Deutschland und Nordrhein-Westfalen" und man sei zuversichtlich, dass man damit dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klima-Abkommens "ein gewaltiges Stück näher"rücke, sind unhaltbar. Gleiches gilt für die Behauptung von RWE, die Vereinbarung bringe "RWE auf einen 1,5-Grad-Pfad".

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat jüngst berechnet, dass für einen solchen Pfad Deutschland mit einer halbwegs realistischen Wahrscheinlichkeit bereits in den nächsten 1 bis 2 Jahren "völlig" klimaneutral sein müsste.[2] Diesen wissenschaftlich begründeten Zeithorizont fordern Scientist Rebellion und Letzte Generation ein.

Völlig zutreffend bemerkt der "Expertenrat für Klimafragen", dessen Mitglieder von der Bundesregierung ernannt wurden, dass eine "sehr große Lücke" zu den verschärften Zielen des Klimaschutzgesetzes besteht, dessen erlaubte Restemissionen mindestens auf 2 Grad Erderwärmung hinauslaufen (und auch nur dann, wenn es denn eingehalten würde).[3] Der Expertenrat fordert auch mit Blick auf den europäischen Emissionshandel (EU-EHS) deutlich härtere Mengenbegrenzungen und einen "Paradigmenwechsel". Diesen Forderungen schließen wir uns an. Das Wegbaggern von Lützerath ist Symbol dafür, dass diese Forderungen wie Schall und Rauch bei den politischen Entscheidern verhallen.

Wir kritisieren aber auch den klimapolitischen, meist drittmittelfinanzierten, Forschungsbetrieb. So können sich die um politische Anschlussfähigkeit bemühten Forscher*innen der entsprechenden Institute einen Paradigmenwechsel nur im Rahmen einer ökomodernistischen Wachstumsgesellschaft vorstellen. Auch halten wir es z. B. für sehr fragwürdig, dass Klima-Forscher Otmar Edenhofer, immerhin Präsident des Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, meint, die Förderung der Braunkohle unter Lützerath sei klimapolitisch nicht so tragisch, führe sie doch angesichts des europäischen Emissionshandelssystems zu höheren Preisen und das System verfüge ja über einen Mengendeckel. Ohne hier in die Details gehen zu können: Beim Emissionshandel gibt es derzeit einen mehrere hundert Millionen betragenden Überschuss, eine Knappheit der Emissionsrechte ist definitiv nicht in Sicht. Zur "Feinsteuerung" gibt es eine Art Bank (die Marktstabilitätsreserve), in die nach leicht veränderbaren Regeln Emissionsrechte weggeparkt oder dem Markt zugeführt werden können. So plant die EU-Kommission, dem Markt aus Einnahmeerzielungsgründen 200 Millionen Tonnen zusätzlich zuzuführen. Vorgesehen ist grundsätzlich eine Streichung von Emissionsrechten, sofern der Überschuss zu hoch ist. Werden also für RWE-Braunkohle Emissionsrechte benötigt, werden sehr wahrscheinlich weniger gestrichen, da der Überschuss geringer ausfällt. Von einer Nullsummenverschmutzung kann daher keine Rede sein.

Wir haben trotz aller verkündeten Sparmaßnahmen das Vertrauen in die Regierungspolitik auf Länder- und Bundesebene verloren. Angesichts der Klimakatastrophe, die mit brennenden Wäldern, ausgetrockneten Flüssen, Extremhitze vor unseren Haustüren angekommen ist, rufen wir alle um den Erhalt der Biosphäre bemühten Menschen auf, sich am zivilen, gewaltfreien zivilen Widerstand in Lützerath zu beteiligen. Insbesondere die Wissenschaftler*innen dürfen sich nicht hinter komplizierten Modellen und Forschungsprojekten, so wichtig sie auch sind, verschanzen.

Die Politik nicht nur in Deutschland konzentriert sich derzeit auf Preisbremsen mit der Gießkanne für fossile Energieträger und u. a. dem Aufbau von (Über)Kapazitäten für LNG-Gas. Wir fordern stattdessen eine Überwindung der Zwangswachstumsgesellschaft und ihres lebensgefährlichen Ressourcenhungers, zunächst bescheiden durch ein 9-Euro-Ticket und ein Tempolimit auf Autobahnen, warum nicht flankiert durch ein wechselndes Fahrverbot in Abhängigkeit von der Endziffer des Nummernschildes, wie es die Internationale Energieagentur (IEA) vorschlägt? Auch E-Autos verbrauchen eine Menge Strom und Metalle. Bald müsste der Individualverkehr weitestgehend ein Ende finden und Busse, Bahn, Sammeltaxis und Carsharing den derzeitigen rasenden Stillstand überwinden, um hier nur einen Bereich anzusprechen.

Machen wir Lützerath zum Fanal und Symbol unserer Verbundenheit zur Natur, den Menschen, Tieren und Pflanzen auf diesem einen, unserem Planeten Erde. Seien wir ungehorsam, weil uns aus wissenschaftlicher Einsicht und Liebe zu allem Lebendigen nichts anderes mehr übrigbleibt.


Anmerkungen:

[1] https://www.umweltbundesamt.de/service/uba-fragen/wie-hoch-sind-die-treibhausgasemissionen-pro-person

[2] https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.pdf?__blob=publicationFile&v=30, siehe zur Übersicht S. 15, Abbildung 2.

[3] https://expertenrat-klima.de/content/uploads/2022/11/ERK2022_Zweijahresgutachten.pdf

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Quelle:
Presseerklärung vom 10. Januar 2023
Initiative Ökosozialismus
E-Mail: info@oekosozialismus.net
Internet: www.oekosozialismus.net

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. Januar 2023

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